Cranko, John 

Geburtsdatum/-ort: 15.08.1927; Rustenburg (Südafrika)
Sterbedatum/-ort: 26.06.1973; auf dem Rückflug von New York nach Stuttgart, begraben auf der Solitude
Beruf/Funktion:
  • Choreograph und Ballettdirektor
Kurzbiografie: 1935 Umzug d. Familie nach Johannesburg
1941 Erster Ballettunterricht bei Marjorie Sturman
1944 Ausbildung an d. Ballettschule d. Univ. Kapstadt; erste öffentlich präsentierte Choreographie
1946 Umzug nach London; Fortsetzung d. Ausbildung an d. Sadler’s Wells Ballet School
1950 Ernennung zum Resident Choreographer des Sadler’s Wells Ballet
1958 Erste Version von „Romeo und Julia“, Aufführung d. Mailänder Scala in Venedig
1961–1973 Berufung zum Direktor des Balletts am Württ. Staatstheater Stuttgart; 1968 bis 1971 auch Direktor des Balletts d. Bayer. Staatsoper in München
1963 Uraufführung „Schwanensee“
1965 Uraufführung „Onegin“, 1967 überarbeitet
1968 Uraufführung „Der Widerspenstigen Zähmung“
1969 Erste USA-Tournee mit dem Stuttgarter Ballett
1971 Gründung d. John-Cranko-Ballettschule
1972 Uraufführung „Initialen R. B. M. E.“
1973 Uraufführung „Spuren“ als letzte Choreographie
1975 Gründung d. „John-Cranko-Gesellschaft“ in Stuttgart
Weitere Angaben zur Person: Religion: anglikanisch
Verheiratet: Unverheiratet
Eltern: Vater: Herbert (1895–1958), Rechtsanwalt
Mutter: Hilda Grace, geb. Hinds (geboren 1897)
Geschwister: keine (?)
Kinder: keine
GND-ID: GND/118522647

Biografie: Udo Klebes (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 5 (2013), 59-63

Mit 14 Jahren erhielt Cranko seinen ersten Ballettunterricht in Johannesburg, trat aber bereits nach drei Jahren, am 24. November 1944, mit Igor Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“ erstmals als Choreograph an die Öffentlichkeit. Zwei Jahre später ging er nach London an die Sadler’s Wells Ballet School. Es folgten erste Auftritte als Tänzer mit der Sadler’s Wells Company, dann auch mit dem Royal Ballet, sowie erste choreographische Arbeiten für Ballett- und Tanzeinlagen in der Oper. Maßgeblichen Einfluss auf seine wachsenden Ansprüche an die Mitwirkung bildender Künste zur Schaffung eines Gesamtkunstwerks hatte damals die Begegnung mit dem Maler John Piper. Trotz seiner Ernennung zum Resident Choreographer des Sadler’s Wells Theatre Ballet 1950 und vieler Publikumserfolge bekam Cranko im Laufe der nächsten Jahre zusehends weniger Aufträge, weil im konservativen Großbritannien das klassische Repertoire seinen avantgardistischen Stilmitteln vorgezogen wurde. Svetlana Beriosova, damals Principal Dancer des Royal Ballet, vermittelte ihn über ihren in Stuttgart als Ballettmeister wirkenden Vater Nicolas Beriozoff dorthin und es gelang Cranko nach anfänglicher Reserviertheit, das dortige Publikum zu gewinnen, auch und besonders dank seines mit untrüglichen Augen für Talente aufgebauten Ensembles. Herausragende Erfolge auf Gastspielreisen bestätigten nachhaltig Crankos „Stuttgarter Ballettwunder“, bis dieser blühende Prozess schockartig abbrach, als Cranko auf dem Rückflug von einer USA-Tournee im Flugzeug in der Folge eines Erstickungsanfalles verstarb.
Seine Eltern sollen dem Jungen statt Märchen Ballettgeschichten erzählt haben und schenkten ihm im Alter von 12 Jahren ein Puppentheater. Später fertigte er selbst eine Bühne an und versuchte sich mit Bildern, Kostümen, Marionetten und eigenen Versen. So wuchs sein allmählich immer umfassender werdendes Interesse über den Tanz hinaus auch zu anderen Kunstformen, vor allem zur Musik. Crankos Faszination ging bald so weit, dass sein bestimmender Wunsch aufkam, Choreograph zu werden. Seinen ersten Ballettunterricht hatte Cranko mit 14 Jahren. Ein Theatergastspiel aus Kapstadt nutzte er, um als Mithelfer hinter der Bühne Kontakte zu knüpfen. So kam es auch zum ersten Einspringen für einen Tänzer.
