Hesse, Konrad 

Geburtsdatum/-ort: 29.01.1919; Königsberg
Sterbedatum/-ort: 15.03.2005;  Freiburg im Breisgau
Beruf/Funktion:
  • Verfassungsrechtler, Richter des Bundesverfassungsgerichts
Kurzbiografie: 1925–1929 Volksschule Breslau
1929–1937 Gymnasium Breslau bis Abitur
1937–1939 Arbeits- u. Wehrdienst
1939–1945 Kriegsdienst bei d. Panzerjäger Abt. 28, Einsätze in Polen, Frankreich u. an d. Ostfront, zuletzt als Hauptmann
1946–1950 Studium d. Rechtswiss. in Göttingen
1950 Promotion zum Dr. iur. bei Rudolf Smend: „Der Gleichheitsgrundsatz im Staatsrecht“
1952–1956 Referent am Kirchenrechtl. Institut d. Ev. Kirche in Deutschland, EKD, in Göttingen
1955 Habilitation für Staats-, Verwaltungs- u. Kirchenrecht in Göttingen: „Der Rechtsschutz durch staatl. Gerichte im kirchlichen Bereich“
1956 Lehrstuhlvertretung im SS in Frankfurt am M., ab WS 1956/57 o. Professor in Freiburg im Br.
1959 Ruf an die Univ. München
1961–1975 Richter im Nebenamt am Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in Mannheim
1965 Ruf an die Univ. Bonn
1968–1976 Vorsitzender des Schiedsgerichtshofs d. EKD
1975 XI. 7–1987 VII. 16 Richter des Bundesverfassungsgerichts, Erster Senat
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Auszeichnungen: Ehrungen: Dr. h.c. d. Univ. Zürich (1983) u. Würzburg (1989); Korr. Mitglied d. Bayer. Akademie d. Wissenschaften (2003)
Verheiratet: 1949 (Speyer) Ilse, geb. Krahl
Eltern: Vater: Albert (1876–1965), Professor für Volkswirtschaftslehre in Königsberg, Breslau u. Speyer
Mutter: Dorothea, geb. Deuticke (1885–1972)
Geschwister: 2; Christa u. Renate
Kinder: 2;
Regine (geboren 1952), verh. mit Dr. Bernd Fricke,
Albrecht (geboren 1956), Dr. iur., Justitiar des Bayer. Rundfunks, Honorarprofessor d. Univ. München
GND-ID: GND/118908464

Biografie: Alexander Hollerbach (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 5 (2013), 167-169

Von 1920 an hat Hesse Kindheit und Jugend in Breslau verbracht. Sein Vater wirkte dort als Universitätsprofessor. Schlesien war zwar nicht die angestammte Heimat der Familie, der Vater kam aus Halle. Die Verbundenheit dorthin blieb aber lebendig und wurde bestärkt durch Hesses Frau, die in Breslau beheimatet war.
Abiturient des Jahrgangs 1937 hat Hesse mit vielen seiner Generation das gleiche Schicksal geteilt: Unmittelbar nach Erfüllung der Arbeitsdienst- und Wehrpflicht hatte er ab September 1939 Kriegsdienst zu leisten. Er gehörte der Panzertruppe an und war an verschiedenen Kriegsschauplätzen eingesetzt, ausgezeichnet mit dem Deutschen Kreuz in Gold. Eine Verwundung trug dazu bei, dass er das Kriegsende nicht im Osten erleben musste. Nach kurzer amerikanischer Kriegsgefangenschaft konnte er bald mit dem Studium der Rechtswissenschaft in Göttingen beginnen. Entscheidende Prägung erfuhr er dort durch Rudolf Smend, den Schöpfer der sogenannten Integrationslehre im Staatsrecht und Repräsentanten einer sogenannten geisteswissenschaftlichen Richtung in der Jurisprudenz, der Hesse einen vertieften Zugang zu Verfassungsgeschichte und Verfassungsrecht, aber auch zum Kirchen- und Staatskirchenrecht erschloss. Die Dissertation über den Gleichheitsgrundsatz im Staatsrecht und die Habilitationsschrift über den Rechtsschutz durch staatliche Gerichte im kirchlichen Bereich geben Zeugnis davon. Überdies war Hesse in seiner Tätigkeit als Referent im Kirchenrechtlichen Institut der EKD mit konkreten Fragen des Kirchen- und Staatskirchenrechts befasst, zu denen beratend oder als Gutachter Stellung zu nehmen war.
Schon ein Jahr nach der Göttinger Habilitation rückte Hesse mit seiner Berufung nach Freiburg – sie beendete dort eine lange Sedisvakanz – in den vollen Rechts- und Pflichtenstatus eines Ordinarius für Öffentliches Recht ein. Er hat ihn trotz ehrenvoller Rufe nach München und Bonn bis zu seiner Emeritierung beibehalten.
