Riethmüller, Otto Heinrich 

Geburtsdatum/-ort: 26.02.1889;  Cannstatt (heute Stuttgart-Bad Cannstatt)
Sterbedatum/-ort: 19.11.1938; Berlin-Tiergarten
Beruf/Funktion:
  • Pfarrer, geistlicher Dichter
Kurzbiografie: 1908 Abitur am Gymnasium Cannstatt
1908–1912 Studium der ev. Theologie in Tübingen
1910 Ev. Stift Tübingen
1912 Erste theologische Dienstprüfung in Stuttgart
1912–1913 Pfarrvikar in Stuttgart, Flein und Heilbronn
1915 Zweite theologische Dienstprüfung in Stuttgart
1918/19 Pfarrverweser in Schöntal und Cannstatt (Lutherkirche)
1919–1928 Stadtpfarrer in Esslingen (Südkirche)
1924 Vorstand des Verbands für die weibliche Jugend in Württemberg
1928–1938 Direktor des Ev. Verbandes (Reichsverband) für die weibliche Jugend Deutschlands (Burckhardthaus) in Berlin
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: 1919 Anna, geb. von Heider, aus Stuttgart (1886–1967)
Eltern: Vater: Karl Adolf Riethmüller (1860–1922), Uhrmachermeister in Cannstatt
Mutter: Christiane Katharine, geb. Graser, aus Stuttgart (geboren 1862)
Geschwister: 6: Elisabeth (1895–1972); Martha Maria (1897–1974), Musiklehrerin in Cannstatt; Johann Adolf (geboren 1890), Uhrmachermeister in Stuttgart; Theophil Dietrich (geboren/gestorben 1892); Marie Luise (geboren 1891); Friederike Wilhelmine (geboren 1893)
Kinder: 3:
Helmut (geboren 1923), Theologe, Verlagsdirektor in Stuttgart, u. a. „Das Neue Testament für Menschen unserer Zeit“, 1964 ff.;
Werner Heinz (1921–1979), Architekt in Stuttgart;
Veronika, verh. Hehl (geboren 1925)
GND-ID: GND/119136651

Biografie: Martin Otto (Autor)
Aus: Württembergische Biographien 3 (2017), 190-192

Aus einer alten württembergischen Handwerkerfamilie stammend (der Name bezieht sich auf die Sindelfinger Riedmühle, ältester Namensträger: Benz Riedmüller, aus Aidlingen, 1469 als Bürger in Sindelfingen genannt; direkter Vorfahr: Johann Christoph Riethmüller, 1790 – 1870, Schuster in Kirchheim; seit dessen Sohn Christian Friedrich Riethmüller, 1829 – 1891, ist die Familie in Cannstatt ansässig), wurde Riethmüller durch den Pietismus seines Elternhauses geprägt; die Familie gehörte der „Hahnschen Gemeinschaft“ (Michelianer) an. Als einer der ersten seiner Familie konnte er das Abitur erwerben und studieren; das Theologiestudium in Tübingen stieß auf Vorbehalte in der Familie, die den Einfluss der liberalen Theologie vermuteten. Nachdem 1908 die Bewerbung um ein Stipendium im „Konkurs“ gescheitert war, wurde Riethmüller 1910 in das Tübinger Stift aufgenommen. Er hörte bei den Professoren Paul von Wurster (1860 – 1923), Julius von Grill (1840 – 1930), Karl von Müller (1852 – 1940) und Theodor von Häring (1848 – 1928), fand aber insbesondere in Adolf Schlatter (1852 – 1938) einen wichtigen Lehrer. Aus seinen Kommilitonen ragte Riethmüller bereits während des Studiums heraus. Nach der Ersten theologischen Dienstprüfung wurde er als Vikar nach Flein (Kreis Heilbronn) entsandt; vom Kriegsdienst im Ersten Weltkrieg war er befreit. Nach der Ordination zum Pfarrer 1915 und dem kirchlichen Entsendungsdienst in der Diasporagemeinde Schöntal (Kreis Künzelsau), Heilbronn