Einstein, Carl 

Geburtsdatum/-ort: 26.04.1885; Neuwied
Sterbedatum/-ort: 05.07.1940; bei Boeil-Bézing (Departement Basses-Pyrenées) durch Freitod
Beruf/Funktion:
  • Kunsthistoriker
Kurzbiografie: 1894-1903 Großherzogliches Gymnasium Karlsruhe; vorzeitiger Abgang während des Abiturs 1903
1903 Kurze, abgebrochene Lehre im Karlsruher Bankhaus Veit L. Homburger. Umzug nach Berlin, Gelegenheitsarbeiten
1904/05 Im Wintersemester Immatrikulation an der Friedrich-Wilhelm Universität Berlin für Philosophie, Kunstgeschichte, Geschichte und Altphilologie
1907 Unterbrechung des Studiums, wahrscheinlich erster Aufenthalt in Paris
ab 1908 Nach Abbruch des Studiums freier Schriftsteller in Berlin
ab 1910 Kontakt zu Kurt Hiller und Franz Pfemfert und dem „Aktions“-Kreis
1912 Mehrmonatiger Aufenthalt in Paris, Kontakte zur literarischen und künstlerischen Avantgarde, enge Beziehung vor allem zu Marcel Rey. Nach Rückkehr nach Berlin Kontakt zu Kandinsky und dem
„Blauen Reiter“
1914-1918 Kriegsteilnahme, Verwundung 1914, 1915 Unteroffizier in Neu-Breisach, 1916 Kommandierung zur Zivilverwaltung des Generalgouvernements, Abteilung Kolonien, in Brüssel; dort Kontakt zu Carl Sternheim und Gottfried Benn. Er lernt dort auch die Gräfin Aga von Hagen kennen, für ihn (bis 1927) langjährige Lebensgefährtin
1918 Führende Rolle im Brüsseler Soldatenrat. Im Dezember Flucht nach Berlin
1919 Kontakte zu spartakistischen Kreisen. Wesentliche Mitarbeit im Berliner DADAisten-Kreis bis zum Bruch 1920
ab 1920 Zunehmende schriftstellerische Tätigkeit als Kunstkritiker und Kunsthistoriker in Berlin. Reise- und Vortragstätigkeit
1923 Heiratspläne mit der Frankfurter Bankierstochter Tony Simon-Wolfskehl zerschlagen sich. Enger Kontakt zum Weimarer Bauhaus
1928 Übersiedlung nach Paris (Pläne dazu schon seit 1924). Enge Beziehung zu französischen Surrealisten
ab 1929 Mitherausgabe der Zeitschrift „Documents“
1933 Die politische Entwicklung in Deutschland macht vage Rückkehrpläne nach Berlin zunichte. Versuche, nach Großbritannien oder den USA zu emigrieren, scheitern
1936-1939 Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg als Milizionär der anarchistischen Kolonne Durutti. Nach Rückkehr Anfang 1939 Internierung im Lager Argelès
1940 Internierung im Lager Gurs. Fluchtversuche nach der deutschen Besetzung scheitern, da der Weg über Spanien nicht möglich ist. Freitod in den Pyrenäen
Weitere Angaben zur Person: Religion: isr., später „religionslos“
Verheiratet: 1. 1913 mit der Russin Maria Ramm, geschieden 1923
2. 6.12.1932 mit der aus Persien stammenden Armenierin Lydia Guevrekian
Eltern: Vater: Daniel Einstein (1847-1899), Direktor des badischen Internats für den jüdischen Religionslehrernachwuchs in Karlsruhe (1888-1899)
Mutter: Sophie, geb. Lichtenstein (geb. 1860), Tochter des Kaufmanns Aaron Lichtenstein in Neuwied
Geschwister: Hedwig Judith (geb. 1884)
Kinder: Tochter Nina (1915-1986) aus 1. Ehe
GND-ID: GND/118529587

Biografie: Erich Kleinschmidt (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 3 (1990), 75-77

Viele Einzelheiten von Biographie und intellektueller Entwicklung Einsteins sind mangels erhaltener Quellen nicht oder nur vage bekannt. Das orthodoxe jüdische Elternhaus und der bildungsbürgerliche Horizont der Residenzstadt Karlsruhe prägten die Entwicklung. Einstein stand zu diesen Einflüssen allerdings in entschiedener Opposition und er versuchte sie bis in die 20er Jahre literarisch aufzuarbeiten („Bebuquin II”). Der Umzug nach Berlin bedeutete den Ausbruch aus den als beengend empfundenen Verhältnissen. Einstein schließt sich der künstlerischen Bohème-Szene an. Das letztlich abgebrochene Studium eröffnet erste, intensiv verarbeitete, philosophische und kunsttheoretische Horizonte, wobei