Im wissenschaftlichen Wirken Hesses – soweit es sich in Publikationen niederschlug – lassen sich vier Phasen unterscheiden: In höchster Konzentration auf Wesentliches und allenthalben auf Prägnanz bedacht, erarbeitete er sich zunächst eine verfassungstheoretisch fundierte Konzeption vom geltenden Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland. Dem dienten Abhandlungen, die allesamt programmatischen Charakter hatten, so insbesondere seine Freiburger Antrittsvorlesung „Die normative Kraft der Verfassung“, ebenfalls 1958 das Staatsrechtslehrerreferat „Die verfassungsrechtliche Stellung der politischen Parteien im modernen Staat“, 1962 „Der unitarische Bundesstaat“ und zwei Jahre darauf „Freie Kirche im demokratischen Gemeinwesen“. Zugleich waren dies Bausteine für eine Gesamtdarstellung, die – wissenschaftlich ein Ereignis ersten Ranges – 1967 unter dem Titel „Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland“ erschienen ist. Erstmals verfügte man damit über eine rechtsdogmatisch anspruchsvolle Analyse des geltenden Verfassungsrechts, der eine theoretische Konzeption zugrunde lag. Diese hat ihr Zentrum in der These von der korrelativen Zuordnung von Wirklichkeit und Norm sowie dem Gedanken von der Einheit der Verfassung, bei deren Auslegung und Anwendung die Maxime von der „praktischen Konkordanz“ maßgebend ist. Dabei war Hesse die Stärkung der Normativität der Verfassung ein besonderes Anliegen. Er war allerdings davon überzeugt, dass dies nur gelingt, wenn bei allen Beteiligten der „Wille zur Verfassung“ das Handeln bestimmt. Besonders charakteristisch für diese erste Schaffensphase ist, dass die Werkstatt der Erarbeitung dieser Konzeption außer dem häuslichen Schreibtisch und der streng systematischen Vorlesung das regelmäßig am Donnerstag stattfindende abendliche Seminar war, in dem die maßgebenden Teilstücke der Gesamtthematik erörtert wurden. Das „Hesse-Seminar“ gewann rasch Reputation und wurde zur Pflanzstätte von etlichen Dissertationen und Habilitationsschriften.
Eine zweite Phase reichte von 1967 bis 1975. Sie war zunächst gekennzeichnet durch die intensive Weiterarbeit an und mit den „Grundzügen“. In dieser Zeitspanne waren in rascher Folge sieben Neubearbeitungen bzw. Neuauflagen fällig. Hier ging es vor allem darum, den Entwicklungen des Verfassungsrechts Rechnung zu tragen, insbesondere in Gestalt der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, und das Buch – bei im Wesentlichen gleichbleibendem Umfang – inhaltlich anzureichern und à jour zu halten. Daneben sind auch immer wieder Abhandlungen von großem Gewicht erschienen, so 1973 „Grenzen des Verfassungswandels“ und „Bundesstaatsreform und Grenzen der Verfassungsänderung“, „Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und Religionsgemeinschaften“ 1974 und „Bemerkungen zur heutigen Problematik und Tragweite der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft“ 1975. In diese Phase fiel auch eine von Hesse schon vorher begonnene Nebentätigkeit an der „Front“ der Justiz, nämlich als Richter im Nebenamt beim Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in Mannheim.
Eine dritte Phase in der beruflichen Biographie Hesses setzte mit seiner im September 1975 erfolgten Wahl zum Richter des Bundesverfassungsgerichts ein. Obwohl parteilos – oder gerade deshalb! – wurde er von der damals regierenden sozialliberalen Koalition vorgeschlagen. Zwölf Jahre lang hat Hesse zunächst unter dem Vorsitz von Ernst Benda (1925–2009), dann ab 1984 von Roman Herzog die Rechtsprechung des Ersten Senats maßgebend mitgeformt. Sein intensives Bemühen um Zusammenarbeit und Konsensbildung wird gerühmt. Deshalb kommt es nicht von ungefähr, dass es von ihm kein veröffentlichtes Sondervotum gibt. Als Dezernat war ihm der Bereich des Artikels 5 des Grundgesetzes zugewiesen, also der Grundnorm für die Meinungs-, Presse- und Rundfunkfreiheit. Hier kann man seinen prägenden Einfluss etwa an den Leitentscheidungen zum Saarländischen Rundfunkgesetz (BVerfGE 57, 295), zum Niedersächsischen Rundfunkgesetz (BVerfGE 73, 118) und zum Landesmediengesetz Baden-Württemberg (BVerfGE 74, 297) erkennen. Dabei ging es um die nähere Umschreibung der Aufgaben und der Organisation der staatsunabhängigen öffentlich-rechtlichen Anstalten mit ihrem Auftrag der medialen „Grundversorgung“ einerseits, der Rechte und Struktur des privaten Rundfunks andererseits. In ganz besonderer Weise trägt das wegweisende Mitbestimmungsurteil vom 1. März 1979 (BVerfGE 50, 290) seine Handschrift. Mit Hans-Joachim Faller hat er, so wird berichtet, den maßgebenden Entwurf zum Urteil vom 16. Oktober 1977 im Entführungsfall Hanns-Martin Schleyer verfasst (BVerfGE 46, 160). In seiner Karlsruher Zeit trat die schriftstellerische Tätigkeit naturgemäß etwas zurück. Immerhin darf etwa an die maßgebende Mitarbeit am „Handbuch des Verfassungsrechts“ erinnert werden. Nicht zuletzt wurde er durch den Bestseller-Erfolg seiner „Grundzüge“ in Atem gehalten. In dieser Zeit erschienen weitere sieben Auflagen.
