Treutlein, Peter Joseph 

Geburtsdatum/-ort: 26.01.1845;  Wieblingen/Heidelberg
Sterbedatum/-ort: 26.07.1912;  Karlsruhe
Beruf/Funktion:
  • Mathematikdidaktiker, Reformpädagoge
Kurzbiografie: 1862-1866 Studium der Mathematik und der Naturwissenschaften an der Universität Heidelberg, u. a. bei Ludwig Otto Hesse und Moritz Cantor (Mathematik), bei Gustav Robert Kirchhoff (Physik) und Robert Wilhelm Bunsen (Chemie) und bei Hermann von Helmholtz (Allgemeine Naturwissenschaften)
1866-1912 Lehrer und Schulleiter in Karlsruhe, seit 1894 als Direktor eines Realgymnasiums, seit 1896 als Direktor eines Realgymnasiums mit Gymnasialabteilung, seit 1908 als Direktor eines Reformgymnasiums (heute Goethegymnasium Karlsruhe)
1868 Ernennung zum Professor
1908 Mitglied des Deutschen Ausschusses für den mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht (DAMNU) und der Internationalen mathematischen Unterrichtskommission (IMUK)
Weitere Angaben zur Person: Religion: rk.
Verheiratet: 1869, Barbara, geb. Heß (1848-1933)
Eltern: Vater: Joseph Treutlein (1811-1884), Lehrer
Mutter: Sophie Josephine, geb. Ballweg (1817-1850)
Geschwister: 7
Kinder: 3:
Lina, verheiratete Sternberg
Else, verheiratete Zimmermann
Dr. Hermann Treutlein, Beigeordneter der Stadt Krefeld
GND-ID: GND/118983091

Biografie: Jürgen Schönbeck (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 4 (1996), 296-298

