Wisten, Fritz 

Andere Namensformen:
  • eigentlich: Weinstein, Moritz
Geburtsdatum/-ort: 25.03.1890; Wien
Sterbedatum/-ort: 12.12.1962; Berlin
Beruf/Funktion:
  • Schauspieler, Regisseur und Theaterleiter
Kurzbiografie: 1909 Freiplatz an d. K. u. K. Akademie für Musik u. Darstellende Kunst, Wien
1912 erstes Engagement beim Märkischen Wandertheater
1915 I–V Kriegsdienst, mit schwerem Nervenschock entlassen; Engagement im Stadttheater Eisenach
1918 Residenztheater Berlin
1920 Deutsches Theater Stuttgart
1921 Landestheater Stuttgart
1928 Staatsschauspieler für die Dauer seiner Zugehörigkeit zum Verband d. Württ. Landestheater
1933 Entlassung in Stuttgart; Beginn des Engagements beim Jüd. Kulturbund in Berlin
1936 Oberspielleiter für das Schauspiel im Jüd. Kulturbund
1939 Künstlerischer Leiter des Jüd. Kulturbundes
1941 Auflösung des Jüd. Kulturbundes, Zwangsarbeit
1945 nach Kriegsende Regie von Lessings Nathan der Weise zur Wiedereröffnung des Deutschen Theaters, Berlin
1946 Intendant des Theaters am Schiffbauerdamm, Berlin
1954 Intendant d. Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin
1961 letzte Inszenierung d. Ravensbrücker Ballade von Hedda Zinner, Niederlegung d. Intendanz
2007 Einweihung d. Fritz-Wisten-Staffel in Stuttgart
2014 Gedenktafel in Berlin-Schlachtensee
Weitere Angaben zur Person: Religion: isr.
Verheiratet: 1923 Gertrud, geb. Widmann (1902–1986), Schauspielerin
Eltern: Vater: Isidor Weinstein (1852–1942)
Mutter: Anna, geb. Lazar (1861–ca. 1934/35)
Geschwister: Elsa (1887–ca. 1928/29)
Kinder: 2;
Susanne (geboren 1924),
Eva (geboren 1930)
GND-ID: GND/118807676

Biografie: Stephan Dörschel (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 6 (2016), 511-516

Von 1920 bis 1933, als ihn die Nationalsozialisten entließen, prägte Wisten als Schauspieler den Spielplan der Stuttgarter Bühnen. Sein Repertoire reichte von aufsehenerregenden Uraufführungen, die er in maßgeblichen Rollen zum Erfolg brachte, bis zu eindrucksvollen Gestaltungen klassischer Rollen, denen er im Stil der Zeit zu einer neuen gegenwärtigen Wirkung verhalf.
Wisten wurde als Sohn eines Bankangestellten in Wien geboren und hatte dort als Jugendlicher seine ersten Theatereindrücke. Dank seiner Begabung erhielt er einen Freiplatz an der K. u. K. Akademie für Musik und Darstellende Kunst in Wien, wo er seinen jüdisch klingenden Namen in den „neutraleren“ änderte. 1928 hat er den Namen Wisten auch für sich und seine Familie amtlich registrieren lassen. Seine Mitschüler waren u.a. Fritz Kortner, Maria Fein, Dagny Servaes und Raul Lange, sein Lehrer war der spätere Burgtheaterdirektor Max Paulsen, der ihn auch in seinen ersten Engagements beriet und unterstützte. Wistens erstes Engagement führte ihn nach Berlin zum Märkischen Wandertheater, wo er 1912 als Derwisch in Lessings „Nathan der Weise“ debütierte. Ein zweites erhielt er in Kattowitz, heute Katowice, wo er kleine, aber anspruchsvollereRollen spielen konnte. Zum Beginn des I. Weltkrieges kehrte Wisten nach Wien zurück und spielte im Wiener Colosseum und für zwei Monate am Stadttheater in Teplitz-Schönau, bevor er zum Kriegsdienst einberufen wurde. Nach einem knappen halben Jahr wurde er aufgrund eines Nervenschocks entlassen.
