Wolf, Markus Johannes 

Andere Namensformen:
  • Michael Storm
Geburtsdatum/-ort: 19.01.1923;  Hechingen
Sterbedatum/-ort: 09.11.2006; Berlin
Beruf/Funktion:
  • Stellvertretender Minister für Staatssicherheit und Leiter der Hauptverwaltung A dieses DDR-Ministeriums
Kurzbiografie:

1933–1945 Emigration mit der Familie in die Schweiz, dann nach Frankreich, seit April 1934 Sowjetunion, sowjetischer Staatsbürger von 1936 bis 1949/50

1940–1942 Studium an der Hochschule für Flugzeugbau in Moskau und Alma Ata

1942–1943 Besuch der Komintern-Schule in Kuschnarenkowo bei Ufa unter dem Decknamen „Kurt Förster“

1943–1945 Mitarbeiter beim „Deutschen Volkssender“ in Moskau als Redakteur, Sprecher und Kommentator

1945 Rückkehr nach Deutschland im Mai 1945 als sowjetischer Staatsbürger

1945–1949 Mitarbeiter beim Berliner Rundfunk (Pseudonym: Michael Storm), 1945/46 Berichterstatter beim Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess

1949–1951 Rat in der Diplomat. Mission der DDR in Moskau

1951–1952 Stellvertretender Leiter der III. Hauptabteilung (Informationsauswertung) des „Instituts für wirtschaftswissenschaftliche Forschung“ (Tarnbezeichnung des außenpolitischen Nachrichtendiensts der DDR und Vorläufer der Hauptverwaltung A des MfS)

1952–1986 Leiter der für die Auslandsspionage zuständigen Hauptverwaltung A des MfS bzw. ihrer Vorläuferinstitutionen

1953–1986 Stellvertretender Staatssekretär bis 1955, dann stellvertretender Minister für Staatssicherheit

1986 XI 15 im Rang eines Generaloberst aus dem aktiven Dienst ausgeschieden

1986–2006 Publizistische und andere Tätigkeiten

1990–1991 Flucht in die Sowjetunion, dann Rückkehr nach Deutschland und elf Tage Untersuchungshaft

1993 Verurteilung wegen Landesverrats und Bestechung zu sechs Jahren Haft, Urteil aufgehoben

1997 Rechtskräftige Verurteilung zu zwei Jahren Haft auf Bewährung und Geldstrafe wegen Freiheitsberaubung, Nötigung und Körperverletzung

Weitere Angaben zur Person: Religion: keine Religionszugehörigkeit
Auszeichnungen: Ehrungen (Auswahl): Medaille „Für hervorragende Arbeit im Großen Vaterländischen Krieg“ (1945); Medaille „Kämpfer gegen den Faschismus“ (1958); Banner der Arbeit, Stufe I (1959, 1985); Ehrenmitarbeiter der Staatssicherheit der UdSSR (1963); Medaille für treue Dienste der NVA in Gold (1966 und 1971); Scharnhorst-Orden (1967); Vaterländischer UdSSR-Verdienstorden in Gold (1969); Rotbanner-Orden (1973 und 1985); Kampforden „Für Verdienste um Volk und Vaterland“ in Gold (1973 und 1979); Karl-Marx-Orden (1974 und 1986); Medaille für Waffenbrüderschaft in Gold (1975); UdSSR-Orden der Völkerfreundschaft (1975); Ehrenspange zum Vaterländ. Verdienstorden in Gold (1977); UdSSR-Orden des Roten Arbeiterbanners (1980); Generalsdolch mit Gravur (1986).
Verheiratet:

I. 1944 (Moskau) Emmi, geb. Stenzer (geb. 1923), gesch. 1976;

II. 1976 (Frankfurt/Oder) Christa, geb. Heinrich (geb. 1943), gesch. 1986;

III. 1987 Andrea, geb. Stingl (geb. 1947)


Eltern:

Vater: Friedrich (1888–1953), Arzt und Schriftsteller

Mutter: Else, geb. Dreibholz (1898–1973)


Geschwister:

