Heiß, Robert Moritz Ludwig 

Geburtsdatum/-ort: 22.01.1903; München
Sterbedatum/-ort: 21.02.1974;  Freiburg im Breisgau
Beruf/Funktion:
  • Philosoph und Psychologe
Kurzbiografie: 1913 Humanistisches Progymnasium Pasing
1919 Zeitfreiwilliger im Freikorps Epp u. von Juli bis Nov. Schützenregiment d. Reichswehr
1921 Abitur im Theresiengymnasium München
1922–1926 Studium d. Philosophie u. Nationalökonomie in Heidelberg, Kiel, Marburg u. Göttingen
1926 Promotion in Göttingen bei M. Geiger: „Die Philosophie d. Logik u. die Negation“
1928 Habilitation in Köln: „Das Gesetz d. negativen Selbstbezüglichkeit“
1929–1933 Dekanatsassistent d. phil. Fak. d. Univ. Köln
1936 nicht-besoldeter ao. Professor
1938 Leiter des Instituts für experimentelle Psychologie
1939 beamteter apl. Professor für Philosophie
1939–1942 Personalgutachter im Dienst d. Wehrmacht u. d. Luftwaffe in Berlin
1942 vertretungsw. Wahrnehmung des Lehrstuhls für Philosophie u. Psychologie an d. Univ. Freiburg
1943 o. Professor
1944 Gründung des Instituts für Psychologie u. Charakterologie in Freiburg
1971 Emeritierung
Weitere Angaben zur Person: Religion: rk., später konfessionslos
Verheiratet: 1929 Hildegard Maria, geb. Philippi (1904–1985)
Eltern: Vater: Robert (1863–1916), Postbeamter
Mutter: Eugenie, geb. Pinsker (1865–1918)
Kinder: 2; Peter (1934–1949) u. Thomas (1936–1988)
GND-ID: GND/118709968

Biografie: Jochen Fahrenberg (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 5 (2013), 154-157

Heiß wuchs in München auf und zeitweilig auch in Bamberg, wohin der Vater versetzt wurde, und war nach dem frühen Tod der Eltern kurz in einem katholischen Internat. Als 16-Jähriger meldete er sich ein halbes Jahr zum militärischen Dienst und schloss danach das Gymnasium ab. Der Verlust der Eltern und die Entwertung des Familienvermögens in der Inflation erforderten, dass er während des Studiums als Werkstudent tätig war. Die Fortführung seines Studiums in Köln bis zur Habilitation ermöglichte ein Stipendium der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft. Heiß wurde in Göttingen mit einer von Moritz Geiger betreuten Arbeit promoviert. In Köln zog ihn Max Scheler an, der seit 1921 Professor für Philosophie und Soziologie war. Dessen Berufung nach Frankfurt trug dazu bei, dass Heiß die beabsichtigte Arbeit zur Theorie sozialer Handlungen aufgab. Nicolai Hartmann, seit 1925 in Köln, unterstützte dann die Fortsetzung der zuvor bearbeiteten Themen der Logik und Ontologie, und die Fakultät nahm 1928 „Das Gesetz der negativen Selbstbezüglichkeit“ als Habilitationsschrift an, die unter dem Titel „Logik des Widerspruchs“ 1932 gedruckt wurde. Der Probevortrag „Die psychische Dynamik und die Grenze der typischen Betrachtungsweise“ sowie die Antrittsvorlesung „Theorien vom Untergang und Sündenfall und die soziologische Methode“ belegen Heiß’ Interesse an Themen der Psychologie und Soziologie, ebenso sein abgeschlossener Aufsatz über Marx’ Revolutionsbegriff, der 1933 aus politischen Gründen nicht mehr erscheinen konnte. Nach Ablauf der Assistentenzeit erhielt Heiß 1933 einen Lehrauftrag für Logik und Logistik, der 1934 um die Bereiche Wissenschaftslehre und 1938 um Psychologie und Charakterkunde erweitert wurde, nachdem seine „Lehre vom Charakter“ erschienen war. Zu dieser Zeit gründete er das Institut für experimentelle Psychologie.