1915 bis 1918 wurde Wisten am Stadttheater Eisenach engagiert, wo er beinahe jede Woche eine Premiere hatte – insgesamt 113 verschiedene Rollen – und auch zum ersten Mal Regie führte. Kurz vor Kriegsende, im Oktober 1918, schloss er ein Engagement an das Residenztheater in Berlin ab und spielte in Rosa Valettis Film „Der verlorene Sohn“ seine erste Filmrolle. Eine weitere Filmrolle ist erst für 1951 in dem DEFA-Film „Das Beil von Wandsbek“ als einer der Verurteilten überliefert.
1919 kam Wisten nach Stuttgart an das Deutsche Theater, der späteren Volksbühne, wo er zusammen mit Maria Koppenhöfer und Emmy Sonnemann, die Hermann Göring heiraten sollte, unter anderem den Alwa in Wedekinds „Büchse der Pandora“ (d. i. Lulu) und den Sohn im gleichnamigen Stück von Ernst Toller spielte, später auch den Carlos in Schillers „Don Carlos“, Macbeth in der gleichnamigen Tragödie William Shakespeares, den Holofernes in Hebbels „Judith“, den Mephisto in Goethes „Faust“, den Franz Moor in Schillers „Die Räuber“ oder den Jedermann in dem gleichnamigen Mysterienspiel von Hugo von Hofmannsthal. Walter Erich Schäfer beschrieb Wisten als „scharfen Charakterspieler“ und „vollblütigen Theatraliker“, geprägt durch Theaterleidenschaft, Kraft der Verwandlung, geistige Wachheit und „ein seltenes Wissen um die Grenzen“ (Komödiantisches Theater, S. 46f.). An der Volksbühne lernte Wisten auch Gertrud Widmann, die jüngste Tochter des wohlhabenden Stuttgarter Bauunternehmers und Architekten Gottlob Widmann, kennen, die er heiratete. In Stuttgart wurden auch seine beiden Töchter geboren.
Nach dem Wechsel zur ersten Bühne Stuttgarts, dem ehemaligen Hoftheater und jetzigen Württembergischen Landestheater, gab Wisten 1921 sein eigentliches Debüt mit der Titelrolle in der Uraufführung von Franz Werfels „Der Spiegelmensch“. In einer zeitgenössischen Kritik hieß es „Wisten lässt faszinierende schauspielerische Künste spielen; sein Spiegelmensch tanzt mit grotesker Grazie im Zwielicht seiner Scheinwelt, ist bald böser Dämon, bald lustige Person, fetter Marquis und schlotterichte Spottgeburt. Ein Kerl aus E. T. A. Hoffmanns phantastischem Reich“ (Hermann Missenharter in: Württ. Ztg., 16.10.1921). Hier erwies er sich als der zentrale moderne Schauspieler Stuttgarts, der sein Profil nicht nur in der zeitgenössischen Dramatik schärfte, sondern auch in den Klassikern. Seine wesentlichen Rollen in dieser Zeit sind die Titelrolle in Wedekinds „Marquis von Keith“, der Jago in Shakespeares „Othello“, Mephisto in Goethes „Faust II“, die Titelrolle in Alphons Paquets „Limo, der große beständige Diener“ sowie die Titelrolle in Strindbergs „Gustav III.“, den Caliban in Shakespeares „Sturm“, den Galy Gay in Brechts „Mann ist Mann“, Richard Gloucester in Shakespeares „Richard III.“, den Ödipus von Sophokles und die Titelrolle in Schillers „Die Verschwörung des Fiesco zu Genua“. Zweimal spielte er Napoleon Bonaparte. Die Regisseure, mit denen er am häufigsten zusammenarbeitete, waren Friedrich Brandenburg, Wolfgang Hoffmann-Harnisch und Hanns Lotz.