Das Ende der Karlsruher Tätigkeit als Richter und die Emeritierung als Universitätsprofessor fielen 1987 zeitlich nahezu zusammen. Doch zog sich Hesse nicht völlig zurück. In einer ganzen Reihe von wichtigen Aufsätzen hat er wissenschaftliche Erkenntnisse und praktische Erfahrungen verarbeitet und sich weiterhin um das Profil der „Grundzüge“ bemüht. Eine 20., neu bearbeitete Auflage erschien 1995. Sie sollte nach seinem ausdrücklichen Wunsch die letzte bleiben. In dieser Schlussphase seines Wirkens hat er mit zunehmender Deutlichkeit und Ernüchterung den Prozess der Europäisierung beobachtet und analysiert und so die tiefgreifende Veränderung der politischen und verfassungsrechtlichen Lage bewusst gemacht. Es wurde auch immer deutlicher erkennbar, eine wie starke Resonanz Hesses Wirken und Werk im Ausland erfuhr, vermittelt durch zahlreiche Übersetzungen seiner Arbeiten.
Als Universitätslehrer wie als Verfassungsrichter gehört Hesse zu den herausragenden und prägenden Persönlichkeiten der Nachkriegszeit. Er ist damit auch Repräsentant einer Generation, der es vergönnt war, nach kriegsbedingter Verzögerung der Ausbildung maßgebend zum Aufbau und zur Befestigung der rechtsstaatlich-demokratischen Ordnung unseres politischen Gemeinwesens beizutragen. Sein Wirken und sein Werk haben nicht zuletzt deswegen besondere Überzeugungskraft, weil Hesse in hohem Maße menschliche Qualitäten wie Lauterkeit und Bescheidenheit, Noblesse und Liebenswürdigkeit vorbildlich verkörperte.
Quellen: UA Freiburg, Personalakten Hesse u. Lehrstuhlakten B 28/236.
Werke: Bibliographie Konrad Hesse, hg. von P. Häberle u. A. Hollerbach, 1999. – Auswahl: Grundzüge des Verfassungsrechts d. Bundesrepublik Deutschland, 1. Aufl. 1967, 20. Aufl. 1995; Ausgewählte Schriften [Hesses], hgg. von P. Häberle u. A. Hollerbach, 1984; Verfassung u. Verfassungsrecht, Die Verfassungsentwicklung seit 1945, Bedeutung d. Grundrechte, in: Handb. des Verfassungsrechts d. Bundesrepublik Deutschland, hgg. von E. Benda, W. Maihofer u. H.-J. Vogel, 2. Aufl. 1994, 3-17, 35-52, 127-160.
Nachweis: Bildnachweise: A des Bundesverfassungsgerichts, Bildersammlung.

Literatur: Konrad Hesse. Akademische Feier zum 80. Geburtstag, dokumentiert von P. Häberle u. A. Hollerbach, 2000. – Nachrufe: Th. Würtenberger, Freiburger Universitätsbll. H. 169, 2005, 91f.; P. Häberle, Archiv des öff. Rechts 130, 2005, 289-293; Zs. für ev. Kirchenrecht 50, 2005, 569-574; H. Goerlich, Sächs. Verwaltungsbll. 2005, 223-225. – Würdigungen: Th. Oppermann, Das Bundesverfassungsgericht u. die Staatsrechtslehre, in: FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, hg. von P. Badura u. H. Dreier, Bd. 1, 2001, 434-438; E. Benda, Konrad Hesse: Bundesverfassungsrichter 1975–1987, in: Jb. des öff. Rechts 55, 2007, 509-514; Peter Lerche, Europ. Staatsrechtslehrer: Der Wissenschaftler Konrad Hesse, ebd. 455-461; A. Rinken, Die „Grundzüge „ von Konrad Hesse als Lehrbuch, in: Jb. des öff. Rechts 57, 2009, 527-530; R. Geitmann, Die „Grundzüge des Verfassungsrechts“ von Konrad Hesse im Wandel ihrer Auflagen, ebd. 531-535; G. Herbert, Die „Grundzüge“ u. ihre Wirkungen in d. Rechtsprechung, ebd. 537-543; P. Häberle, Die „Grundzüge“ u. ihre Rezeption im Ausland, ebd. 545-548; M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 4. Bd. 1945–1990, 2012, 427 u. 489ff.; H. Wissmann, Konrad Hesse – Religion im freiheitlichen Verfassungsstaat. Eine biograph. Skizze, in: Thomas Holzner/Hannes Ludyga (Hgg.), Entwicklungstendenzen des Staatskirchen- u. Religionsverfassungsrechts, 2013, 571-585.
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