Wie viele Psychologen seiner Generation musste Heiß von 1939 bis 1942 eine Tätigkeit als Heeres- und Luftwaffenpsychologe ausüben, bis die Luftwaffenpsychologie aufgelöst wurde. Im Jahr 1942 erhielt er den Ruf auf den Lehrstuhl für Philosophie und Psychologie an die Universität Freiburg. Sehr fraglich bleibt, ob Heiß tatsächlich seit dem 1. Oktober 1940 Mitglied der NSDAP war, wie eine entsprechende Karteikarte im Bundesarchiv annehmen lässt. Leaman sowie Tilitzki haben dies gleichlautend übernommen. Andererseits fehlen aber der Aufnahmeantrag, der Hinweis auf Aushändigung des Parteiausweises und Belege für Beitragszahlungen. Auch fällt der Widerspruch zur Freiburger Personalakte mit dem Personalfragebogen vom 9. Januar 1943 auf, denn Heiß verneint hier die Mitgliedschaft in einer Partei. In einer Erklärung vom 17. Juni 1946 berichtet er, dass er im Oktober 1943 fälschlich als Parteimitglied bezeichnet worden sei. Letztlich sei seine Berufung nach Köln 1942 am politischen Widerstand gescheitert. Schließlich sprechen auch die Stellungnahmen der NS-Dozentenführer dagegen, die belegen, dass Heiß verschiedentlich auf starke politische Bedenken stieß und nicht selten mit Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, wie auch die Freiburger Personalakte erkennen lässt. Vielleicht handelt es sich tatsächlich um die Verwechslung Heiß’ mit einem ebenfalls in München geborenen gleichnamigen Professor der Medizin. Nach dem Krieg wurde Heiß von der französischen Militärregierung bereits im November 1945 im Amt bestätigt und als „politisch Unbelasteter“ schon 1946 Dekan der Philosophischen Fakultät.
Heiß gehört noch jener Generation von Professoren der Psychologie an, die durch ihr Studium und ihre ersten Veröffentlichungen als Philosophen ausgewiesen waren. In einem weiten Problemhorizont hat er den Ertrag der Logistik für die inhaltlichen Grundfragen der Metaphysik, Erkenntnistheorie und Bewusstseinstheorie untersucht. Zugleich fällt neues Licht auf alte Kernprobleme der Metaphysik, wie die Antinomien, die Dialektik und die philosophische Methode überhaupt. Heiß blieb dem Kreis um den Philosophen Nicolai Hartmann verbunden.
In der akademischen Psychologie jener Zeit war Heiß ein Außenseiter, da er weder aus einer experimentalpsychologischen noch aus einer phänomenologischen bzw. betont geisteswissenschaftlichen Tradition der Psychologie stammte. Er war wesentlich von Sigmund Freud, aber auch von Erich Rothacker und Ludwig Klages sowie von Ernst Kretschmer und dessen medizinischer Psychologie beeinflusst. Das Interesse an logischen und erkenntnistheoretischen Problemen trat zurück, doch zogen ihn weiterhin die großen Dialektiker Hegel, Kierkegaard und Marx an. Heiß hat über sie geschrieben; sein eigenes Denken über die „Dialektik und Dynamik“ der Person ist unter diesem Einfluss zu verstehen.
In Freiburg erwartete Heiß eine in jeder Hinsicht schwierige Aufgabe. Von 1887 bis 1942 existierte dort in der Philosophischen Fakultät ein Psychologisches bzw. Psychophysisches Laboratorium; es war – von Hugo Münsterberg gegründet – eines der ältesten in Deutschland. Nominell wurde es seit 1916 von Edmund Husserl und 1928 bis 1934 von Martin Heidegger geleitet; Psychologie lehrte der außerplanmäßige Professor Jonas Cohn, der 1933 während Heideggers Rektorat entlassen wurde und emigrieren musste. Heidegger, der von empirischer Psychologie überhaupt nichts hielt, wollte sie durch das Fach „Politische Erziehung“ ersetzen. Das Berliner Ministerium drängte jedoch die Universität, im Hinblick auf die neu geschaffene Prüfungsordnung für den Diplom-Studiengang Psychologie einen Lehrstuhl einzurichten. Durch den plötzlichen Tod von Martin Honecker 1941 war gerade ein passender Lehrstuhl, der Konkordats-Lehrstuhl Philosophie II, vakant und gegen einigen Widerstand umzuwidmen.