In 16 bis 20 Premieren wirkte Wisten in jeder Spielzeit mit; er spielte dabei natürlich auch kleine Rollen. In den zeitgenössischen Kritiken wurde v.a. seine Wandlungsfähigkeit hervorgehoben, die den jeweiligen Rollencharakter nicht nur in der Sprache und Diktion, sondern auch in der körperlichen Gestaltung unverwechselbar sichtbar machte. So beschreibt der Kritiker Missenharter Wistens Darstellung König Gustavs III. von August Strindberg: „Herr Wisten, den man vor einem halben Jahr ohne große Sorgen ziehenlassen wollte, ist der König. Man schätzte ihn bisher als einen temperamentvollen Charakteristiker von vorwiegend dunkler Gemütsfarbe und griesgrämig-sarkastischer Dämonie. Er ist diesmal ganz Gebärde. Er sieht sogar hübsch aus. Das mag anderen leichter fallen. Aber was ihm so bald keiner nachmacht, das ist die geistige Überlegenheit, die Schärfe seines Witzes, die Ursprünglichkeit seines Humors.“ (Württ. Ztg., 1.12.1924) Und der gleiche Kritiker zur Darstellung des Vaters in Pirandellos „Sechs Personen suchen einen Autor“: „eine blonde, pomadisierte Locke über dem plattgedrückten, käsigen Gesicht, zierliche, gelockte Augenbrauen und ein an den Enden kokett gekräuselter Schnurrbart. Ein widerlicher Kerl mit hohen Schultern und weibischen Hüften. Wenn er ernst wird, lächelt er süßlich und verdreht schmerzlich die Augen. Die Stimme ist spiritistisch umflort und hündisch devot. Diese Gestalt, ganz wirklich und zugleich doch von der Überdeutlichkeit einer fiebrigen Traumerscheinung, hat als schlechtweg geniale schauspielerische Leistung zu gelten“ (ebd., 21.3.1925). Daneben hielt Wisten zahlreiche Lesungen und rezitierte beispielsweise auf der Gründungsfeier des Süddeutschen Rundfunks in Stuttgart.
In seiner Stuttgarter Zeit begann auch die Freundschaft Wistens mit dem Dramatiker Friedrich Wolf und die Bekanntschaft mit dem Maler Willi Baumeister, in dessen Bühnenbildern er mehrfach spielte (1919 Georg Kaisers „Gas“, 1920 Ernst Tollers „Die Wandlung“ und Herbert Kranz’ „Freiheit“, 1921 Shakespeares „Macbeth“ und Goethes „Faust“, 1927 Elsas’ „Das Klagelied“) und der ihm auch ein Exlibris entwarf. Wisten war ein geselliger Mensch, was nicht nur sein sprichwörtliches „offenes“ Haus belegt, sondern die Mitgliedschaft in Stuttgarter Vereinen, wie der „Schlaraffia“, die sich der „Pflege der Kunst und des Humors“ widmete oder der Gesellschaft für Theatergeschichte, der er mehrere neue Mitglieder zuführte, was in deren Jahresbericht 1927 lobend erwähnt wurde.
1930 wurde der „Jude Wisten“ in der NS-Presse im Zusammenhang mit seiner Rolle in Ossip Dymows „Schatten über Harlem“ öffentlich angegriffen: „Und nun, das Interessanteste, der jüdische Schauspieler Wisten, der Einflussreichsten einer am Landestheater, schwingt das Beil gegen die Zuschauermenge!“ (Völkischer Beobachter, 24.10.1930) Dem Polizeipräsidenten stellten sie in demselben Artikel das Ultimatum: „Wenn das Stück nicht sofort vom Spielplan verschwindet, machen wir am kommenden Samstag eine Massenprotestversammlung gegen dieses Stück, damit der Skandal vor die breiteste Öffentlichkeit kommt. Wir werden die 21 000 Nationalsozialisten zum Besuche des Stückes auffordern. Wenn das noch nicht genügt, ziehen wir in der Stadthalle eine Kundgebung größten Stiles gegen den Kulturverfall Deutschlands auf.“ Der damalige Generalintendant Albert Kehm setzte die Inszenierung aufgrund dieser massiven Proteste nach nur drei Aufführungen ab. Trotz seiner Ernennung zum Staatsschauspieler der Württembergischen Landestheater 1928 wurde Wisten bereits am 27. März 1933 von dem neuen Stuttgarter Generalintendanten Otto Krauss entlassen und erhielt Auftrittsverbot. Damit war die so erfolgreiche Stuttgarter Zeit für Wisten zuende.