Als Cranko in die Ballettakademie der Universität Kapstadt aufgenommen wurde, erkannte deren Direktorin Dulcie Howes, bei der er entfernungsbedingt auch wohnte, Crankos Berufung zum Choreographen. Sie rühmte seine Musikalität, seinen Sinn für Bewegungen und seine blühende Phantasie. Als erste Choreographie entwarf Cranko Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“ für den Cape Town Ballet Club in Johannesburg und mit der „Holberg-Suite“ kreierte er im Alter von 18 Jahren sein erstes handlungsloses Ballett.
Cranko konnte also schon während seiner tänzerischen Ausbildungsphase beachtliche choreographische Erfahrungen sammeln. Von den noch in Südafrika entstandenen Werken wurde die „Tritsch Tratsch Polka“ als einziges später auch in Europa aufgeführt. Bald aber schien das tänzerische, besonders das choreographische Umfeld dort Crankos wachsenden Ansprüchen nicht mehr auszureichen. Vom Ortswechsel nach London erhoffte er sich bessere Chancen.
Nachdem er in der britischen Hauptstadt einige Wochen in die Sadler’s Wells Ballet School eingetreten war und mit deren Kompanie und dem Royal Ballet auftreten konnte, fand er in Ninette De Valois, der Leiterin beider Truppen, die entscheidende Förderin. Über einen relativ bescheidenen Rahmen kamen die ersten Londoner Choreographien Crankos aber nicht hinaus. Zumal seine übrigen Talente bedurften anderer Chancen. Bei der Arbeit an „Sea Change“ 1949 für die Touring Company ergab sich die Freundschaft zum Maler John Piper, dessen Einführungen in die Bildende Kunst den weitgreifenden schöpferischen Kosmos Crankos mitbegründen half. Anlässlich eines Gastspiels des New York City Ballet wurde der meistversprechende britische Choreograph gesucht. Der bedeutende englische Choreograph Frederik Ashton hatte Cranko nominiert, dessen Werk „The Witch“ zwar kein dauerhafter Erfolg beschieden war, ihn aber immerhin zum Resident Choreographer des Sadler’s Wells Theatre Ballet aufsteigen ließ. Für „Harlequin in April“ erteilte Cranko 1951 seinen ersten Kompositionsauftrag. Im Jahr darauf erhielt er den ersten Auftrag für die größere Covent Garden Company – als Sommertheater am Themse-Ufer. Das vom Dirigenten Charles Mackerras vorgeschlagene, später revidierte Werk „The Lady And The Fool“ wurde auch im Covent Garden übernommen und beim ersten Russland-Gastspiel zum gefeierten Erfolg. Dennoch konnte Cranko unter den gegebenen Umständen keinen Durchbruch erzielen. Ninette De Valois wollte das überkommene Klassiker-Repertoire nicht einschränken und gab Ashton den Vorzug.
In dieser Situation kam die Einladung ausländischer Kompanien zum rechten Augenblick. So entstand u.a. für die Grande Opéra Paris „La belle Hélène“ zu Jacques Offenbachs Musik. Das erste englische abendfüllende Ballett „Der Pagodenprinz“, komponiert von Benjamin Britten, wurde noch überarbeitet, Crankos für Aufführungen des Balletts der Mailänder Scala in Venedig 1958 geschaffene Version von „Romeo und Julia“ war dagegen bereits ein großer Triumph. Dann legten sich Schatten auf die Erfolge des Choreographen. Homosexueller Vergehen bezichtigt und von der konservativen Presse bedrängt hatte er letztlich nur die Wahl zwischen Resignation und einem weiteren Ortswechsel. Da vermittelte Svetlana Beriosova ihm die Einladung, seinen „Pagodenprinz“ in Stuttgart einzustudieren. So begann die entscheidende Phase im Leben Crankos.