Konrad (1925–1982), Filmregisseur und Präsident der Akademie der Künste der DDR, und 5 Halbgeschwister aus anderen Verbindungen des Vaters: Johanna Wolf-Gumpold, verh. Rathgeber (geb. 1915), Lukas (1919–2010), Lena, geb. Rayß, verh. Simonowa (geb. 1934), Catherine (Katrin), geb. Herrmann, verh. Gittis (1940–1988) und Thomas Naumann (geb. 1953)


Kinder:

4; aus I. Michael (geb. 1946), Tatjana, verh. Trögel (geb. 1949) und Franz (geb. 1953); aus II. Alexander Marco (geb. 1977) und Stieftochter Claudia, geb. Schimpf, gesch. Wall (geb. 1969)

GND-ID: GND/118854925

Biografie: Georg Herbstritt (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 7 (2019), 571-576

34 Jahre lang leitete Wolf die Auslandsspionage der DDR. Innerhalb der Stasi und ihrer Führungsriege bildete er mit seiner Biographie eine Ausnahme. Als einer der Wenigen kam er nicht aus einfachen Verhältnissen, sondern stammte aus einer bekannten Akademikerfamilie und legte daher ein anderes, intellektuelles Erscheinen und Auftreten an den Tag. Auch daraus speiste sich sein Mythos nach 1989. Obwohl er in der DDR, wo er die längste Zeit seines Lebens verbrachte, eine hochrangige Funktion bekleidete, sprach er von seiner Herkunft gerne von seiner „schwäbischen Heimat“ und von der Sowjetunion als seiner „zweiten Heimat“.

Wolf wurde 1923 in Hohenzollern geboren, seine Eltern stammten aus dem Rheinland. Sein Vater, der die Weltsicht seiner Söhne nachhaltig prägte, praktizierte als Arzt für Naturheilverfahren, war sozialkritischer Schriftsteller und als Mitglied der KPD exponierte sich der aus einer jüdischen Familie stammende Mann gesellschaftlich und politisch. Nachdem die Familie 1927/28 nach Stuttgart gezogen war, besuchte Wolf dort von 1929 bis 1933 die reformpädagogisch ausgerichtete „Schieker-Schule“ am Kräherwald und wurde „Junger Pionier“ der „Internationalen Arbeiterhilfe“.

Nach der NS-„Machtergreifung“ 1933 floh die Familie auf Umwegen in die Sowjetunion. In Moskau kam Wolf mit vielen Familien deutscher kommunistischer Emigranten zusammen, ging hier von 1934 bis 1937 auf die deutschsprachige Karl-Liebknecht-Schule, dann bis 1940 auf die russische Fridtjof-Nansen-Schule. Sein Studium des Flugzeugbaus musste er 1942 kriegsbedingt abbrechen. Er wurde 1942/43 auf der Komintern-Schule ideologisch geschult und auf einen Einsatz hinter den feindlichen Linien vorbereitet. Während sein Bruder Konrad damals als Soldat in der Roten Armee kämpfte, erhielt Wolf 1943 eine Aufgabe als Redakteur beim „Deutschen Volkssender“ in Moskau, dem Sender der Exil-KPD. Als Redakteur hatte er regelmäßig Kontakt zur Führungsgruppe der KPD um Walter Ulbricht (1893–1973), Wilhelm Pieck (1876–1960) und Anton Ackermann (1905–1973), die ab 1945 in der SBZ/DDR die Politik bestimmten.

Ende Mai 1945 kam Wolf nach Berlin und arbeitete auf Weisung Ulbrichts als Redakteur beim „Berliner Rundfunk“, wo er u. a. politische Tageskommentare sprach. Zugleich war er Zensor und Kontrolleur, denn er gehörte als Sowjetbürger einer Kontrollgruppe der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland an. Im Oktober 1949 wurde Wolf in den diplomatischen Dienst der neu gegründeten DDR berufen und im November 1949 im Rang eines 1. Rates an die diplomatische Mission der DDR in Moskau entsandt. Worin dort seine Tätigkeit bestand, geht weder aus Akten der SED und des MfS noch aus denen des DDR-Außenministeriums hervor.

