Hassinger, Erich Hugo 

Geburtsdatum/-ort: 22.09.1907; Wien
Sterbedatum/-ort: 30.03.1992;  Freiburg im Breisgau
Beruf/Funktion:
  • Historiker
Kurzbiografie: 1918–1926 Gymnasium in Basel bis Abitur
1926 Studium d. Kunstgeschichte in Basel
1927–1931 Studium d. Geschichte u. Kunstgeschichte in Freiburg im Br. u. München mit Abschluss Promotion bei Gerhard Ritter: „Studien zu Jacopo Aconcio“
1931–1933 Ausbildung zum Archivar des Höheren Dienstes am Institut für Archivwissenschaft in Berlin-Dahlem
1933–1934 Preußisches Geh. StA Berlin
1934–1935 StA Danzig
1935–1939 Preußisches Geh. StA Berlin
1939 Forschungsstipendiat d. Dt. Forschungsgemeinschaft
1939–1945 Wehrdienst, Infanterie-Regiment 457, anfangs als Übersetzer beim Stellvertr. Generalkommando des III. Armeekorps, seit 1944 im Einsatz an d. Dnjestr- u. Oder-Front, zuletzt Leutnant; seit 1941 Mitglied d. NSDAP Nr. 8291619
1945–1948 sowjet. Kriegsgefangenschaft
1950 Habilitation in Freiburg: „Brandenburg-Preußen, Polen u. Russland 1700– 1713“
1951 Diätendozentur in Freiburg
1952/ 1953 Lehrstuhlvertretung in Frankfurt am M.
1956 ao. Professor in Freiburg
1957–1972 o. Professor für Neuere Geschichte in Freiburg im Br. als Nachfolger von G. Ritter bis Emeritierung
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: Johanna, geb. Huizinga (1906–2001)
Eltern: Vater: Hugo (1877–1952), Geograph, Gymnasial-, dann Universitätsprofessor
Mutter: Helene, geb. Peyr (1882–1955)
Geschwister: Herbert (1910–1992), Professor für Wirtschaftsgeschichte
Kinder: keine
GND-ID: GND/118546716

Biografie: Bernhard Theil (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 5 (2013), 144-146

„Historia integra“ lautet der Titel der Festschrift, die Hassinger zum 70. Geburtstag von Kollegen und Schülern gewidmet wurde. Nichts kennzeichnet besser Hassingers Forschen. Gemeint ist damit zweierlei. Einmal die Verbindung der Spezialdisziplinen der Geschichtswissenschaft – von der Geistesgeschichte über die Wirtschafts- und Sozialgeschichte bis hin zur Politikgeschichte. Das entsprach einem Geschichtsverständnis, das damals in Deutschland noch wenig verbreitet war und der „Histoire totale“ der französischen Historikerschule der „Annales“ nahe stand. Hassinger verband eine langjährige Freundschaft mit dessen wichtigem Vertreter Fernand Braudel, von der ein Briefwechsel von 1952 bis 1985 zeugt. Gemeint ist aber auch die Überwindung der nationalen Geschichte und die frühzeitige Ausdehnung seines Forschens auf ein Europa, das auch die osteuropäischen Staaten einbezieht und wie es in seinem Hauptwerk, „Das Werden des neuzeitlichen Europa“ – ein Handbuch für Studierende, Geschichtslehrer und interessierte Laien“, in vorbildlicher Weise verwirklicht wurde.
Diese Überwindung nationaler Enge und Spezialisierung war Hassinger gleichsam in die Wiege gelegt. Geboren im bildungsbürgerlichen Milieu der europäischen Metropole Wien, sein Vater war dort Gymnasialprofessor für Geographie, wo er eine, wie er selbst bemerkt, unbeschwerte Kindheit verbrachte, wuchs Hassinger dann in Basel auf. Dort hatte sein Vater 1918 einen Ruf an die Universität angenommen. Einen weiteren Bezugspunkt bildete Groningen in den Niederlanden, von wo seine Frau, eine enge Verwandte des bekannten Kunsthistorikers und Verfassers von „Herbst des Mittelalters“, Johann Huizinga, stammte. Schließlich ist in dieser Reihe Freiburg zu nennen, ebenfalls immer weltoffen, wo er bei Gerhard Ritter mit einem für ihn bezeichnenden Thema, Studien zu Jacopo Aconcio, promovierte. Dabei ging es vor allem um das Toleranzproblem im 16. Jahrhundert. Toleranz war dann auch ein Schlüsselwort Hassingers. Bei diesen „Lebenskoordinaten“ ergibt sich spontan der Name Erasmus von Rotterdam, den Hassinger mehrfach als einen für ihn bestimmenden Denker bezeichnete.