Die Familie Treutlein – bis 1862 auch Träutlein oder Traeutlein geschrieben und aus dem mainfränkischen Gebiet um Würzburg stammend – ist seit Mitte des 18. Jahrhunderts in der Markgrafschaft bzw. dem Großherzogtum Baden ansässig. Schon der Vater von Peter Treutlein, Joseph Treutlein, war Lehrer – im Nebenamt auch Organist und Küster, seit 1842 in Wieblingen, seit 1853 in Neuenheim, heute ein Stadtteil von Heidelberg. Kindheit und Jugend, die oft von wirtschaftlicher Not gezeichnet waren, erlebte Treutlein also im Heidelberger Raum.
Seinem Vater verdankte Treutlein die Grundlagen einer umfassenden Allgemeinbildung, welche die Kenntnis alter und neuer Sprachen einschloß, und seinen akademischen Lehrern an der Universität Heidelberg eine ausgezeichnete mathematisch-naturwissenschaftliche Ausbildung, die ihn im Bereich der Mathematik schon früh mit der neuen projektiven Geometrie und mit der Mathematikgeschichte in Berührung brachte.
Kaum 21jährig, 1866, wurde Treutlein Lehrer in der badischen Residenzstadt Karlsruhe, wo er bald einer der eifrigsten und erfolgreichsten Mitarbeiter von Gustav Wendt wurde. Hier fand er die ihm angemessene Betätigung und seine eigentliche Lebensaufgabe: als begeisterter Erzieher und Lehrer, als engagierter und fortschrittlicher Pädagoge, als einflußreicher Schulpolitiker und Bildungsreformer, der sich insbesondere aktiv in die Auseinandersetzungen zwischen Anhängern humanistischer und realistischer Bildungsströmungen einschaltete.
Treutlein hatte erkannt, daß die klassische Humboldtsche Bildungstheorie, die bildende Wirkung vor allem von der Beschäftigung mit den alten Sprachen erhoffte, nicht mehr alleinige Grundlage eines höheren Schulwesens sein könne; stattdessen gelangte er zu der Überzeugung, daß eine moderne Allgemeinbildung sich auch auf naturwissenschaftliche und neusprachliche Ausbildung gründen müsse. Diese Thesen entwickelte Treutlein in einer vom Allgemeinen Deutschen Realschulmänner-Verein 1888 ausgezeichneten Schrift, die er 1900 zusammen mit F. Pietzker veröffentlichte, und in der er im Sinne der Formaltheorie argumentiert, der neuen Bildungslehre der höheren Schule in Deutschland. Zugleich vertrat er den politischen Standpunkt, daß jedem Menschen – unabhängig von sozialer Herkunft oder wirtschaftlicher Lage, allein nach Maßgabe seiner Begabung und Leistung – der Zugang zu allen Bildungseinrichtungen offen stehen müsse. Diese beiden Ideen, die mit den Vorstellungen von Bildungseinheit und Einheitsschule verbunden sind und sich auch aus Treutleins Biographie erklären lassen, wurden kennzeichnend für seine schulpolitische und bildungsreformatorische Tätigkeit. Sie fand, äußerlich erkennbar, ihren Höhepunkt in der von ihm betriebenen Gründung der Karlsruher Goetheschule, eines Realgymnasiums mit Gymnasialabteilung, zu dessen erstem Direktor Treutlein als einer der bedeutsamsten badischen Schulmänner berufen wurde.
Über die Landesgrenzen hinaus bekannt wurde Treutlein vor allem als Mathematikdidaktiker und Mathematikhistoriker. Einerseits vertrat er schon vor der Jahrhundertwende Ideen zur Durchführung und Gestaltung von Mathematikunterricht, wie sie dann 1905 in den Meraner Vorschlägen von der Unterrichtskommission der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte erarbeitet wurde und für die wesentlich Felix Klein mitverantwortlich war. Andererseits hat Treutlein vor allem zur Geometrie und zum Geometrieunterricht weitreichende und noch heute aktuelle Anregungen gegeben. Bleibende Verdienste sind mit seinem systematischen Lehrbuch der Elementargeometrie (1881 ff.), zusammen mit seinem Heidelberger Kollegen J. Henrici erarbeitet, verbunden, mit seinem didaktisch-methodischen Hauptwerk zum geometrischen Anschauungsunterricht (1911) und mit seiner aus langjähriger täglicher Unterrichtspraxis entstandenen Modellsammlung, an der teilweise sein früherer Schüler Hermann Wiener, der Begründer der Spiegelungsgeometrie, mitgewirkt hatte. Daß Wiener ein Schüler von Treutlein ist, war bisher nicht bekannt. Treutlein war wohl der erste, der – unabhängig von, aber ganz im Sinne des Erlanger Programms von Felix Klein (1872) – systematisch den Abbildungsgedanken und die Ideen der projektiven Geometrie, die zu einem neuen ontologischen Verständnis von Geometrie führten, für die Schulmathematik fruchtbar machte und der insbesondere für einen propädeutischen Geometrieunterricht sich einsetzte: sein „Geometrischer Anschauungsunterricht“ ist noch heute eine Fundgrube für jeden Geometrielehrer.
Treutlein hat sich schließlich ausführlich mit der Entwicklung des Unterrichtswesens und mit der Geschichte seines Faches beschäftigt. Als Forscher auf diesem Gebiet fühlte er sich dem Heidelberger Mathematikhistoriker Moritz Cantor und dessen kulturhistorischem Ansatz verpflichtet. Aber auch hier erwies Treutlein sich vor allem als Lehrer und Erzieher. Eigene Unterrichtserfahrungen führten ihn dazu, Mathematikgeschichte als Unterrichtsgegenstand für den Mathematikunterricht vorzuschlagen. Ein entsprechender, fachübergreifender Unterricht sollte jedenfalls das Ziel verfolgen, Mathematik als Teil der Kulturgeschichte erfahrbar zu machen. Über diese inhaltliche Bestimmung hinaus aber sah Treutlein in der Beschäftigung mit der Mathematikgeschichte eine pädagogische Aufgabe: weil letztlich die geschichtliche Erkenntnis der Selbsterkenntnis des Menschen dient. Hinter dieser Auffassung verbirgt sich auch Treutleins Zuversicht in die Entwicklung der Wissenschaft.
Treutlein war eine herausragende geradlinige Persönlichkeit, einflußreich als Lehrer und Forscher, ein temperamentvoller Pädagoge von hohem Geselligkeitsbedürfnis – ein Wissenschaftler, dessen Leben unter dem selbstgewählten Motto stand: Where there is a will – there is a way!
Quellen: Nachlaß im Privatbesitz G. Treutlein (Heidelberg).
Werke: (Auswahl) Geschichte unserer Zahlzeichen u. Entwicklung d. Ansichten über dieselben, 1875; Das Rechnen im 16. Jh., in: Abh. Gesch. Math. 1, 1877; Die dt. Coss, in: Ebd. 2, 1879; Der Traktat des Jordanus Nemorarius „De numeris datis“, in: Ebd. 2, 1879; Lehrbuch d. Elementar-Geometrie, zus. m. J. Henrici, 3. Bde, 1881 ff.; Das geschichtl. Element im math. Unterricht d. höheren Lehranstalten, 1890; Der Zugang zu d. gelehrten Berufsarten, zus. m. F. Pietzker, 1900; Der geometr. Anschauungsunterricht als Unterstufe e. zweistufigen geometr. Unterrichtes an unseren höheren Schulen, 1911; Verzeichnis von H. Wieners und P. Treutleins Sammlung math. Modelle f. Hochschulen, höhere Lehranstalten u. techn. Fachschulen, zus. m. H. Wiener, 1911.
Bibliographien u. Zusammenstellungen in: Poggendorff III, 1898; IV, 1904; V, 1925, II. Abt.; VIIa, 1962, Teil 4; W. Behm, 1912; J. Schönbeck, 1985 (auch nichtmath. Veröff.); J. Schönbeck, 1994.
Nachweis: Bildnachweise: Fotos bei W. Behm, 1912; P. Stäckel, 1912; J. Schönbeck, 1994; Bronzebüste (ca. 30 cm hoch) im Goethegymnasium Karlsruhe.

Literatur: W. Behm, P. Treutlein, in: ZmnU 43, 1912, 521-530; P. Stäckel, P. Treutlein, in: Jber. DMV 21, 1912, 384-386; R. Eickhoff, Geheimrat Treutlein †, in: Blätter f. höheres Schulwesen 29. Jg. (1912), 893 f.; E. Lentz, Treutlein †, in: Zs. f. die Reform d. höheren Schulen 24 Jg. (1912), 49-51; E. Rebmann, P. Treutlein †, in: Südwestdt. Schulblätter 30. Jg. (1913), 1-4 (Sonderabdruck); J. Schönbeck, P. Treutlein (1845-1912) u. d. Entwicklung d. geometr. Propädeutik, in: P. Treutlein, Der geometr. Anschauungsunterricht, 1985, E5-E15; ders., Der Mathematikdidaktiker P. Treutlein, in: J. Schönbeck u. a. (Hg.), Der Wandel im Lehren u. Lernen von Math. u. Naturwissenschaften, Bd. I Mathematik, 1994, 50-72; G. Becker, Das Unterrichtswerk „Lehrbuch d. Elementar-Geometrie“ von J. Henrici und P. Treutlein – Entstehungsbedingungen, Konzeption, Wirkung, in: J. Schönbeck, 1994, 89-112.
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