Im Sommer 1951 erhielt Anton Ackermann, Staatssekretär im DDR-Außenministerium und Kandidat des Politbüros des ZK der SED, von den Sowjets den Auftrag, in der DDR einen außenpolitischen Nachrichtendienst aufzubauen. Er überbrachte im August 1951 Wolf die Anweisung, in diesen Dienst einzutreten, der offiziell am 1. September 1951 unter der Tarnbezeichnung „Institut für wirtschaftswissenschaftliche Forschung“, IWF, seine Arbeit aufnahm, im Sommer 1953 als „Hauptabteilung XV“ in den Staatsicherheitsdienst der DDR eingegliedert wurde und seit 1956 die Bezeichnung „Hauptverwaltung A“ trug. Wolf stieg als stellvertretender Leiter einer Hauptabteilung in das IWF ein und übernahm schon im Dezember 1952 die Leitung des gesamten Dienstes, die er bis November 1986 innehatte.

Kennzeichnend für die Gründung aller Geheimdienste im sowjetischen Machtbereich nach 1945 war es, dass es sich um faktische Filialgründungen der sowjetischen Geheimdienste handelte, welche anfangs unmittelbar von den Sowjets gesteuert wurden und bis 1989 in einem Unterordnungsverhältnis zum „großen Bruder“ verblieben. Die Sowjets achteten darauf, ihre Vertrauensleute in wichtigen Positionen zu platzieren; das waren Menschen, die schon vor 1945 für sowjet. Stellen tätig waren oder die in der Sowjetunion gelebt hatten. Auch Wolf war ein Mann der Sowjets, der bis zum Schluss Rückendeckung aus Moskau bekam und daher im MfS eine unangreifbare Position hatte. Wolf hatte sich zudem als linientreues Parteimitglied bewährt. Als ab Ende der 1940er Jahre, in den letzten Jahren der Herrschaft Stalins also, erneut Parteisäuberungen stattfanden und Agentenhysterie um sich griff, positionierte Wolf sich mitunter denunziatorisch gegen diejenigen, die vermeintlich von der Parteilinie abgewichen waren. Er funktionierte auf diese Weise, obwohl er als Heranwachsender in Moskau in seinem nächsten persönlichen Umfeld die Folgen des „Großen Terrors“ der Jahre 1936 bis 1938 mitbekommen hatte und in seinem im März 1989 erschienenen Buch „Die Troika“ schrieb, er habe damals in Moskau „Willkür, Ungerechtigkeit und Grausamkeit“ erlebt.

Wolf übernahm die Leitung der DDR-Auslandsspionage nicht nur aus Pflichtgefühl und Gehorsam, sondern ihn reizten auch die damit verbundenen Aufgaben und Möglichkeiten. Zugleich erwies er sich als äußerst befähigt für diese Aufgabe. Er brachte Intellekt, Ehrgeiz und analytisches Denken mit sowie die Begabung, Menschen für sich einzunehmen. Hinzu kam seine Eitelkeit. Seine Strategie, Ziele langfristig im Blick zu behalten und sich vorrangig auf wichtige Einrichtungen in Politik, Militär, Wirtschaft und Sicherheitsbehörden der Bundesrepublik zu konzentrieren, trugen zu seinen geheimdienstlichen Erfolgen bei. Die HV A profitierte in ihrer Arbeit von dem Umstand, dass sie integraler Bestandteil des MfS war und ihr daher die Ressourcen des gesamten Geheimdienstapparats zur Verfügung standen. Auch die Situation der deutschen Teilung vereinfachte die Arbeit der HV A außerordentlich. Mit der Bundesrepublik teilte die DDR Sprache, Kultur und Geschichte, es gab millionenfache Verbindungen zwischen Menschen aus beiden deutschen Staaten, die die HV A für ihre Zwecke ausnutzen konnte, und die Bundesrepublik hielt ihre Grenzen zur DDR immer offen. Da die DDR in der Bundesrepublik die längste Zeit keine diplomatische Vertretung unterhalten durfte, fehlte die sonst übliche Basis für die Spionagetätigkeit. Die HV A hielt die Verbindung zu ihren inoffiziellen Mitarbeitern, IM, im Westen über Kuriere aufrecht und organisierte regelmäßige Treffen von West-IM mit ihren Führungsoffizieren in der DDR oder in Drittstaaten. Das ließ sich relativ unauffällig durchführen und trug zur engeren Anbindung der West-IM an die HV A bei. Wolf behielt diese Methode auch nach der internationalen diplomatischen Anerkennung der DDR bei.