Nach seiner Berufung gründete Heiß das „Institut für Psychologie und Charakterologie“. Diese ungewöhnliche Bezeichnung sollte den beiden Traditionen, der experimentalpsychologischen und der charakterkundlichen, gerecht werden. Heidegger sah in Heiß kaum den Psychologen, sondern schätzte den Philosophen, den er sehr freundlich begrüßte. Als Dekan war Heiß 1946 in der zwiespältigen Lage, über Heideggers weitere Rolle an der Universität Freiburg und das Lehrverbot mitzuentscheiden.
In seiner „Lehre vom Charakter“ und in der programmatischen Schrift „Person als Prozess“ entwickelte Heiß eine für jene Zeit ungewöhnliche Sicht der Persönlichkeit. Er ging über das bloß Typenhafte hinaus und erweiterte den traditionellen Begriff der als relativ konstant angesehenen Charaktereigenschaften. Nicht die Struktur der Persönlichkeit war ihm wesentlich, sondern der „Verfestigungsprozess“, in dem sich die Eigenschaften herausbilden. Wer die individuelle Eigenschaftsausprägung erfassen und beurteilen will, muss die inneren Antriebsgestalten, die Reaktionsweisen, Regulationen und Bewältigungsstile analysieren. Diese theoretische Konzeption ist viel weiter gefasst als die elementaren Lerntheorien der Verhaltenswissenschaft. Heiß stützte seine Interpretationen auf motivationspsychologische und speziell auch tiefenpsychologische Annahmen und er bezog sich auf Antrieb und Hemmung, auf die Krisen und Umbrüche der Persönlichkeit, auf Entwicklungen mit Rückbildung, Zerstörung und Umschichtung der Persönlichkeit sowie auf Grenzformen wie das Zwangsverhalten. Die psychologische Betrachtung dieser dynamischen Vorgänge führte zu dem neuen Verständnis von „Person als Prozess“ und zu der Methodik der psychologischen Verlaufsanalyse hinsichtlich Labilisierung, Stabilisierung und Verfestigung. Zum ersten Mal wird versucht, die Individualität der Persönlichkeit fassbar zu machen, indem solche Prozesseigenschaften zum konstitutiven Moment werden.
Die prozessorientierte psychologische Diagnostik erfordert geeignete Verfahren. Heiß’ Ansatz der „diagnostischen Psychologie“ orientierte sich zunächst an den vorhandenen diagnostischen Mitteln und an den praktischen Aufgaben, d. h. psychologischer Beratung und Begutachtung. In Freiburg führte Heiß projektive Tests, Intelligenztests, Graphologie und Ausdruckspsychologie ein und gemeinsam mit seinen Mitarbeitern entstand im Laufe der Jahre, besonders zwischen 1950 und 1970 ein für Deutschland einmaliger Ausbildungsschwerpunkt an einem Psychologischen Institut. Heiß war Herausgeber des Handbuchs „Diagnostische Psychologie“ und (Mit-)Herausgeber der „Zeitschrift für diagnostische Psychologie und Persönlichkeitsforschung“, später: „Diagnostica“, der „Psychologischen Forschung“ und der „Zeitschrift für Menschenkunde“. Berufungen nach Gießen und nach Berlin nahm er nicht an, sondern baute sein Freiburger Institut aus. Seine weitere Forschungsarbeit konzentrierte sich auf die Diagnostik und die Konstruktion und Validierung von psychologischen Tests. Daneben unternahm oder förderte Heiß auch Forschungsvorhaben u.a. zur Evaluation von Psychotherapie, zur Aggressionsforschung, Medienpsychologie, Psychopharmakologie und Psychophysiologie. Als Mitautor der Denkschrift der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Lage der ärztlichen Psychotherapie von 1964 setzte Heiß sich für Ausbildungs-Stipendien und frühzeitig auch für die Anfänge psychoanalytischer und verhaltenstherapeutischer Ausbildung am Psychologischen Institut ein. Jene Tests und die Graphologie, auf die sich diese psychologischen Verlaufsanalysen inhaltlich stützten, werden heute als sehr problematische Methoden angesehen, denn sie hielten der empirischen Überprüfung kaum Stand. Damit verlor die von Heiß beabsichtigte Analyse der individualcharakteristischen Prozessgestalten ihre empirische Basis weitgehend. Die Idee der Prozessforschung bleibt jedoch bestehen. Dies gilt auch für die methodisch sehr differenziert ausgearbeiteten Regeln der psychologischen Interpretation und Kombinatorik. Die von Heiß geforderte Prozessforschung stellte sich als eine sehr anspruchsvolle Aufgabe dar. Vor durchaus vergleichbaren Herausforderungen steht auch die heutige Differenzielle Psychologie mit ihren Veränderungsmessungen und Zeitreihenanalysen.