Seine erste Stuttgarter Arbeit, die von ihm vorgeschlagene Überarbeitung des „Pagodenprinz“, brachte noch nicht den überwältigenden Erfolg. Dennoch, in seinem aus klassischen Wurzeln neu schöpfenden Gestus zeigte sich genau jene Frische und jener Aufbruch in die Zukunft, wonach der damalige Stuttgarter Intendant Walter Erich Schäfer gesucht hatte. Nach anfänglichen Widerständen gegen die gleichgewichtige Einbindung des Balletts in den Spielplan wuchs die Akzeptanz. Ein erster Höhepunkt war die Neufassung von „Romeo und Julia“ am 2. Dezember 1962, in der sich bereits Crankos Geschick beim Ensemble-Aufbau bemerkbar machte. Hilfreich war ihm dabei vor allem die zunächst direkt an das Württembergische Staatstheater angeschlossene Ballettschule, aus der 1971 die nach Cranko benannte Schule hervorgegangen ist. Die scharfe Beobachtungsgabe Crankos hinsichtlich schlummernder Talente und Qualitäten brachte bald die später zu Weltruhm gelangende Tänzerin Marcia Haydée in die Kompanie. Ohne sie und die anderen solistischenGlanzträger: Birgit Keil, Susanne Hanke, Richard Cragun, Heinz Clauss oder Egon Madsen, hätte das „Stuttgarter Ballettwunder“ nicht stattgefunden. Crankos aus Altem erfrischende Nahrung für Neues gewinnender persönlicher Stil verlangte nach Künstlern solchen Formats. „L’Estro armonico“, „Jeu de Cartes“, „Opus 1“, „Brouillards“, „Ebony Concerto“ gehören zu den herausragenden konzertanten Balletten; „Coppelia“ noch wenig, umso mehr die drei großen literarischen Handlungsballette „Romeo und Julia“, „Onegin“ und „Der Widerspenstigen Zähmung“, in gewissem Maße auch „Schwanensee“ und „Carmen“, sie gerieten zu die künstlerische Welt erobernden abendfüllenden Klassikern.
In München, wo Cranko 1968 bis 1971 parallel zur Stuttgarter Tätigkeit als Ballettdirektor verpflichtet war, konzentrierte sich seine Arbeit stärker auf die Funktion als Chefchoreograph. Mit „Ebony Concerto“ schuf er 1970 sein dort wohl bedeutendstes Stück, das später auch nach Stuttgart übernommen wurde. Die Münchner wiederum profitierten von einigen Stuttgarter Übernahmen, die großen Handlungsballette gehören dort bis in die Gegenwart zum wichtigen Bestandteil des Repertoires.
Über den Namen Cranko war lange Zeit gerätselt worden. Erst im Todesjahr hat Cranko in seiner Londoner Wohnung Briefe gefunden, aus denen hervorging, dass sein Großvater Hugenotte war, dessen Name Gringaud o.ä. geheißen haben könnte. Von ihm wie auch dem Vater Crankos, einem Rechtsanwalt, der in Südafrika viele Farbige verteidigt hatte und auch nach London emigriert war, sollen prägende Impulse auf den jungen Künstler ausgegangen sein, vom Vater vor allem der Hass gegen Unterdrückung und unbändige Liebe zur Freiheit. Diese beiden Aspekte sind in den revolutionären Stücken „Die Befragung“ und „Die Spuren“ deutlich erkennbar. Die Basis seiner künstlerischen Revolution im Sinne einer Zusammenführung von Alt und Neu zu einer zeitlosen Symbiose freilich waren in seiner Persönlichkeit, in Crankos umfassender Bildung, seiner hellwachen Aufnahmebereitschaft für Ereignisse in seiner Umwelt, seinem besonderen Interesse an der Vielfalt menschlicher Charaktere begründet. Es war Cranko Anliegen, das Ballett vom rein artistisch-virtuosen Zweck, von konventionellen Rastern der Zurschaustellung bestimmter Formen zu befreien. Die Motorik des Tanzes und der Musik sollte sich aus dem stringenten und glaubhaften Handlungsverlauf und den einzelnen Charakteren heraus entwickeln und in Gang gesetzt werden. Um Solisten und Gruppen dabei gleichrangig zu würdigen, konzipierte er seine aus Stoffen der Weltliteratur geschöpften Handlungsballette so, dass der Einsatz von Solisten und der Gruppe nie reinem Selbstzweck dienten, sondern einander aus der Handlung heraus bedingten. Auch nicht zu solchem Ruhm gelangte Werke wie „Coppelia“, „Der Nussknacker“ und „Carmen“ sowie viele der kürzeren und abstrakten Stücke kennzeichnen diese Durchgeformtheit und Konzentriertheit seines Arbeitsstils. Das Herz seines Schaffens freilich markierten die zu einer absoluten künstlerischen Höhe geführten Pas de deux. Die inneren und äußeren Vorgänge wurden in lyrischer wie in dramatischer Hinsicht mit einer bis dahin beispiellosen Intensität und erzählerisch-darstellerischen Kraft verbunden und mit den schwierigsten Hebe- und Sprungformationen präzisiert, was an die Tänzer höchste künstlerische Anforderungen stellte.