Wolf betonte immer wieder, dass er die direkte Begegnung mit Menschen der Schreibtischarbeit vorzog, und war an der Führung wichtiger West- IM persönlich beteiligt. Mit dem Westberliner FDP-Landesvorsitzenden und Bundestagsabgeordneten William Borm (1895–1987), IM „Olaf“, führte er lange politische Debatten und redigierte - eigenen Angaben zufolge - den Manuskriptentwurf von Borms Rede, die dieser 1969 als Alterspräsident zur Eröffnung des 6. Bundestages hielt. Mit dem SPD-Bundestagsabgeordneten Gerhard Flämig (1919–2011), IM „Walter“, traf er sich an der bulgarischen Schwarzmeerküste, zur Segeltour auf der Ostsee, in Ungarn und offenbar auch am Lagerfeuer in der Sowjetunion. Mit der BND-Mitarbeiterin Gabriele Gast (geb. 1943), IM „Gisela“, unternahm er eine Kutschfahrt mit Picknick in Thüringen und servierte ihr selbst zubereitete russische Spezialitäten. Den bayerischen SPD-MdL Friedrich Cremer (1920–2010), IM „Becker“, traf er 1978 in Stockholm, womit nur einige Beispiele angeführt sind.

Insgesamt gelang es der HV A im Laufe der Zeit, ein effizientes Agentennetz in der Bundesrepublik zu schaffen und regelmäßig hochwertige und geheime Informationen aus vielen wichtigen Bereichen zu erlangen. Die Enttarnung des Referenten im Kanzleramt Günter Guillaume (1927–1995), IM „Hansen“, im April 1974 führte der Öffentlichkeit vor Augen, wie tief die HV A in die bundesdeutschen Machtstrukturen eingedrungen war. Die Agentenkarriere des Ehepaares Christel (1927–2004), IM „Heinze“ und Günter Guillaume waren zugleich ein Beispiel für die zielstrebige und langfristig angelegte Arbeit der HV A; denn bereits 1956 wurde das Ehepaar in die BRD übergesiedelt und arbeitete sich erfolgreich nach oben.

Dass Bundeskanzler Willy Brandt (1913–1992) die Enttarnung Guillaumes zum Anlass für seinen Rücktritt nahm, war in Wolfs Perspektive paradox. Denn als im April 1972 die CDU/CSU mit einem Misstrauensvotum Brandt stürzen wollte, war es die HV A, die auf Weisung aus Moskau zwei Unionsabgeordnete bestach und damit Brandt die Kanzlerschaft und den Bestand der Ostverträge sicherte. Wolf selbst stand der Ostpolitik Anfang der 1970er Jahre noch ablehnend gegenüber. Doch er hatte Gefallen an der politischen Dimension seiner Tätigkeit.

Wolfs Funktion verlangte ein erhebliches Maß an Skrupellosigkeit, die ihm keineswegs fremd war. Wie selbstverständlich ließ er den Einsatz jener – sinnwidrig als „Romeos“ bezeichneten – Agenten zu, die alleinstehenden Frauen in der Bundesrepublik auf heimtückische Weise ein Liebesverhältnis vortäuschten, um sie geheimdienstlich zu verstricken und auszunutzen. Er forcierte kühl berechnend die „aktiven Maßnahmen“, das Lancieren von Gerüchten und Desinformationen in der BRD. So plante Wolf 1959 eine Diskreditierungskampagne gegen den damaligen Regierenden Bürgermeister von Berlin Brandt mit dem Ziel, ihn wahrheitswidrig als Gestapo-Agenten zu diffamieren und damit politisch auszuschalten. Auf Veranlassung Wolfs wurde ein DDR-Bürger inhaftiert, der als Kronzeuge öffentlich eine entsprechende Aussage machen sollte, sich dafür jedoch als untauglich erwies, weshalb die Kampagne scheiterte. Dagegen sah sich der SPD-Politiker Herbert Wehner (1906–1990) in den 1960er-Jahren tatsächlich einer Rufmordkampagne der DDR ausgesetzt, an der auch Wolf mitwirkte, und in der Wehner Kollaboration mit der Gestapo unterstellt wurde. Wolf schrieb in seinen Memoiren nicht eine Zeile darüber, berichtete aber ausführlich über vertrauliche Kanäle Wehners in die DDR. In den Kampagnen gegen Heinrich Lübke (1894–1972) und Kurt Georg Kiesinger (1904-1988) waren die SED-Agitationsabteilung unter Anleitung des zuständigen Sekretärs im SED-Zentralkomitee Albert Norden (1904–1982) sowie seitens des MfS die dortige Abteilung Agitation und die Hauptabteilung IX/11, die nicht zur HV A gehörten, maßgeblich. Wolf war hier persönlich weniger verstrickt.