Nach seiner Emeritierung nahm Heiß weiterhin Anteil an den Forschungsvorhaben seiner Mitarbeiter und förderte neue Arbeitsrichtungen wie die experimentelle Traumforschung, die Psychophysiologie und die Verhaltenstherapie. Die hochschulpolitischen Entwicklungen regten ihn zu seinem zeitkritischen Buch über „Utopie und Revolution“ an.
Quellen: UA Freiburg B 24/1249–50, B 254/36, Personalakten Heiß, B 254, Psychologisches Institut, B 254/33, Nachlass Heiß, B 3/312 u.B 254/36, Philosophische Fakultät/Lehrstuhlbesetzung, B 1/2848 u. B 254/ 186, Neuordnung des Studiums d. Psychologie.
Werke: Werkverzeichnis H.s 1943 bis 1973 in: Hildegard Hiltmann u. Hermann Liebel, Die Veröffentlichungen aus dem Psychologischen Institut an d. Univ. Freiburg im Br. 1943–1973, 1973; Allgemeine Psychologie, Vorlesung [Heiß’] im SS 1937 an d. Univ. Köln, mit biogr. Anhang u. vollst. Bibliographie, hg. von J. Fahrenberg, Albert-Ludwigs-Univ. Freiburg: Psychologisches Institut, 1990. – Auswahl: Die Philosophie d. Logik u. die Negation, Diss. phil. Gőttingen 1926, gedruckt in: Archiv für die gesamte Psychologie, 56, 1926, 463-538; Logik des Widerspruchs: eine Untersuchung zur Methode d. Philosophie u. zur Gültigkeit d. formalen Logik, 1932; Die Lehre vom Charakter, 1936; Die Deutung d. Handschrift, 1943; Person als Prozess, 1948 (Nachdruck in: FS für Robert Heiß 1968, 17-37, vgl. Literatur); Der Gang des Geistes, 1948; Die diagnostischen Verfahren in d. Psychologie, in: Psychologische Rundschau 1 u. 2, 1949/50; (Hg. mit Hildegard Hiltmann) Der Farbpyramidentest nach Max Pfister, 1951; Allgemeine Tiefenpsychologie, 1956; Wesen u. Formen d. Dialektik, 1959; Die großen Dialektiker des 19. Jh.s: Hegel, Kierkegaard, Marx, 1963; (Hg. mit Karl-Josef Groffmann u. Lothar Michel), Handb. d. Psychologie Bd. 6, Psychologische Diagnostik, 1971; Utopie u. Revolution, 1973. – Rundfunkvorträge im Westdeutschen Rundfunk zu Themen d. Philosophie u. Psychologie sowie Gespräche mit Freiburger Professoren u.a. zu hochschulpolitischen Fragen, 1953–1964 (als CD in: UA Freiburg).
Nachweis: Bildnachweise: Portrait von ca. 1960 in: Hiltmann u. Vonessen (Hgg.), FS 1963, 2 (vgl. Literatur).

Literatur: Dialektik u. Dynamik d. Person, FS für Robert Heiß zum 60. Geburtstag, hg. von Hildegard Hiltmann u. Franz Vonessen, 1963; Person als Prozeß, FS zum 65. Geburtstag, hg. v. Karl-Josef Groffmann u. Karl-Herrmann Wewetzer, 1968; Jochen Fahrenberg u. Reiner Stegie, Beziehungen zwischen Philosophie u. Psychologie an d. Freiburger Universität, in: Jürgen Jahnke et al. (Hgg.), Psychologiegeschichte – Beziehungen zu Philosophie u. Grenzgebieten, 1989, 251-266; Jochen Fahrenberg, Psychologische Interpretation, 2002; George Leaman, Heidegger im Kontext, 1993; Christian Tilitzki, Die dt. Universitätsphilosophie in d. Weimarer Republik u. im Dritten Reich, 2002; Eckhard Wirbelauer (Hg.), Die Freiburger Philosophische Fakultät 1920–1960. Freiburger Beiträge zur Wissenschafts- u. Universitätsgeschichte, 2006.
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