Durch die Stuttgarter Schauspielerin Emy Remolt erfuhr Wisten von der Gründung eines Kulturbundes Deutscher Juden, der eine vom NS-Staat genehmigte und überwachte Selbsthilfeorganisation für arbeitslos gewordene jüdische Schauspieler, Sänger, Regisseure, Bühnen- und Kostümbildner sowie Mitarbeiter des technischen Personals war. Nichtjüdische Deutsche hatten zu den Vorstellungen keinen Zutritt. Wistens Hoffnungen waren groß, dass hier ein ideales Ensemble auf ein ideales Publikum träfe: beide durch die äußeren Zwänge existenziell aufeinander angewiesen. Diese optimistische Haltung hat Wisten bis zum Ende des Kulturbundes beibehalten. Sein unbelehrbarer Optimismus und die innige Verbindung mit seiner nichtjüdischen Frau halfen der Familie diese Zeit überstehen. Nachdem sich das Engagement in Berlin festigte, zog die Familie 1933 dorthin. Da Trude Wisten das von Peter Behrens 1929 im Stil der Neuen Sachlichkeit errichtete Haus nach dem Verkauf eines geerbten Stuttgarter Mietshauses kaufen konnte, war die Familie weitgehend abgesichert – und sie nutzte diese Möglichkeit, anderen Verfolgten, wie dem Kulturbund-Schauspieler Alfred Balthoff, nach 1941 Unterschlupf zu gewähren.
Wisten spielte in Lessings „Nathan der Weise“, der programmatischen Eröffnungsinszenierung des Jüdischen Kulturbundes, wie bei seinem Debüt 20 Jahre zuvor, den Derwisch. 1936 übernahm er die Oberspielleitung für das Schauspiel. Seine erste Regie im Kulturbund hatte er bereits 1935 für George Bernard Shaws Komödie „Man kann nie wissen“ übernommen. Auf der Gedenkfeier für den langjährigen Präsidenten der preußischen Akademie der Künste und ehemaligen Berliner Ehrenbürger, Max Liebermann, die beinahe unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden musste, gestaltete Wisten die Rezitation. Ein letztes Mal als Schauspieler trat er in „Das Gericht“ von Schulamith Bat Dori in der Rolle des Sprechers auf. Es war das einzige gegenwartsbezogene Drama, das der Kulturbund zeigte.
Die Arbeitsbedingungen für den Jüdischen Kulturbund wurden nach 1936 immer schlechter. Mit dem Pogrom vom 9. November 1938 verschwanden die letzten Illusionen über eine dauerhafte Perspektive in Deutschland. Wisten wurde, wie viele Juden, in ein Konzentrationslager gebracht – eine Erfahrung, über die er auch später nie gesprochen hat. Da die Behörden befahlen, das Kulturbundtheater wieder rasch zu eröffnen, um „Normalität“ zu suggerieren, kam er relativ bald wieder frei. Schon am 20. November 1938 fand die erste Vorstellung nach dem Pogrom mit der Komödie „Regen und Wind“ unter seiner Regie statt, die erst am 2. November Premiere gehabt hatte.
In der Folgezeit übernahm Wisten die künstlerische Gesamtleitung des Kulturbundtheaters und führte selbst im Musiktheater Regie. Nach dem Kriegsausbruch 1939 wurden sämtliche andere regionale Kulturbünde aufgelöst und Wisten mit der Leitung des restlichen Kulturbundes beauftragt. Das Theater musste zurückgegeben werden und der Jüdische Kulturbund konnte bis zu seinem Ende 1941 nur noch in seinem Kinosaal Theater spielen.