Rückblickend gab sich Wolf den Anschein des politisch nachdenklichen Akteurs, der zudem mit der Stasi-Repression im Innern der DDR nichts zu tun gehabt habe. Dem widersprach sogar Wolfs Nachfolger Werner Großmann (geb. 1929), der in seinen Erinnerungen schrieb, dass die HV A selbstverständlich die Inlandsabteilungen des MfS unterstützt habe. Oppositionelle Zweifel habe er bei Wolf nie wahrgenommen. Wolf stand auch der Sicherheitsparanoia des langjährigen Stasi-Ministers Erich Mielke (1907–2000) nicht ablehnend gegenüber.

Zahlreiche Vorgänge unter Verantwortung Wolfs dämpfen den Mythos des durchweg erfolgreichen Geheimdienstes. So attestierte eine Kontrollbrigade des ZK der SED zwar im März 1962 der HV A, sie habe das Verbindungswesen zu ihren West-IM rechtzeitig vor dem Mauerbau in Berlin umgestellt, was der späteren Aussage Wolfs widerspricht, er sei vom Mauerbau völlig überrascht worden. Doch die Kontrollbrigade verlangte von Wolf, seine Mitarbeiter besser zu qualifizieren und zu kontrollieren, und sie erinnerte nochmals an die Flucht von vier HV A-Mitarbeitern vor dem Mauerbau, womit die Spionagetätigkeit gegen die CDU/CSU einen Rückschlag erlitten hatte. In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre enttarnte die Spionageabwehr der Bundesrepublik in der Aktion „Anmeldung“ durch systematische Analyse eine Reihe West-IM der HV A. Im Januar 1979 floh der HV A-Offizier Werner Stiller (1947–2016) in die BRD, woraufhin zahlreiche weitere West-IM enttarnt wurden oder sich in die DDR absetzten. Im März 1979 veröffentlichte der „Spiegel“ auf seinem Titel ein Foto Wolfs, das die schwedische Spionageabwehr 1978 bei einem Treffen mit Friedrich Cremer aufgenommen hatte. Wolf hatte seine Schwedenreise zu auffällig geplant und Regeln der Konspiration ignoriert, so dass die schwedischen Behörden argwöhnisch geworden waren. Solche Rückschläge brachten Wolf gegenüber Stasi-Minister Mielke in die Defensive. 1980 traf der HV A-Mitarbeiter Werner Teske (1942–1981) Vorbereitungen zur Flucht in den Westen, ohne seinen Plan durchzuführen. Dennoch wurde er zum Tode verurteilt und am 26. Juni 1981 hingerichtet. Rückblickend erklärte Wolf, dieses Urteil sei „juristisch nicht zu rechtfertigen“, doch setzte er sich damals nicht für seinen Mitarbeiter ein.