und an seiner Heimatgemeinde, der Lutherkirche Cannstatt, wurde Riethmüller 1919 auf eine Pfarrstelle in Esslingen am Neckar berufen. Zum Zeitpunkt seiner Berufung besaß Riethmüllers Gemeindebezirk, dessen erster Pfarrer er war, im industriereichen Esslinger Süden (südlich des Neckars) keine feste Predigtstätte; das Gemeindegebiet, die Pliensauvorstadt, ein ehemaliger Weingarten, war (neben einigen Fabrikantenvillen) kleinbürgerlich und proletarisch geprägt, besaß keine gewachsenen kirchlichen Strukturen (bislang von den Esslinger Stadtkirchen versorgte Vorstadt), ein Teil der Einwohner war kirchenfern bei Sympathien bis zur KPD. Es gelang Riethmüller nicht nur, auch in Zusammenarbeit mit seiner Ehefrau als Pfarrfrau, gemeindliche Strukturen aufzubauen, insbesondere auch in der Jugendarbeit (Mädchenbibelkreise); seit 1924 versah Riethmüller im Nebenamt den Vorstand des „Verbandes der weiblichen Jugend Württembergs“. Sichtbares Zeichen der Tätigkeit von Riethmüller war der Bau der Südkirche durch den Architekten Martin Elsässer (1884 – 1957) in einer prägenden Hanglage, die 1926 eingeweiht wurde und bis heute einer der wichtigsten Bauten der Kirchenarchitektur des „Neuen Bauens“ in der gesamten württembergischen Landeskirche und ganz Deutschlands darstellt. Wiederholt nahm Riethmüller Ämter in der württembergischen Landeskirche wahr, so als Synodaler der ersten Kirchenversammlung 1919 in Esslingen-Kirchheim, 1925 bis 1928 als Mitglied der Landeskirchenversammlung für Göppingen und Schriftführer des ersten Landeskirchentages.
Nicht zuletzt aufgrund seiner über Württemberg hinausweisenden Verdienste um die Jugendarbeit wurde Riethmüller 1928 zum Direktor des „Reichsverbandes für die weibliche Jugend“ im „Burckhardthaus“ (benannt nach Pfarrer Johannes Burckhardt, 1853 – 1914) in Berlin-Dahlem berufen. Diese Tätigkeit übte er bis zu seinem Tod aus, daneben versah er ein Pfarramt in der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union. Wie viele evangelische Christen hatte Riethmüller, geprägt durch den Pietismus und die Jugendbewegung, aufgrund seiner Erfahrungen mit antikirchlicher Agitation der Arbeiterparteien Vorbehalte gegen die Weimarer Republik; 1932 warnte Riethmüller vor „übertrieben demokratischen Zuständen“ in der Kirche (zu diesem Zeitpunkt setzten die Nationalsozialisten allerdings noch auf Kirchenwahlen). Äußerungen aus den ersten Jahren nach 1933 deuten darauf hin, daß er wie viele Protestanten die nationalsozialistische Kirchenpolitik und die politische Propagierung eines „positiven Christentums“ falsch einschätzte. Aus heutiger Sicht besonders bedenklich erscheint das 1933 verfasste Lied „Über den deutschen Strom / dröhnen die Glocken vom Dom (Deutschlands Erwachen)“ (bezieht sich aber wohl auf das evangelische Kirchenlied „Wach auf, wach auf du deutsches Land“ von Johann Walter, 1561 , nach Eph. 5, 14), in dem Deutschland als „Hitlerland“ bezeichnet wird; damit ist Riethmüller auch in einem dem Nationalsozialismus, dem Antisemitismus und dem Antijudaismus fernstehenden nationalprotestantischen Milieu kein Einzelfall gewesen.
