Rohrmoser, Günter 

Geburtsdatum/-ort: 29.11.1927; Bochum
Sterbedatum/-ort: 15.09.2008;  Stuttgart
Beruf/Funktion:
  • Philosoph
Kurzbiografie: 1931–1944 Schulzeit in Bochum
1947–1954 Studium in Münster
1954 Promotion bei Benno von Wiese: „Kritische Erörterungen zu Gundolfs Shakespeare-Bild unter d. Kategorie d. Geschichte u. d. Person“
1961 Habilitation an d. Phil. Fakultät d. Univ. Köln: „Subjektivität u. Verdinglichung. Theologie u. Gesellschaft im Denken des jungen Hegel“
1961–1976 o. Professor für Philosophie an d. PH Münster/Westf., später Westfalen-Lippe, Abt. Münster II; gleichzeitig Privatdozent, dann Honorarprofessor an d. Univ. Köln
1976 Persönl. Ordinarius an d. Univ. Hohenheim, bis SS 1996 auch Lehrtätigkeit für Polit. Philosophie an d. Univ. Stuttgart
1979 mit Hans Filbinger Gründer des Studienzentrums Weikersheim; dessen Vizepräsident
1981 Privataudienz bei Papst Johannes Paul II.
1995 Aufenthalt in Moskau. Langjährige akad. Kooperation mit d. Russischen Akademie d. Wissenschaften
1995 Emeritierung, Fortsetzung d. Lehrveranstaltungen bis zu seinem Tod
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.-luth
Verheiratet: 1957 (Münster) Anna-Maria, geb. Heumann (1927–2004), Dr. phil., Germanistin
Eltern: Vater: Emil Otto (1888–1958), Schriftsetzer
Mutter: Louise, geb. Bartelewski (1890–1957), Hausfrau, Tochter des Carl Bartelewski u. d. Anna Bartelewski, geb. Tilienski
Geschwister: keine
Kinder: 2, bald nach d. Geburt verstorben
GND-ID: GND/119114917

Biografie: Harald Seubert (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 6 (2016), 412-417

Rohrmoser wurde in den letzten Kriegsjahren noch als Flakhelfer in seiner Heimatstadt Bochum eingesetzt. Von 1947 bis 1954 studierte er dann in Münster Philosophie, Theologie, Geschichte, Germanistik und Nationalökonomie. Seine akademischen Lehrer waren unter anderem Alfred Müller-Armack, der Theologe und Religionswissenschaftler Carl Heinz Ratschow und der Germanist Benno von Wiese. Den philosophisch zentralen Einfluss übte Joachim Ritter auf Rohrmoser aus, zu dessen legendärer Schule neben H. Lübbe, O. Marquard, Rohrmoser Spaemann und dem bedeutenden Verfassungsrechtler E. W. Böckenförde auch Rohrmoser gehörte. Bei Benno von Wiese promovierte Rohrmoser 1954 mit einer germanistisch-anglistischen Arbeit zu Gundolfs Shakespeare-Bild unter der Kategorie der Geschichte und der Person, in der er Shakespeare geschichtsphilosophisch und vor dem epochalen Umbruch der frühen Neuzeit interpretierte und gegen das übergeschichtlich zeitenthobene Shakespeare-Bild Gundolfs setzte, das noch vom George-Kreis inspiriert war. Die interdisziplinäre Fragestellung macht diese Arbeit hochinteressant; bemerkenswert ist auch, dass von Wiese und Ritter die Bestnote gaben, die Anglisten hingegen die philologische Seite der Arbeit scharf kritisierten.