1983 hatte Wolf als anerkannter Kämpfer gegen den Faschismus mit 60 Jahren das Rentenalter erreicht und übergab die Amtsgeschäfte schrittweise seinem langjährigen Stellvertreter Großmann, der 1986 die Leitung der HV A komplett übernahm. Wolf begründete seinen vergleichsweise frühen Rückzug u. a. mit dem Wunsch, das Buchprojekt „Die Troika“ seines 1982 verstorbenen Bruders Konrad fortzuführen. Rückblickend behauptete er, schon seit längerem an der Sinnhaftigkeit der Spionagetätigkeit gezweifelt zu haben, da die von der HV A beschafften Informationen keinen positiven Einfluss auf die Politik der DDR-Führung gehabt hätten. Stasi-Minister Erich Mielke, zu dem Wolf ein absolut loyales, wenn auch distanziertes und von Abneigung geprägtes Verhältnis hatte, nahm womöglich Wolfs Privatleben zum Anlass, ihn 1986 endgültig aus dem Dienst zu entlassen. Trotzdem blieb Wolf in die HV A eingebunden. Er übernahm fortan die Aufgabe, die Geschichte der HV A zu dokumentieren. Die HV A stellte ihm hierfür Arbeitsräume sowie innerhalb ihrer Abteilung XIX zwei ständige Mitarbeiter zur Verfügung, bei Bedarf auch Schreibkraft und Fahrer. Wolf behielt die Zutrittsberechtigung für Dienstgebäude des MfS bzw. der HV A, den Zugriff auf HVA-Akten sowie die Zugehörigkeit zur SED-Parteiorganisation der HV A.

Im März 1989 erschien in beiden deutschen Staaten Wolfs Buch „Die Troika“ nach einer Idee Konrad Wolfs. Darin wurden einige Verbrechen des Stalinismus angesprochen, nebenbei auch die Ausbürgerung des DDR-Liedermachers Wolf Biermann 1976 hinterfragt. So konnte sich Wolf in der Wendezeit als politischer Reformer profilieren. Am 4. November 1989 sprach er auf Einladung Berliner Künstler auf der Großdemonstration auf dem Alexanderplatz, gab sich als Anhänger der sowjetischer Reformpolitik zu erkennen und verwahrte sich zugleich dagegen, dass die MfS-Mitarbeiter nun zu „Prügelknaben der Nation“ gemacht würden. Am 3. Dezember 1989 wurde Wolf Mitglied des Arbeitsausschusses zur Vorbereitung des außerordentlichen SED-Parteitags, der am 8./9. und 16./17. Dezember 1989 stattfand. Wolf nahm anschließend davon Abstand, in die Politik zu gehen, blieb jedoch bis an sein Lebensende Mitglied der SED/PDS bzw. der Linkspartei.

Die Bundesanwaltschaft, die bereits im Frühjahr 1989 ein Ermittlungsverfahren gegen Wolf eingeleitet und im Juni 1989 einen Haftbefehl erwirkt hatte, erhob im September 1992 Anklage gegen Wolf wegen seiner geheimdienstlichen Tätigkeit. Wolf war im September 1990 geflohen, kehrte ein Jahr später aber zurück und stellte sich der Justiz. Vergeblich hatte er sich zuvor für eine generelle Straffreistellung der innerdeutschen Spionage eingesetzt, die auch von der damaligen Bundesregierung in Betracht gezogen war. Das Urteil des OLG Düsseldorf vom 6. Dezember 1993 zu sechs Jahren Haft wurde nicht vollstreckt und am 18. Oktober 1995 vom Bundesgerichtshof aufgehoben. Denn am 15. Mai 1995 hatte das Bundesverfassungsgericht entschieden, es gebe „unmittelbar von Verfassungswegen ein Verfolgungshindernis“ hinsichtlich derjenigen Personen, die als DDR-Bürger nur vom Boden der DDR oder anderer, sicherer Drittstaaten aus Spionage gegen die Bundesrepublik betrieben hatten. Damit entsprach es der Auffassung Wolfs, dass er sich als Leiter der HV A selbstverständlich an den Normen der DDR und nicht am Grundgesetz zu orientieren hatte. Am 27. Mai 1997 wurde Wolf vom OLG Düsseldorf rechtskräftig wegen mehrerer Fälle von Freiheitsberaubung, Nötigung und Körperverletzung zu einer Bewährungsstrafe verurteilt, für die er nachgewiesenermaßen unmittelbare persönliche Verantwortung getragen hatte. Wolf bezeichnete vor Gericht die Strafverfahren gegen ihn als „politische Verfahren“, räumte aber im Oktober 1997 in einem Interview ein, dass die Wiedervereinigung für ihn „relativ glimpflich“ ausgegangen sei.