Die europäische Ausrichtung und das Werk seines Lehrers Gerhard Ritter bestimmten gleich in mehrfacher Hinsicht die wissenschaftliche und persönliche Biographie Hassingers; die Betrachtung des 16. Jahrhunderts in europäischer Dimension ist zweifellos von Ritter angeregt. Hassingers Aufsatz „Die weltgeschichtliche Stellung des 16. Jahrhunderts“ ist ohne Ritters bekannte und mehrfach, erstmals 1941 aufgelegte Aufsatzsammlung „Die Weltwirkung der Reformation“ nicht denkbar. Ritter war auch der Herausgeber der „Geschichte der Neuzeit“, in der „Das Werden des neuzeitlichen Europa“ erschien. Schließlich hat Hassinger von ihm die Schriftleitung des „Archivs für Reformationsgeschichte“ übernommen und diese Zeitschrift in 26 Jahren zu einem internationalen Organ ausgebaut, die Reformationsgeschichte in übergreifenden Zusammenhängen sah. Ritter schätzte Hassinger sehr. Dies ergibt sich aus zahlreichen Briefen Ritters, die in Hassingers Nachlass erhalten sind und worin sich Ritter in offener Weise über politische Zeitereignisse äußert und sich auch eingehend um den beruflichen Werdegang Hassingers. kümmert.
Der Lehrgang für den Höheren Archivdienst am Institut für Archivwissenschaft in Berlin-Dahlem, den Hassinger nach der Promotion absolvierte, hat ihn offenbar nicht befriedigt und so suchte er nach neuen Betätigungsfeldern, was in der damaligen Zeit äußerst schwierig war; Ritter hat ihn dabei immer unterstützt. Während seiner Zeit in Berlin zeigte sich wiederum Hassingers europäisches Interesse. Er hat sein Interesse an der osteuropäischen Geschichte wenn nicht entdeckt, so doch intensiviert und sich die Kenntnis osteuropäischer und skandinavischer Sprachen erarbeitet. Später gab er als Sprachkenntnisse neben Latein, Griechisch, Französisch, Englisch, Italienisch und Holländisch, Schwedisch, Polnisch und Russisch an. In dieser Zeit hat Hassinger auch die Grundlage für seine Habilitationsschrift „Brandenburg-Preußen, Polen und Russland 1700– 1713“ gelegt. Er war damals an mehreren Editionsprojekten zur osteuropäischen Geschichte beteiligt und konnte bereits Teile seiner Habilitationsschrift verfassen.
Die Einberufung zur Wehrmacht unterbrach den Werdegang Hassingers abrupt. Wohl wegen seiner Sprachkenntnisse war er lange als Übersetzer beim Stellvertretenden Generalkommando in Berlin tätig und kam erst Anfang 1944 an die Front. Sein Verhältnis zum Nationalsozialismus mag wohl zumindest innerlich distanziert gewesen sein, obwohl er ab 1941 Mitglied der NSDAP war. Schon aus den Briefen Ritters geht dies hervor, aber auch aus späteren Äußerungen Hassingers; in seinem rückblickenden „Lebenslauf“ von 1987: „Ich hatte mich entschlossen, [nach 1933] in Deutschland zu bleiben. Die Konsequenzen dieses Entschlusses wurden von Jahr zu Jahr schwerer erträglich, umso mehr als ich seit 1940 Einblicke in die Vorgeschichte des II. Weltkriegs gewonnen hatte, die ich niemandem mitteilen konnte, ohne andere und mich zu gefährden“ (Hassingers Lebenslauf im Nachlass).
Im Frühjahr 1945 geriet Hassinger in russische Gefangenschaft, aus der er 1948 nach Hechingen entlassen wurde, wo seine Frau am Kaiser-Wilhelm-Institut für Biologie arbeitete, das 1944 kriegsbedingt nach Hohenzollern verlagert worden war. Über seine Kriegsgefangenschaft schreibt er: „Verlorene Jahre waren es nicht; lebenslange Freundschaften sind in dieser Zeit entstanden. Größe und Elend des Menschen im Sinne Pascals sind mir damals voll aufgegangen“ (Hassingers Lebenslauf im Nachlass). Es blieben gesundheitliche Schäden. Als Kriegsgefangener war Hassinger von der politischen Säuberung nicht betroffen. Nach seiner Heimkehr nahm er tatkräftig die Arbeit an seiner Habilitation wieder auf, und nach deren Abschluss erhielt er zunächst eine Dozentur in Freiburg, wurde außerordentlicher Professor, 1957 schließlich Nachfolger von Gerhard Ritter auf dessen Lehrstuhl. Die Berufung konnte allerdings erst im zweiten Durchgang erfolgen, da zunächst keine Hausberufung stattfinden sollte und andere Namen – Carl Hinrichs, Karl Dietrich Erdmann, Werner Conze und Theodor Schieder – im Gespräch waren. Hassinger blieb seiner Universität dann bis zur Emeritierung treu.