An die Promotion schloss sich ein DFG-Stipendium an, mit dessen Hilfe Rohrmoser maßgeblich am Abschluss der großen Schiller-Monographie Benno von Wieses mitwirkte. 1961 folgte die Habilitation unter der Ägide von Ludwig Landgrebe an der Universität Köln mit einer dichten, aber sehr knapp gehaltenen Arbeit über Theologie und Gesellschaft im Denken des jungen Hegel, die später auch in andere Sprachen übersetzt wurde. Sie konzentrierte sich auf Hegels ‚Theologische Jugendschriften‘, entwickelte aber im Kern schon Rohrmosers Grundkonzeption, wonach Hegel nach der Aufklärung den Kern der christlichen Glaubenswahrheit, dass Gott Mensch geworden und damit die endliche und die absolute Welt versöhnte, in eine philosophische Begriffsform übersetzt und so der Moderne zugänglich gemacht habe.
Hegel war das Zentralgestirn in Rohrmosers Œuvre. Er bezog sich dabei vor allem auf die „Phänomenologie des Geistes“, die Rechts- und die Religionsphilosophie. An die Rehabilitation Hegels schloss Rohrmoser durch seinen Lehrer Joachim Ritter an, der Hegel als Denker der Freiheit freigelegt und zugleich im sittlichen Staat ein Ordnungsprinzip jener Freiheit formuliert hatte.
In den 1960er-Jahren wirkte Rohrmoser als Privatdozent und später Honorarprofessor in Köln. Dort legte er die Grundlagen für seine fundierte Auseinandersetzung mit den aufkommenden marxistischen Strömungen, insbesondere der Frankfurter Schule. Er hatte seinerzeit bereits einen großen Schülerkreis und mehrere Promovenden, darunter K. M. Kodalle, und erreichte in seinen Vorlesungen bis zu 1000 Hörer. Pläne der sozialdemokratisch geführten Landesregierung, für Rohrmoser ein Persönliches Ordinariat in Köln einzurichten, das vor allem der fundierten philosophischen Auseinandersetzung mit den neomarxistischen Ideologien gewidmet sein sollte, zerschlugen sich wegen Einreden der CDU-Opposition, vor allem aber aufgrund eines Vetos des Heidegger-Schülers Volkmann-Schluck, seinerzeit Ordinarius für Philosophie in Köln.
Bis 1976 wirkte Rohrmoser als Ordinarius für Philosophie an der Pädagogischen Hochschule in Münster/Westfalen. 1976 wurde er an die Universität Hohenheim auf den Lehrstuhl für Sozialphilosophie berufen, der ad personam durch den damaligen Ministerpräsidenten Hans Filbinger eingerichtet worden war. Rohrmosers Berufung zog vehemente Proteste seitens linker Gruppierungen nach sich. Sie war auch im Professorium der Universität umstritten. Ungeachtet der anfänglichen Schwierigkeiten wuchs Rohrmoser wieder eine zahlreiche, begeisterte Hörerschaft zu, die sich vor allem aus dem Stuttgarter Bildungsbürgertum rekrutierte. Rohrmoser wirkte nicht zuletzt durch seine faszinierende Rhetorik: er sprach in seinen Vorlesungen und zahlreichen öffentlichen Vorträgen immer völlig frei, verständlich und nahezu druckreif, in einem kraftvoll mitreißenden, zeitweise explosiven Duktus, wobei er philosophische Interpretation und Kommentar des aktuellen Zeitgeschehens pointiert und souverän zu verbinden wusste. Die äußere Erscheinung Rohrmosers entsprach nicht dem Bild vom bürgerlichen Ordinarius, und auch sein ausladender Intellekt schien eher zu einem linken Theoretiker als zu einem Vordenker des Konservatismus zu passen.