Nach der Auflösung des Kulturbundes zur Zwangsarbeit verpflichtet gelang es Wisten, die Akten des Kulturbundes in Sicherheit zu bringen. 1942 wurden Wisten und seine Frau verhaftet. Die beiden minderjährigen Töchter blieben ihrem Schicksal überlassen. Nur durch die Intervention von Admiral Canaris, der in der gleichen Straße wohnte, konnte die Freilassung erwirkt werden. Am Ende interessierte sich Hitlers Stararchitekt Albert Speer für das Wohnhaus, in dem auch Verfolgte illegal Unterschlupf gefunden hatten. Er forderte dessen Baupläne an. Ein Bombenangriff zerstörte aber mit den Plänen auch dieses Vorhaben. Der Einmarsch der Roten Armee, für viele Berliner ein Alptraum, bedeutete für die Familie Wisten die Lebensrettung.
Mit drei Inszenierungen stellte sich Wisten nach Kriegsende nun auch dem nichtjüdischen Publikum in Berlin als Regisseur vor. Lessings „Nathan der Weise“, diesmal mit Paul Wegener in der Titelrolle, stand wieder am Beginn, nun von Wistens „drittem“ Theaterleben, als programmatische Wiedereröffnung des Deutschen Theaters in Berlin. Die zweite Inszenierung Wistens, diesmal am Hebbel-Theater in West-Berlin, war „Professor Mamlock“ von Friedrich Wolf. Als drittes Stück inszenierte Wisten, wieder im Deutschen Theater, Carl Sternheims „Der Snob“ mit dem gerade aus der Kriegsgefangenschaft entlassenen Star Gustaf Gründgens, dessen erster Auftritt von „seinen“ Berlinern mit frenetischem Beifall begrüßt wurde. Zu Beginn der Spielzeit 1946/47 bekam Wisten das vom Krieg weitgehend unzerstörte Theater am Schiffbauerdamm, das er beinahe acht Jahre mit einer ausgewogenen Mischung aus Klassikern, Gegenwartsstücken und Komödien leitete. Er formte in dieser Zeit ein Ensemble, zu dem auch bald seine Tochter Susanne gehörte. Schauspieler, wie Michael Degen, Klausjürgen Wussow, Franz Kutschera, Eduard von Winterstein und Ernst Legal, Gudrun Genest, Steffie Spira und Manja Behrens prägten sein Ensemble oder wurden von ihm geprägt und begannen hier beeindruckende Laufbahnen. Klaus Bölling, der spätere Regierungssprecher, begann als rechte Hand bei Wisten und verkehrte freundschaftlich in dessen Haus. 1954 übernahm Wisten die wiederaufgebaute Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, um für Brechts Berliner Ensemble Platz zu machen. Auch hier blieb er sich in seiner Grundausrichtung treu, bot sorgfältig vorbereitete Klassikerinszenierungen, leicht wirkende Komödien, sowie ambitionierte Gegenwartsstücke, darunter viele Uraufführungen. Die Gründung des Theaters im 3. Stock als Experimentierbühne war damals eine Pioniertat. Immer wieder setzte sich Wisten auch mit dem Nationalsozialismus auseinander, wie z.B. in seiner letzten Inszenierung der „Ravensbrücker Ballade“ von Hedda Zinner, die in seiner Regie am 6. Oktober 1961 ihre Uraufführung erlebte. Am 13.August 1961, noch vor der Premiere, war mit dem Bau der Mauer die Teilung der Stadt bald unüberwindbar. Wisten samt einer Reihe Schauspielerinnen und Schauspielern, darunter die ebenfalls in dem Stück beschäftigte Tochter Susanne Wisten-Weyl, wohnten in West-Berlin. Mit der Begründung, Grenzschwierigkeiten der Westberliner Seite könnten die Premiere gefährden, wurden die Schauspielerinnen umbesetzt. Wisten, damals schon schwer erkrankt, betrat nach der Premiere sein Theater nicht wieder. Er starb in Berlin-Schlachtensee.