Aus Crankos Schaffenskraft und seinem unnachgiebigen Qualitätsanspruch resultierte das Ziel, das er mit Hilfe „seiner“ Tänzer erreicht hat. Den vier bedeutendsten unter ihnen widmete er 1972 die „Initialen R. B. M. E.“. Die vier Sätze von Brahms zweitem Klavierkonzert wurden aus ihrer charakteristischen Struktur in Tanz übersetzt und auf Richard Cragun, Birgit Keil, Marcia Haydée und Egon Madsen zugeschnitten. In zahlreichen Neueinstudierungen und mit vielen nachfolgenden Tänzern, die in Crankos Rollenschöpfungen ein reichhaltiges Potential und entsprechende Entwicklungsmöglichkeiten vorfinden, hat sich das klassisch Zeitlose seiner Werke herausgebildet, dem Bestand zukommt.
Die Bedeutung Crankos für Baden-Württemberg, die Landeshauptstadt zumal, liegt in der Hinführung des Stuttgarter Balletts zum Weltruhm, begründet mit der ersten Amerika-Tournee 1969, in deren Verlauf die Tagespresse den zitierten Begriff des „Stuttgarter Ballettwunders“ prägte. In den folgenden Jahren bewirkte Cranko in Stuttgart eine allgemeine und über das Ballett hinausführende Begeisterung für den Tanz, was schließlich in der Einreihung Stuttgarts unter die Ballettmetropolen der Welt mündete. Internationale Anerkennung und Popularität gingen so weit, dass das Stuttgarter Ballett geradezu kultureller Botschafter des Landes und – darin führenden Automarken vergleichbar – zu einem im Ausland mit dem Südweststaat assoziierten Begriff wurde, das Format einer „Instanz“ gewann.
Nach Cranko benannt wurde die von ihm geprägte, 1971 aus dem Württembergischen Staatstheater hervorgegangene staatliche Ballettschule, die es in dieser Art zur professionellen Bühnentanz-Ausbildung in Westeuropa sonst nur in Paris und London gab. In Form eines Internats geführt werden dort Tänzerinnen und Tänzer aus aller Welt bis zur Bühnenreife ausgebildet und können ein Diplom erwerben. Viele der später führenden Solisten des Stuttgarter Balletts sind daraus hervorgegangen. Sie wird seit 1999 von Tadeusz Matacz geleitet . Namensträger Crankos ist außerdem die 1975 von Heinz Ludwig Schneiders in Stuttgart gegründete Ballettgesellschaft. Sie widmet sich der Aufgabe, das Wissen und die Liebe zum Ballett und zu Crankos Werk zu bewahren und weiterzuvermitteln. In unregelmäßigen Abständen vergibt sie den undotierten „John-Cranko-Preis“ in Form einer Urkunde und Medaille an Persönlichkeiten aus der Ballettwelt, die sich um Crankos Werk nachhaltig verdient gemacht haben, so u.a. Marcia Haydée, Birgit Keil, Tatjana Gsovsky, Mary Wigman, Gret Palucca, Reid Anderson und John Neumeier.
Werke: (Auswahl) The Beauty And The Biest, 1949; Pineapple Poll, 1951; Harlequin in April, 1951; The Lady and the Fool, 1955; Der Pagodenprinz, 1957; Romeo und Julia, 1958, Coppelia, 1962; Estro Armonico, 1963; Schwanensee, 1963; Jeu de Cartes, 1965; Onegin, 1965; Opus 1, 1965; Der Nussknacker, 1966, Holbergs Zeiten, 1967; Présence, 1968; Der Widerspenstigen Zähmung, 1969; Brouillards, 1970; Poème de l’Extase, 1970; Ebony Concerto, 1970; Carmen, 1971; Initialen R. B.M.E., 1972; Legende, 1972; Spuren, 1973.
Nachweis: Bildnachweise: John Cranko u. das Stuttgarter Ballett – Fotografien von Madeline Winkler-Betzendahl, 1969; John Cranko u. das Stuttgarter Ballett - N.F., 1972.

Literatur: Hannes Kilian, Klaus Geitel, „John Cranko – Ballett für die Welt“, 1977; John Percival, Biographie John Cranko, 1985; Hellmuth Karasek, Karambolagen – Begegnungen mit Zeitgenossen, 2004. Nachrufe (Auswahl): Horst Koegler, John Cranko. Bleibende Spuren, in: Stuttgarter Ztg. vom 27.6.1973; Heinz-Ludwig Schneiders, John Cranko ist tot, in: Stuttgarter Nachr. vom 27.6.1973; (Go) John Crankos Tod, in: Süddt. Ztg. vom 27.6.1973; K.-H. Ruppel, Rückblick auf John Crankos Arbeit, ebd. vom 7.7.1973; (MGM) Zum Tode von John Cranko, in: Neue Zürcher Ztg. vom 3./4.7.1973; Hartmut Regitz, John Cranko – Der Tod eines Choreographen, in: Die Zeit vom 6.7.1973.
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