Rohrmoser eröffnete sein eigenständiges Werk mit grundsätzlichen Auseinandersetzungen mit der Frankfurter Schule (Das Elend der kritischen Theorie, 1967), aber auch mit Marx und verschiedenen neomarxistischen Strömungen. Von Hegel her suchte er den Marxismus als Hegel-Apostasie und -häresie und als Reduktion von der Vermittlung in Religion und Philosophie auf Ökonomie und Revolution zu begreifen. Er machte sich dabei die Hegelsche Dialektik zu eigen, und das Niveau seiner Auseinandersetzungen beeindruckte auch linke Theoretiker. Dabei wirkte auch immer seine brillante Vortragsweise. Rohrmoser wich der Fundamentalkritik der linken Studenten nicht aus. Er nahm sie auf und suchte durch den Rekurs auf den „unaufgehobenen Hegel“ die Überzeugungskraft der neuen Linksideologien zu brechen. Seine Kenntnis des Marxismus prädestinierte ihn für eine prägende Wirkung in der Marxismus-Kommission der Evangelischen Kirche in Deutschland. Im „RAF-Jahr“ 1977 wurde Rohrmoser auch in die von der sozialliberalen Bundesregierung eingesetzte Kommission zur Erforschung der Ursachen des Terrorismus berufen. Er legte eine geistesgeschichtliche Analyse der RAF-Ideologie vor, die diese und ähnliche Tendenzen als Epiphänomen der Moderne interpretierte. Persönliche Kontakte und Gespräche fanden in der Zeit der Abkehr Horst Mahlers vom Linksterrorismus statt, wobei sich Mahler zeitweise auf Hegel und nicht zuletzt auf Rohrmosers Hegel-Interpretationen berief. Mahlers späteren Weg in den Rechtsextremismus hat Rohrmoser scharf kritisiert.
Die öffentliche Resonanz Rohrmosers war in jenen Jahren beträchtlich. So war er in den 1970er und 1980er-Jahren als gefragter Vortragsredner bei der SPD wie bei der CDU/CSU, aber auch bei Wirtschaftsverbänden und Akademien präsent. Er galt zu Recht als einer der wenigen konservativen Intellektuellen, die zur Auseinandersetzung mit den damals aktuellen neomarxistischen Strömungen in der Lage waren. Besonders eindrucksvoll sind seine philosophisch geistesgeschichtlichen Lageanalysen und seine Versuche einer Decodierung der Tendenzen der „Achtundsechziger“. In ihnen sah er eine „Kulturrevolution“, der eine geistige und moralische Wende des Bürgertums folgen müsse. Als Berater von Filbinger und Strauß mahnte Rohrmoser diese Wende immer wieder an. Dass sie 1982 mit der Regierungsübernahme Helmut Kohls zwar rhetorisch reklamiert wurde, aber dauerhaft ausblieb, hat Rohrmoser in einem gleichnamigen Buch 1982 als „Debakel“ kommentiert.
Rohrmoser legte am Beginn seiner Hohenheimer Jahre vor allem aktuell fokussierte Beiträge zur philosophischen Gegenwartsanalyse vor. An der Begründung und geistigen Fundierung des Studienzentrums Weikersheim durch Hans Filbinger im Jahr 1979 war Rohrmoser maßgeblich beteiligt. Er wirkte über mehrere Jahre als Vizepräsident und Vordenker des Zentrums. Es ging ihm auch dabei um einen geistig fundierten Konservatismus, der die Kräfte der Moderne analysieren und verstehen kann.
Seine Hohenheimer Vorlesungen erreichten seit den 1980er-Jahren immer stärker das Stuttgarter Bürgertum. In großen Zyklen, die erst teilweise ediert und erschlossen sind, wandte er sich unter anderem Platon und der antiken Philosophie zu, er interpretierte den Zusammenhang zwischen christlichem Glauben und philosophischer Reflexion und zeigte eingehend die tiefen und weitreichenden Prägungen des christlichen Erbes in der Neuzeit. Wiederholt interpretierte Rohrmoser die Hegelsche Religionsphilosophie als mögliche Grundphilosophie des Protestantismus. Damit wirkte er zeitweise erkennbar auf die Theologien von Wolfhart Pannenberg, aber auch von Jürgen Moltmann und Hans Küng wie auf hohe Organe der Kirchenleitungen ein. Rohrmoser machte das Denken Friedrich Nietzsches als Diagnostiker der Moderne lesbar. An Nietzsche entschied sich in Rohrmosers Sicht die Möglichkeit oder Unmöglichkeit modernen Christseins.