Trude Wisten wurde postum von der Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechte der Völker“ geehrt. An den „Stuttgarter“ Wisten erinnert seit 2007 eine Staffel in Stuttgart-West und an den „Berliner“ Wisten seit Juni 2014 eine Gedenktafel an jenem Peter-Behrens-Haus in Berlin-Schlachtensee, wo Wisten mit seiner Familie seit 1933 gewohnt hatte.
Quellen: Akademie d. Künste, Berlin, Fritz-Wisten-Archiv; Sammlung Jüd. Kulturbund, Akademie d. Künste, Berlin.
Werke: (Auswahl) Märkisches Wandertheater, Berlin: Derwisch in Lessings „Nathan der Weise“ (6.11.1912); Stadttheater, Kattowitz, Orest in Goethes „Iphigenie“ (5.11.1913) u. Tasso in Goethes „Torquato Tasso“ (7.1.1914); Stadttheater, Eisenach: Schiller in „Die Karlsschüler“ von Heinrich Laube (25.3.1916), Hamlet in Shakespeares „Hamlet“ (2.4.1916), Wastl u. erste Regie in „Der G’wissenswurm“ von Ludwig Anzengruber (26.7.1916) u. Fiesko in Schillers „Die Verschwörung des Fiesko zu Genua“ (9.11.1917); Deutsches Theater, Stuttgart: Sohn in „Der Sohn“ von Reinhard Sorge (22.10.1919), 3. Arbeiter in „Gas“ von Georg Kaiser (2.12.1919), Friedrich in „Die Wandlung“ von Ernst Toller (28.1.1920), Regie für „Der Scheiterhaufen“ von August Strindberg (2.3.1920); Volksbühne Stuttgart: Carlos in Schillers „Don Carlos“ (19.12.1920), Macbeth in Shakespeares „Macbeth“ (1.2.1921), Mephisto in Goethes „Faust“ (27.4.1921), Franz Moor in Schillers „Die Räuber“ (11.6.1921), Holl in „Wer ist schuldig“ von Franz Grillparzer mit Trude Widmann (25.6.1921), Jedermann in „Jedermann“ von Hugo von Hofmannsthal (3.7.1921); Württ. Landestheater, Stuttgart: Spiegelmensch in „Der Spiegelmensch“ von Franz Werfel (15.10.1921) u. Morgenfeier zum Schiller-Geburtstag (6.12.1921); Bürgermuseum, Stuttgart: Lesung Moderne Lyrik (9.12.1921); Württ. Landestheater, Stuttgart: Wurm in Schillers „Kabale u. Liebe“ (29.1.1922), Marquis in „Der Marquis von Keith“ von Frank Wedekind (3.12.1922), Jago in Shakespeares „Othello“ (1.12.1923), Lamparter in „Der arme Konrad“ von Friedrich Wolf (14.2.1924), Mephisto in Goethes „Faust II“ (12.4.1924); Süddeutscher Rundfunk, Stuttgart: Rezitation zur Eröffnungsfeier (11.5.1924); Württ. Landestheater, Stuttgart: Limo in „Limo, der große beständige Diener“ von Alphons Paquet (15.6.1924, Uraufführung), Bettler, Reisender in „Die Sündflut“ von Ernst Barlach (27.9.1924, Uraufführung), Gustav in „Gustav III.“ von August Strindberg (29.11.1924, Uraufführung); Central-Verein dt. Staatsbürger Jüd. Glaubens, Stuttgart: Lesung aus Dichtungen dt. Juden unserer Zeit, wie Werfel, Wassermann, Mombert u.a. (29.1.1925); Württ. Landestheater Stuttgart: Vater in „Sechs Personen suchen einen Autor“ von Luigi Pirandello (20.3.1925), Bonaparte in „Bonaparte“ von Bernhard Blume (20.2.1926, Uraufführung), Zar Paul in „Der Patriot“ von Alfred Neumann (20.11.1926, Uraufführung); Caliban in „Der Sturm“ von William Shakespeare (19.2.1927), Galy Gay in „Mann ist Mann“ von Bertolt Brecht (25.6.1927), Lomm in „Die Zeche zahlt Koritke“ von Friedrich Wolf (5.11.1927), Sprecher in „König David“, Oratorium von Arthur Honegger (4.12.1927); Stadtkirche, Ludwigsburg: Rezitation u. künstl. Leitung in „Athalia“, Oratorium von Felix Mendelssohn-Bartholdy (1.6.1928); Württ. Landestheater, Stuttgart: Richard in Richard III. von William Shakespeare (16.6.1928), Flint in Kolonne Hund von Friedrich Wolf (23.2.1929), Ödipus in Sophokles’ König Ödipus (26.3.1929), Gessler in Schillers „Wilhelm Tell“ (8.5.1929), Napoleon in „Napoleon oder die hundert Tage“ von Christian Dietrich Grabbe (30.11.1929), Fiesko in „Die Verschwörung des Fiesko zu Genua“ von Friedrich Schiller (3.5.1930), Ein Nigger in „Schatten über Harlem“ von Ossip Dymow (18.10.1930), Hauptmann in „Der Hauptmann von Köpenick“ von Carl Zuckmayer (26.4.1931), Shylock in „Der Kaufmann von Venedig“ von William Shakespeare (12.12.1931); Berliner Theater, Berlin: Derwisch in Lessings „Nathan der Weise“ (1.10.1933, Eröffnungsvorstellung des Jüd. Kulturbundes), erste Regie im Jüd. Kulturbund für „Man kann nie wissen“ von George Bernard Shaw (3.12.1935); Theater in der Kommandantenstraße, Berlin: letzte Rolle als Sprecher u. Regie für „Das Gericht“ von Schulamith Bat Dori (8.5.1938); Deutsches Theater, Berlin: Regie für Lessings „Nathan der Weise“ (7.9.1945); Hebbel-Theater, Berlin: Regie für Professor Mamlock von Friedrich Wolf (9.1.1946); Deutsches Theater, Berlin: Regie für „Der Snob“ von Carl Sternheim (3.5.1946); Theater am Schiffbauerdamm, Berlin: Regie d. Eröffnungsvorstellung „Maschenka“ von Alexander N. Afinogenow (9.8.1946); Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin: Regie d. Eröffnungsvorstellung für Schillers Wilhelm Tell (21.4.1954) u. letzte Regie für „Ravensbrücker Ballade“ von Hedda Zinner (6.10.1961, Uraufführung).
Nachweis: Bildnachweise: Foto (o. J.), in: Baden-Württembergische Biographien 6, S. 514 – Werfel, Franz, „Der Spiegelmensch“, UA Stuttgart 1921, Foto: o. A. – Mit Trude Widmann in „Wer ist schuldig?“ von Franz Grillparzer, (Stuttgart 1921, Foto: A. Böcker), mit Max Marx, beide Landestheater Stuttgart, bei einer Rundfunkaufnahme d. Süddeutschen Rundfunk AG, Stuttgart (ca. 1924, Foto: Wilhelm Walz), als König Ödipus von Sophokles mit dem Regisseur Friedrich Brandenburg auf d. Generalprobe (Stuttgart 1929, Foto: Willy Balluff )in „Kolonne Hund“ von Friedrich Wolf (UA Stuttgart 1929, Foto: Willy Balluff ).

Literatur: (Hgg.) Heinrich Goertz, Roman Weyl, Komödiantisches Theater. Fritz Wisten u. sein Ensemble, 1957; (Hg.) Akademie d. Künste Berlin, Fritz Wisten. Drei Leben für das Theater. Stuttgart 1919–1933 – Jüdischer Kulturbund – Berlin 1945–1962, 1990; Stephan Dörschel, Fritz Wisten. Bis zum letzten Augenblick – ein jüd. Theaterleben, 2009.
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