Seit 1933 Mitglied der Bekennenden Kirche, widersetze sich Riethmüller früh einer Gleichschaltung der evangelischen Jugendarbeit, freilich um den Preis einer „begrenzten Kooperation“ mit dem Staat. Tatsächlich war der Spielraum von Riethmüller aber gering; gleichwohl konnte Riethmüller die Eingliederung der Evangelischen Jugend in die HJ erfolgreich verhindern. Im Mai 1933 gehörte er (neben Hans Lilje, 1899 – 1977, und Walter Künneth, 1901 – 1997) zu den Mitbegründern der „Jungreformatorischen Bewegung“, eines Vorläufers der „Bekennenden Kirche“. 1933 wurde er „Stellvertretender Reichsführer“ des Evangelischen Jugendwerkes, 1935 wurde er Vorsitzender der Jugendkammer der „Bekennenden Kirche“. Er protestierte gegen die Einführung des Arierparagraphen am 6. September 1933 in der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union, der er seit 1928 angehörte. Im November 1933 bat der spätere Bundespräsident Theodor Heuss (1884 – 1963) Riethmüller um Hilfe zugunsten seiner Ehefrau Elly Heuss-Knapp (1881 – 1952), die aufgrund einer politischen Denunziation aus dem Lehrkörper des Burckhardthauses ausscheiden mußte. Eine Antwort ist nicht überliefert. Gemeinsam mit der Oberin des Burckhardthauses, Hulda Zarnack (1883 – 1977), nahm Riethmüller ein erhebliches Risiko auf sich, in dem sie der Geschäftsstelle der Kirchenleitung der „Bekennenden Kirche“ Räumlichkeiten zur Verfügung stellten. Er gehörte zu den Mitgliedern der von Dietrich Bonhoeffer geleiteten deutschen Delegation auf dem ökumenischen Jugendtreffen 1934 auf der dänischen Nordseeinsel Fanö. Am 19. November 1938 verstarb Riethmüller an den Folgen einer Operation aufgrund eines verschleppten Gallenleidens im Elisabethkrankenhaus in Berlin. Riethmüller war seit 1919 mit Anna von Heider verheiratet, der Tochter des württembergischen Oberstleutnants Oskar von Heider aus Ulm und dessen Ehefrau Ida, geborene Fuhrmann. Seine letzte Ruhestätte fand Riethmüller im Familiengrab auf dem Cannstatter Uffkirchhof in Stuttgart. Riethmüllers Grab, geschmückt von einem Weltkugelkreuz und der Inschrift „Herr, wir stehen Hand in Hand“ besteht bis heute.
Besondere Bedeutung besaß Riethmüller als charismatischer Führer der evangelischen Jugendarbeit, dessen Wirkung über ehemalige Mitglieder seiner Bibelkreise bis weit in die Nachkriegszeit eine prägende Bedeutung für einen Teil des deutschen Protestantismus besaß, die bis heute nicht hinreichend erforscht ist. Unmittelbar auf Riethmüller geht das „Kugelkreuz“, seit 1935 bis heute das Symbol der evangelischen Jugendarbeit („Junge Gemeinde“), zurück; auch den Altar der Esslinger Südkirche schmückt es. Eine besondere Bedeutung über das engere kirchliche Milieu kommt Riethmüller als evangelischem Kirchenlieddichter und -komponisten zu. Stilistisch eigenwillig und am ehesten einer Neuromantik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zuzuordnen, begann Riethmüller 1930 als Bearbeiter von Liedern der Böhmischen Brüder. Daneben verfasste er auch musiktheoretische und hymnologische Abhandlungen zu dem zeitgenössischen evangelischen Kirchenlied und illustrierte teilweise auch eigene Werke. Die von ihm herausgegebenen Liederbücher „Der helle Ton“ und „Ein neues Lied“ richteten sich besonders an Jugendliche. 1934 bearbeitete Riethmüller Lieder und Gebete des württembergischen Pietisten Friedrich Christoph Oetinger (1702 – 1782) „für den praktischen Gebrauch“. Bis heute sind zahlreiche Lieder von Riethmüller im „Evangelischen Gesangbuch“ enthalten, darunter das Weihnachtslied „Der Morgenstern ist aufgedrungen“ (1932, EG 69), „Das Wort geht von dem Vater aus“ (1932/32, EG 223), „Sonne der Gerechtigkeit“ (1932, EG 262 / 263) und „Herr, wir stehen Hand in Hand“ (1932). In seiner Eigenschaft als Vorsitzender des „Reichsverbandes für die weibliche Jugend“ bestimmte Riethmüller, der mehrere Bibellesepläne erstellte, 1930 mit Römer 1, 16 erstmals eine „Jahreslosung“; noch zu Lebzeiten von Riethmüller wurde die Auswahl der Jahreslosung durch den 1938 gebildeten „Textplanausschuss“ (seit 1970: Ökumenische Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen) formalisiert und wird bis in die unmittelbare Gegenwart fortgesetzt.