Später umkreiste er in philosophischer Perspektive „Deutschlands Tragödie“, die er in der Abkehr von der christlichen Geschichts- und Welterfahrung und im Nihilismus vorgeprägt sah. Rohrmoser betonte – darin im Anschluss an Thomas Mann – dessen Roman „Doktor Faustus“ er eine eingehende Interpretation widmete, dass auf die Dekadenz der Moderne der Rückfall in Barbarei folgen müsse. Verabsolutierte Emanzipation werde, so Rohrmosers Erwartung, in eine Destruktion der Freiheit führen.
Im Umfeld der landwirtschaftlichen Universität Hohenheim dachte Rohrmoser auch – in Übereinstimmung mit Robert Spaemann und im Anschluss an Hans Jonas – fundiert über die ökologische Krise der Moderne nach. Sie war für ihn ein dringendes Desiderat, das der bürgerliche Konservatismus seinerzeit noch nicht erfasst hatte. Gerade darin war Rohrmoser seiner Zeit weit voraus. Während er seine Erwartungen an den Regierungswechsel 1982 nicht zuletzt intellektuell enttäuscht sah, mit dem ehemaligen CDU-Generalsekretär Kurt Biedenkopf aber lebenslang im Gespräch blieb, konstatierte Rohrmoser das Ende der Teilung Deutschlands und Europas mit großer Befriedigung. Doch er blieb dabei nicht stehen. Er knüpfte weitreichende Kontakte nach Russland, wo seine Konzeption Politischer Philosophie eine bedeutende Resonanz erfuhr, die frei von den Rankünen war, wie sie Rohrmoser oftmals in Deutschland entgegenschlugen; seine Hegel-Studien wurden in Frankreich übersetzt und rezipiert. Rohrmoser sah in Russen und Deutschen die beiden „metaphysischen Völker“, wobei dieser Topos bei ihm keine nennenswerte antiwestliche Implikation hat. Die Erwartung einer christlichen Erneuerung knüpfte er vor allem an Russland. Er weilte 1996 in Moskau, wo sich ein Symposion an der Akademie der Wissenschaften seinem Werk widmete; umgekehrt lehrte Anatol Frenkin an Rohrmosers Hohenheimer Lehrstuhl. Die enge Kooperation mit der Sowjetischen und später Russischen Akademie der Wissenschaften hat Rohrmoser mit Unterstützung von Daimler Benz vorangetrieben. Die Sympathien nach Russland waren wechselseitig: bei seinen großen Geburtstagen traten in der Regel russische Laudatoren auf und im 2. Band der „Anthologie des politischen Denkens der Welt“ wurde Rohrmoser neben Max Weber, Jaspers oder Herbert Marcuse eingehend behandelt. Als Versuch einer Zeitdiagnostik auch für das im Umbruch begriffene zerfallende Imperium bleibt das Gespräch mit Frenkin ein bedeutendes Zeitdokument. Mehrfach setzte Rohrmoser in seinen Vorlesungen Hegel und Dostojevski in Bezug zueinander.
1980 wurde Rohrmoser von Papst Johannes Paul II. in Privataudienz empfangen. Das Gespräch behandelte, wie Rohrmoser dem Verfasser berichtete, die Säkularisierung und die Angewiesenheit der Moderne auf die christliche Wahrheit.