Wolf pflegte nach 1990 das künstlerische Erbe seines Vaters und seines Bruders, er eignete es sich beinahe an, und bemühte sich in Publikationen, Lesungen und Interviews, seine Arbeit und die der HV A in ein positives Licht zu rücken. Schwächen und Schattenseiten ließ er unerwähnt oder spielte sie herunter, so dass seine Darstellungen lückenhaft blieben und manches verschleiern. Wolf starb im Alter von 83 Jahren in Berlin.

Quellen:

Bundesbeauftragter für Stasi-Unterlagen (BStU), MfS, KS 60003/90, Kaderakte Markus Wolf; BStU, MfS, AOP 22623/91, Vorgang „Fuchs“, der i. Überwachungsakte des MfS zu Wolf, überwiegend Kopien von Briefen an Wolf aus dem Jahr 1989 mit Bezug zu dessen Buch „Die Troika“ sowie Zeitungsberichte zur „Troika“; BStU, MfS, HA IX/11, SV 258/87, Zusammenstellung einiger (auto)biografischer Dokumente von und über Markus Wolf, bes. die Zeit bis 1945 betr.; OLG Düsseldorf, Erstinstanzliches Urteil gegen Markus Wolf vom 6.12.1993, Az. IV–40/92 (8/92 VS-Geheim), und Urteil nach Zurückweisung des OLG Düsseldorf vom 27.5.1997, Az. VII–1/96 (1/96 VS-Geheim), beide veröffentlicht in: Klaus Marxen, Gerhard Werle (Hg.), Strafjustiz und DDR-Unrecht. Dokumentation. Band 4: Spionage, 2004, 4–153 und 164–197.

Werke: (Auswahl) „Menschen, ich hatte euch lieb, seid wachsam!“ Erinnerungen an Robert Korb, Vorwort von Markus Wolf, 1985; Die Troika. Geschichte eines nichtgedrehten Filmes. Nach einer Idee von Konrad Wolf, 1989; In eigenem Auftrag. Bekenntnisse und Einsichten, 1991; Geheimnisse der russischen Küche, 1995; (zus. mit Anne MacElvoy) Man without a face. The autobiography of communism’s greatest spymaster, 1997; Spionagechef im geheimen Krieg. Erinnerungen, 1997; Günther Drommer (Hg.), Die Kunst der Verstellung. Dokumente, Gespräche, Interviews, 1998; Freunde sterben nicht, 2002.
Nachweis: Bildnachweise: Foto (1970) S. 573, aus der Kaderakte Wolfs, BStU, MfS, KS 60003/90, Bl. 1.

Literatur:

(Auswahl) Irene Runge, Uwe Stelbrink, Markus Wolf: “Ich bin kein Spion”. Gespräche mit Markus Wolf, 1990; Maurice Najman, Markus Wolf. L’ oeil de Berlin. Entretiens de Maurice Najman avec l’expatron des services secrets est-allemands, 1992; Alexander Reichenbach, Chef der Spione. Die Markus -Wolf-Story, 1992; Wladimir Krjutschkow, Der Internationalist Markus Wolf, in: Deutschland Archiv 1994, H. 8, 894–896; Karl Wilhelm Fricke, Markus Wolf (*1923). Drei Jahrzehnte Spionagechef des SED-Staates, in: Dieter Krüger (Hg.), Konspiration als Beruf, 2003, 284–309; Hans-Dieter Schütt, Markus Wolf Letzte Gespräche, 2007; Helmut Müller-Enbergs: Hauptverwaltung A, 2011; Jens Gieseke, Wer war wer im Ministerium für Staatssicherheit, 2012; Andrea Wolf (Hg.): Mischa. Briefe und Texte von Markus Wolf an die Familie, seine Freunde und Weggefährten, 2013; Nicole Glocke, Peter Jochen Winters: Im geheimen Krieg der Spionage. Hans-Georg Wieck (BND) und Markus Wolf (MfS). Zwei biografische Porträts, 2014; Andrea Wolf, Hans-Dieter Schütt (Hgg.): Und die Menschen verändern sich. Briefe an Markus Wolf 1934–2006, 2016.

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