Riethmüller, eine der wichtigen Persönlichkeiten des deutschen und württembergischen Protestantismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ist heute aufgrund seines dichterischen Werkes weiterhin im kirchlichen Leben präsent. Dabei gerät seine Sonderstellung als früh landeskirchliche und konfessionelle Grenzen überwindender Vertreter des württembergischen Pietismus in Vergessenheit, die in diesem Zeitraum noch stärker die Ausnahme war, als dies noch heute der Fall ist.
Quellen: UAT, Landeskirchliches Archiv Berlin, LKAS.
Werke: (Auswahl; eine Bibliographie fehlt) Woher wissen wir, daß Jesus gelebt hat?, 1922; Des Todes Tod. Ein Bibelstudium über die Leidensgeschichte Jesu, 1930, 2. Aufl. 1931; Zielsichere Fahrt. Eine Gabe für junge Menschen, 1931; Sein Reich komme, 1931; Lukaspassion. Für Sing- und Sprechchor, 1932; Martin Luthers Ruf an die deutsche Nation, 1933; Mit Gott wirken. Friedrich Christoph Oetingers Gebete, 1934; Wehr und Waffen. Lieder der kämpfenden Kirche, 1935; Evangelische Jugendführung heute, 1936; Heut und morgen und am dritten Tag. Stätten der Christustaten, 1937; Wahrheit und Mythus in der Erziehung, 1937.
Nachweis: Bildnachweise: Fotografie (s/w) bei Ehmer/Kammerer.

Literatur: Zu Lobe seiner Herrlichkeit. Erinnerungen an Otto Riethmüller, 1940; Wilhelm Niemöller, Lebensbilder aus der Bekennenden Kirche, 1949; Emil Lauxmann, Otto Riethmüller. Sein Leben und sein Wirken, 1959; Manfred Priepke, Die evangelische Jugend im Dritten Reich, 1960, 6, 177; Dietrich Bonhoeffer, Gesammelte Schriften, Bd. 1, 1965, 226 f., 264; Friedrich Zipfel, Kirchenkampf in Deutschland, 1965, 33, 111, 340, 374; Eberhard Bethge, Dietrich Bonhoeffer, 2. Aufl. 1967, 332; Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. 1, 1977, 457, 459; Hans-Rainer Sandvoss, Widerstand in Steglitz und Zehlendorf, 1986, 23; Kurt Rommel, Menschen, Kirchen, Anekdoten. Entdeckungen in unseren württembergischen Gemeinden, 1987, 70-73; Martin Rößler, Liedermacher im Gesangbuch. Bd. 3: Christian Fürchtegott Gellert, Ernst Moritz Arndt, Albert Knapp, Otto Riethmüller, Jochen Klepper, 1991; Martin Kreder/Kurt Riedmüller, Stammliste Riethmüller, 1996, insb. 187; Heike Wasmuth, Otto Riethmüller, in: RGG, Bd. VII, 2004, 515; Hermann Ehmer/Hansjörg Kammerer, Biographisches Handbuch der Württembergischen Landessynode, 2005, 300; Andreas Knoll/Frauke Velden-Hohrath/Daniel Hohrath/Christian Ottersbach/Achim Dürr, Die Südkirche in Esslingen, 2006; Ernst Klee, Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, 2007, 486-487; Elke Seefried (Hg.), Theodor Heuss in der Defensive. Briefe 1933 – 1945, 2009, 195 f.; Matthias Biermann, „Das Wort sie sollen lassen stahn …“ Das Kirchenlied im „Kirchenkampf“ der Evangelischen Kirche 1933 – 1945, 2011, 363 f.; Johannes Wahl, Otto Riethmüller, in: Volker Henning Decroll/Juliana Baur/Wolfgang Schöllkopf (Hg.), Stiftsköpfe, 2012, 351-358.
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