Wer ihn kannte, ob Schüler oder Kollege, erinnert sich daran, dass Hassinger das wichtige Thema seines Forschens, die Toleranz, auch im täglichen Universitätsbetrieb verwirklichte. Gelassenheit, Freundlichkeit waren hervorstechende Merkmale seiner Persönlichkeit.
In seinen späteren Jahren blieb er dem europäischen Ansatz seines Forschens treu, wandte sich aber wieder mehr Westeuropa und der Geschichtsschreibung Italiens und Frankreichs vom 16. bis 18. Jahrhundert zu. In seinen Seminaren entwickelte er ausgehend von Meineckes „Entstehung des Historismus“ einen erweiterten Historismusbegriff, den er „empirisch-rational“ nannte und den er bei Humanisten wie Francesco Guiccardini (1483–1540) und vor allem beim hugenottischen Autor Lancelot de la Popelinière (1545–1608) verwirklicht sah. Seine Ergebnisse legte Hassinger 1978 in einer zusammenfassenden Untersuchung vor unter dem Titel „Empirisch-rationaler Historismus. Seine Ausbildung in der Literatur Westeuropas“. La Popelinière hat ihn bis an sein Lebensende beschäftigt, eine geplante Spezialuntersuchung konnte er indessen nicht mehr zu Ende führen.
Hassinger war ein Universitätslehrer alter Schule, der ein großbürgerliches Haus führte, in das er gelegentlich auch seine Studenten einlud. Bis auf wenige Ausnahmen stand er den Konflikten, die die Universität während seiner aktiven Jahre veränderten, nur sehr distanziert gegenüber. 1960, lange bevor die Probleme der Massenuniversität thematisiert wurden, nahm er in einem Artikel in der „Welt“ kritisch zur Lage des Studienfachs Geschichte Stellung, über die Studentenbewegung der späten 1960er-Jahre hat er sich nicht mehr geäußert. Nach seiner Emeritierung hat er sich vor allem mit seinen Forschungen und seiner eigenen Biographie beschäftigt, wovon auch der 1987 verfasste eigenhändige Lebenslauf Zeugnis ablegt.
Quellen: UA Freiburg B 3/305, B 17/928, B 42/2368, B 303/259, Personalakte Hassinger, u. C 54, Nachlass; StAF C 25/8, 698, Personalakte Hassinger.
Werke: Auswahl: (Hg. mit Walther Köhler) Acontiana. Abhandlungen u. Briefe des Jacobus Acontius, Abhandll. d. Heidelberger Akad. d. Wissenschaften, phil.-hist. Klasse 8, 1932; Studien zu Jakobus Acontius, Abhandll. zur Mittleren u. Neuern Geschichte 76, 1934; Die weltgeschichtl. Stellung des 16. Jh.s, in: Geschichte in Wissenschaft u. Unterricht 1951, 705-718; Brandenburg-Preußen, Schweden u. Russland 1700–1713, Veröffentlichungen des Osteuropa-Instituts München 2, 1953; Das Werden des neuzeitlichen Europa, 1. Aufl. 1958, 2. Aufl. 1964; Die ungeeigneten Studenten, in: „Die Welt“ vom 12.11.1960; Religiöse Toleranz im 16. Jh. Motive, Argumente, Formen d. Verwirklichung, Vorträge der Aeneas-Silvius-Stiftung an d. Univ. Basel 6, 1966; Empirisch-rationaler Historismus: Seine Ausbildung in d. Literatur Westeuropas von Guiccardini bis Saint-Évremond, 1978, 2. Aufl. 1994; Zur Genesis von Herders Historismus, in: Dt. Vierteljahrsschr. für Literaturwiss. u. Geistesgeschichte 53, 1979, 251-274, wieder abgedr. in: Empirisch-rationaler Historismus, 235-255; Die Rezeption d. Neuen Welt durch den französischen Späthumanismus 1550–1620, in: Wolfgang Reinhard (Hg.), Humanismus u. neue Welt,1987, 89–132.
Nachweis: Bildnachweise: Historia Integra. FS für Erich Hassinger, Vorspann.

Literatur: Hans Fenske, Wolfgang Reinhard, Ernst Schulin (Hgg.), Historia integra. FS für Erich Hassinger zum 70. Geburtstag, mit Geleitwort u. Würdigung Hassingers durch Fernand Braudel, 1977; Wolfgang Reinhard, Nachruf, in: Freiburger Universitätsbll. 31, 1992, 16; ders., Nachruf in: HZ 256, 1993, 544-546; Hans R. Guggisberg, Nachruf, in: Archiv für Reformationsgeschichte 84, 1993, 5f.
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