Rohrmosers Buch „Der Ernstfall“ (1994) zeigte eindrücklich, dass ein westlicher Liberalismus in dem Augenblick, in dem er seinen bedeutenden weltgeschichtlichen Sieg errungen hat, auch an das Ende seiner Ressourcen gelangt ist. Gegenläufig zu Francis Fukuyamas Diagnose vom „Ende der Geschichte“ und über Huntingtons Befund eines bevorstehenden „clash of civilizations“ hinausgehend sah Rohrmoser die Notwendigkeit einer Fundierung der Fundamente der Freiheit. Mit Hegel hielt er an der Unabdingbarkeit des liberalen Rechtsstaates fest, der aber ein vor-positives Fundament benötige. Den Ernstfall, also die Erschöpfung natürlicher ökologischer und ökonomischer Ressourcen der freiheitlichen Demokratie zu denken, schien ihm unerlässlich, um dieses Fundament zu begründen. Rohrmoser übernahm den „Moderni tätstraditionalismus“ (O. Marquard) seines Lehrers Joachim Ritter mit einer wesentlichen Ergänzung: die moderne Welt gewinnt in Rohrmosers Verständnis ihre normativen Begründungen nicht aus sich selbst. Es bedarf vielmehr der Anknüpfung an die großen Überlieferungen von Kunst, Religion und Philosophie, um die Selbstzerstörungskräfte einer entfesselten Moderne, auf die Rohrmoser nachdrücklich hinwies, einzuhegen. Gerade „Der Ernstfall“ fand noch einmal große Resonanz; so wurde Rohrmoser auch von der SPD nahestehenden Intellektuellen wie Johano Strasser, Peter Glotz und Peter von Oertzen eingehend gewürdigt, war für sie ein wichtiger Gesprächspartner. Von Oertzen, der mit Rohrmoser zusammen der genannten Marxismus-Kommission angehört hatte, nannte Rohrmoser, durchaus im Sinn von dessen Selbstverständnis und ohne Differenzen zu verschweigen, einen Geist „über den ideologischen Fronten“, der gleichermaßen ein „überzeugter Konservativer“ und „leidenschaftlicher Liberaler“, dabei aber „weder Prophet noch Demagoge“ sei.
Im Zentrum von Rohrmosers Spätwerk steht die philosophische Auseinandersetzung mit dem christlichen Erbe Europas. Dabei hat er mit Hegel betont, dass die Deszendenz- und Kenose-Religion (Gott wird in Christus Mensch) zugleich auch Inbegriff einer Vernunft sei, die nicht mit dem endlichen Verstand zu verwechseln ist und die auch nicht in der Hybris der großen Ideologien aufgeht. Zugleich konstatierte er die Problematik des sich selbst säkularisierenden Christentums der Moderne, ausgehend von Diagnosen Nietzsches, Max Webers oder Ernst Troeltschs.
Das lebendige Fundament christlichen Glaubens´fand Rohrmoser insbesondere bei Luther, Augustinus und Paulus. Damit erbrachte er einen eigenständigen Beitrag zu der Religionsphilosophie des Christentums, ausgehend von der Paulinischen Theologie, wie sie in den letzten Jahrzehnten bei Jacob Taubes, Giorgio Agamben, aber auch bei französischen Philosophen wie Michel Henry formuliert werden sollte. Zugleich würdigte er in einer aus Hohenheimer Vorlesungen hervorgehenden Monographie konservatives Denken im Kontext der Moderne und setzte sich dabei unter anderem mit Arnold Gehlen, Leo Strauss und Carl Schmitt auseinander.
Im Lauf seines Lebens hat Rohrmoser in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften in einem breiten Spektrum publiziert. Es reicht von Blättern wie der „Welt“ und des „Münchner Merkur“, den „Ev. Kommentaren“ und verschiedenen katholischen Leitmedien bis zu „Mut“ oder „Junge Freiheit“. Nicht zuletzt war er auch ein gesuchter Interviewpartner. Im letzten Jahrzehnt seines Wirkens verengte sich das Spektrum der Presse, auch aufgrund einiger kolportierter Äußerungen Rohrmosers über Homosexualität und Schwangerschaftsabbruch, auf konservative Publikationsorgane. Er kommentierte bis zu seinem Tod das Zeitgeschehen in eigenen Kolumnen, die die „Gesellschaft für Kulturwissenschaft“ vertrieb.