ihn vor allem die Probleme des neuen, naturwissenschaftlich veränderten Weltbildes stark beschäftigen. Einstein entwickelt hieraus Prinzipien einer innovativen, die Raum/Zeit-Struktur auflösenden Poetik, die er im 1906 begonnenen „Bebuquin“-Roman (Erstdruck 1912) praktisch zu realisieren versucht. Das Schlüsselwerk der deutschen Literaturavantgarde thematisiert die erkenntnistheoretische Krisenlage der Jahrhundertwende und es bricht mit allen konventionellen Erzähltraditionen. Einstein entwickelt die Idee einer „absoluten Prosa“, die angesichts einer fragmentierten Welterfahrung „Totalität“ (so ein programmatischer Aufsatz von 1914) durch die neue Art der fiktionalen Schreibkonstitution kreativ herstellen will. Dieses zunächst nur tastend entworfene Schreibmodell findet dann seine Bestätigung durch Einsteins Begegnung mit dem Kubismus, dessen ästhetischen Konstruktivismus er literarisch umzusetzen versucht. Er bleibt mit diesen Absichten ein literarischer Außenseiter, dessen Radikalität einer Wirkung und breiteren Rezeption entgegenstand. Einsteins literarische Versuche treten deshalb in der Folge zurück und er wendet sich kunsthistorischen und kunstkritischen Bereichen zu: Das Lesedrama „Die schlimme Botschaft“ (1921), das die Passionsgeschichte Jesu politisch aktualisiert, ist Einsteins letzte, größere Veröffentlichung auf literarischem Gebiet. Es zog ihm einen Gotteslästerungsprozeß (1922) zu. Mehrere Romanprojekte entstehen zwar noch in den 20er Jahren, werden jedoch nicht mehr abgeschlossen. Trotzdem zählen Einsteins literarische Arbeiten und die ihnen zugrunde liegende Poetik zu den wesentlichen Leistungen der klassischen Moderne, ohne daß von einer Einbindung in den Expressionismus gesprochen werden könnte.
Für Einstein charakteristisch ist seine Verknüpfung von Literatur- und Kunsttheorie, die – auch schon vor 1914 – von ihm auch stets politisch gedacht war. Diese Tendenz verstärkt sich nach 1918, doch blieb Einstein von Enttäuschungen nicht verschont, die vor allem die Erfahrungen des Exils verschärften. Als Kunsthistoriker war er wegweisend zunächst mit seiner Monographie „Negerplastik“ (1915), die erstmals umfassend die Kunst Schwarzafrikas in Europa theoretisch fundiert vorstellte. Sie war Teil eines nie ausgeführten „Projekts einer Kunstgeschichte der Weltkunst“. Neben ihr wurde Einsteins bedeutendste Arbeit seine 1926 im Rahmen der „Propyläen Kunstgeschichte“ realisierte Darstellung der „Kunst des 20. Jahrhunderts“ (3. erweiterte Auflage 1931), die eigenwillig eine erste umfassende Deutung der neuen Kunstströmungen versuchte. Auf dem Fundament vielseitiger, kunstkritischer Essays entwarf Einstein hier den Aufriß einer neuen Ästhetik, die nicht frei von historischen Fehleinschätzungen (etwa im Bezug auf den deutschen Expressionismus) war, die aber doch Wert durch ihre innere Konsistenz besitzt. Pläne für weitere Arbeiten zerschlugen sich, wenn auch immerhin die dritte Auflage der Kunstgeschichte noch eine erste Darstellung des Surrealismus ermöglichte. Einstein publizierte (auf französisch) 1934 nur noch eine Arbeit über den Kubisten Georges Braques. Der Versuch einer radikalen, kunsttheoretischen Schrift „Die Fabrikation der Fiktionen“, die mit den ästhetischen Grundlagen der Moderne auch politisch abrechnet, gelangt über das Manuskriptstadium nicht mehr hinaus. Einstein verstummt als Schriftsteller und wendet sich der direkten Aktion zu, indem er am Spanischen Bürgerkrieg teilnimmt, doch bringt auch dieser Versuch für ihn keine Lösung. Der Freitod 1940 ist denn auch nicht nur das Ergebnis äußerer Auswegslosigkeit, sondern er erscheint auch als das persönliche Fazit einer von Einstein schon länger empfundenen Intellektuellenkrise im 20. Jahrhundert.