Rohrmosers große Begabung war es, aus dem Blick der Philosophie die Tiefenstrukturen der Gegenwart zu begreifen. Vergangenes Denken verstand er, darin in Übereinstimmung mit Joachim Ritter, nicht aus dem historischen Abstand. Er richtete daran vielmehr die Frage: „Was gibt uns das zu sehen?“. Der moderne Konservative müsse gleichermaßen vor 2000 Jahren Denk- und Ideengeschichte sich Rechenschaft ablegen und die ökonomischen, sozialen und strategischen Probleme der Gegenwart begreifen können. An binnenkonservativen intellektuellen Debatten war er weniger interessiert. Die Engführung der „Neuen Rechten“ auf die „Konservative Revolution“ der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts, wie sie in der Folge Armin Mohlers in den 1990er-Jahren in den Debatten um die „selbstbewusste Nation“ gängig wurde, lag Rohrmoser fern.
Die fein ziselierten Argumentationslinien lagen weniger in Rohrmosers Interesse als der kongeniale Blick auf Grundlinien und -strukturen von Philosophie, Theologie, Politik und Ökonomie. Auch durch seine Wirkung in Hohenheim bedingt, wo er keine philosophische Fakultät an der Seite hatte, wurde er zu einem Solitär, der völlig unbeeindruckt von Moden seinen philosophischen Weg ging. Ähnlich wie andere Exponenten der Ritter- Schule war auch Rohrmoser davon überzeugt, dass in der Philosophie das Neue selten das Richtige sei. Nicht in systematischer Konstruktion, sondern in einer zu Ende denkenden Interpretation und Rekonstruktion sah er seine Aufgabe. Wie die Festschrift ‚Tamen! Gegen den Strom‘, die Rohrmoser zum 80. Geburtstag gewidmet wurde, belegt, faszinierte sein Denkansatz weit über den engeren Bereich der Philosophie hinaus; dies dokumentierte sich in einer Zeit, in der die große gesamteuropäische Öffentlichkeitswirksamkeit Rohrmosers schon in der Vergangenheit lag. Zahlreiche namhafte Persönlichkeiten dokumentierten durch ihre Beiträge Verbundenheit mit ihm.
Rohrmoser, der überzeugte Lutheraner, wirkte auch in die katholischen Kirche hinein, wie ihn eine langjährige Freundschaft mit dem DDR-Dissidenten Rudolf Bahro verband. Italienische, französische und russische Philosophen rezipierten ihn in höherem Maße als deutsche.
Rohrmoser ist als unzeitgemäßer, in keinen politischen Parteienzusammenhang zu fixierender Geist zu verstehen, der, wie kaum ein anderer, die Krisen der Moderne erkannt hat – und aus dem mit Hegel gedachten – letztlichen Einssein von Glaube und Vernunft schöpfte. In die Irre geht das vielfach gebrauchte Wort vom ‚Sozialphilosophen‘.Rohrmoser bespielte die Klaviatur der Philosophie in ihrer ganzen Breite, mit besonderem Akzent auf Politischer und Religionsphilosophie.
Als Mensch war er bescheiden, aber der Lebensfreude zugewandt, als Freund von hoher Verlässlichkeit, Zuwendung und Loyalität, die er auch umgekehrt erwartete. Der begnadete Polemiker war im Inneren empfindsam und verletzlich. Seine über Jahre hinweg schwer kranke Ehefrau pflegte er hingebungsvoll. Die mitunter harte, polemische Schale wich, wenn man ihn näher kannte: So legte sich gerade für ihn das Bild nahe, das Platon von Sokrates zeichnete: er sei nach außen wie eine Satyrfigur, nach innen aber aus purem Gold gebildet.
Es fügte sich zu seinem Leben, dass Rohrmoser ohne weitere Ansprachen nach evangelisch-lutherischem Ritus bestattet wurde. Neben das Lutherische „TAMEN!“, das er als Lebensmotto gewählt hatte, trat bei ihm das Wissen, dass der Mensch Gerechter und Sünder zugleich ist (‚simul iustus et peccator).
Quellen: Nachlassmaterialien u. Manuskripte in: Bibliothek des Konservatismus Berlin, im Privatbesitz des Verfassers, Nürnberg, u. von Gisela Schenk, Stuttgart; UA Stuttgart-Hohenheim, Personalakte.
Werke: Subjektivität u. Verdinglichung. Theologie u. Gesellschaft im Denken des jungen Hegel, 1961 (französisch 1979); Das Elend d. kritischen Theorie. Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse, Jürgen Habermas, 1970 (4 Auflagen); Nietzsche u. die Folgen d. Emanzipation, 1971; Herrschaft u. Versöhnung. Ästhetik u. die Kulturrevolution des Westens, 1972; Kulturrevolution u. Gewaltmentalität. Der geistige Hintergrund, 1978; Shakespeare. Einführung d. Geschichte, 1971; Die Herausforderung d. Radikalen. Kolumnen, 1973; Die metaphysische Situation d. Zeit, 1975; Zeitzeichen. Bilanz einer Ära, 1978; Zäsur. Wandel des Bewusstseins, 1980; Krise d. polit. Kultur, 1980; Religion u. Politik in d. Krise d. Moderne, 1989; Emanzipation oder Freiheit. Das christl. Erbe d. Neuzeit, 1970, 2. Aufl. 1995; (zus. mit A. Frenkin) Neues konservatives Denken als Überlebensimperativ. Ein deutsch-russischer Dialog, 1994; Der Ernstfall. Zur Krise unserer liberalen Republik, 1994, (5 deutsche u. 4 russische Auflagen); Die Wiederkehr d. Geschichte, 1995; Christliche Dekadenz in unserer Zeit, Plädoyer für die christl. Vernunft, 1996; Landwirtschaft in d. Ökologie- u. Kulturkrise, 1996; Kampf um die Mitte. Der Moderne Konservatismus nach dem Scheitern d. Ideologien, 2000; Geistige Wende. Christliches Denken als Fundament des Modernen Konservatismus, 2000; Nietzsche als Diagnostiker d. Gegenwart, 2000; Deutschlands Tragödie. Der geistige Weg in den Nationalsozialismus, 2002; Dekadenz u. Apokalypse. Thomas Mann als Diagnostiker des dt. Bürgertums, 2005; Konservatives Denken im Kontext d. Moderne. Kulturrevolution in Deutschland. Philosophische Interpretationen d. geistigen Situation unserer Zeit, hgg. von Harald Seubert, 2008; Glaube u. Vernunft am Ausgang d. Moderne. Hegel u. die Philosophie des Christentums, hgg. von dems., 2009. – In Vorbereitung: Moderne u. Christentum, aus dem Nachlass hgg. von Harald Seubert; Platon: Der konservative Revolutionär.
Nachweis: Bildnachweise: Foto (um 2006), in: Baden-Württembergische Biographien 6, S. 416, – Jehle, Hugo – Tamen!, 2007, Frontispiz.

Literatur: Philosoph in d. Kulturkrise, 1993; R. Bahro, Logik d. Rettung, 1990; P. von Oertzen, Weder Prophet noch Demagoge, in: Die Zeit vom 13.1.1995; Ph. Jenninger, R. W. Peter u. H. Seubert (Hgg.), Tamen! Gegen den Strom. Günter Rohrmoser zum 80. Geburtstag, 2007; darin: H. Seubert, Die Krise d. Moderne in Gedanken gefasst – Günter Rohrmoser. Ein philosoph. Portrait, 23-73.
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