Die Bedeutung Einsteins ist weder von der literatur- noch von der kunstwissenschaftlichen Forschung bisher voll erkannt. Der spröde, unangepaßte Querdenker und Theoretiker, der zugleich auch ein Polemiker war, erschließt sich nicht leicht. Er gehört dennoch zweifellos zu den Schlüsselfiguren im ästhetischen Entwicklungsgang der Moderne, den er wie andere sowohl selbst mitgetragen, als auch analysiert und kritisiert hat.
Werke: Dank editorischer Bemühungen der letzten Jahre liegt das zu Lebzeiten publizierte Werk einigermaßen vollständig vor. Der erste Versuch 'Gesammelter Werke', hg. E. Nef, Wiesbaden 1962 wurde zunächst ergänzt durch das Projekt „Gesammelter Werke in Einzelausgaben“ von S. Penkert, das über die Publikation der Nachlaßschrift 'Die Fabrikation der Fiktionen' (Reinbek 1973) nicht hinauskam. Von den „Werken“, die alle zu Lebzeiten gedruckten Texte Einsteins von 1908-1940 umfassen (einige kleinere Arbeiten fehlen), sind bisher 3 Bände erschienen (Bd. l, hg. R.-R. Bake/ J. Kwasny, Berlin 1980; Bd. 2, hg. M. Schmid/H. Beese/J. Kwasny, Berin 1981; Bd. 3, hg. M. Schmid/L. Meffre, Wien/Berlin 1985). Es sind darin weder die 'Afrikanischen Legenden' (1925) enthalten, die unter dem Titel 'Der Gaukler der Ebene und andere afrikanische Märchen und Legenden' (Frankfurt/M. 1983) als Taschenbuch erschienen, noch 'Die Kunst des 20. Jh.s', die als eigener Band konzipiert ist. Neudruck (nach dem erw. Text der 3. Auflg. v. 1931) jetzt Leipzig 1988 (mit verändertem Abbildungsteil). Den umfangreichen Nachlaß erschließt z. T. der Band 'Carl Einstein. Existenz und Ästhetik' von S. Penkert (Wiesbaden 1970) in der Reihe 'Verschollene und Vergessene' der Mainzer Ak. d. Wiss. und der Literatur. Weiteres Material soll ein 4. Band der Werkausgabe vorlegen, dessen Erscheinen derzeit ungewiß ist. Das Desiderat einer Ausgabe der sehr umfangreichen Fragmente des 'Bebuquin II'-Romans besteht. Eine kritische Ausgabe des 'Bebuquin' von 1912 wurde von E. Kleinschmidt Stuttgart 1985 herausgegeben. Nachlaß: Der weitgehend erhaltene Nachlaß liegt im Archiv der (West-)Berliner Ak. d. Künste.
Nachweis: Bildnachweise: Fotos im Berliner Nachlaß. Zu den bekannten, künstlerischen Portraits vgl. den Überblick in: Text + Kontext Nr. 95 (1987), 101, Nr. 4.

Literatur: Einen brauchbaren Überblick der Primär- und Sekundärliteratur liefert auf neuem Stand W. Ihrig in: Text + Kritik, Nr. 95 (Juli 1987), 87-101. Wichtige und z. T. bibliographisch ergänzende Monographien sind: S. Penkert, C. Einstein. Beiträge zu einer Monographie, Göttingen 1969 (mit Nachlaß- und Brieftexten); H. Oehm, Die Kunsttheorie C. Einstein, München 1976 (mit Nachlaßtexten); L. Meffre, C. Einstein et les problèmes des Avant-Gardes dans les arts plastiques, Diss. phil. Paris 1980 (in Buchform Frankfurt/M. u. a. 1989); K.H. Kiefer, Avantgarde-Weltkrieg-Exil. Materialien zu C. Einstein und S. Friedländer/Mynona, Frankfurt/ M./Bern/New York 1986 (mit Nachlaßtexten); Chr. Braun, C. Einstein, München 1987; K. H. Kiefer (Hg.), C.Einstein-Kolloquium 1986, Frankfurt/M. u. a. 1988; I. Franke-Gremmelsbacher, „Notwendigkeit der Kunst“? Zu den späten Schriften C. Einstein, Stuttgart 1989.
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