Naumann, Nelly 

Andere Namensformen:
  • Naumann, Maria Thusnelda
Geburtsdatum/-ort: 20.12.1922;  Lörrach
Sterbedatum/-ort: 29.09.2000;  Freiburg im Breisgau
Beruf/Funktion:
  • Japanologin
Kurzbiografie: 1933–1941 humanistisches Hebel-Gymnasium Lörrach bis Abitur; dann stud. Ausgleichsdienst in Freiburg
1941–1946 Studium d. Japanologie, Völkerkunde, Volkskunde, Sinologie u. Philosophie an d. Univ. Wien bis Promotion bei W. Schmidt (1868–1954) u. W. Koppers (1886–1961): „Das Pferd in Glaube u. Brauchtum Japans“
1946–1954 Aufenthalt in Shanghai, China
1954 IX–1955 IV Kupferstichkabinett d. Öffentlichen Kunstsammlung Basel
1955 VI–1956 II Kunstsammlung Rudolf Staechelin Basel
1956 IV–1960 IX wiss. Angestellte an d. Bayer. Staatsbibliothek München
1964– 1968 Umzug nach Münster; SS 1966 bis WS 1967/68 Lehraufträge in Bochum, im SS 1968 in Münster
1968 Rückkehr nach Lörrach u. Lehrauftrag an d. Univ. Freiburg, WS 1969/70
1970 Habilitation in Freiburg: „Das Umwandeln des Himmelspfeilers. Ein japanischer Mythos u. seine kulturhistorische Einordnung“; Akad. Rätin, ab 1973 apl. Professorin
1975 erste Japanreise
1985 IX Emeritierung
1996 X 14 Goldenes Doktordiplom d. Univ. Wien
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev., ab 1952 rk., ca. 1969 ausgetreten, alt.-kath. Kontakte
Verheiratet: I. 1945 (Wien) Wang Feng-chen, Prof. Dr., Zoologe, 1952 gesch.;
II. 1959 (München) Wolfram Naumann (geboren 1931), Prof. Dr., Japanologe
Eltern: Vater: Gustav Adolf Jost (1898–1957), Blechnermeister
Mutter: Maria, geb. Bitter (1900–2000)
Geschwister: Gustav Adolf (1931–2014)
Kinder: 4;
aus I. Inge (geboren 1947), Cornelia (geboren 1948) u. Maria (geboren 1950),
aus II. Claudius (geboren 1960)
GND-ID: GND/119156253

Biografie: Maria-Verena Blümmel (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 6 (2016), 355-358

Naumann entstammte einer Handwerkerfamilie. Ihr Vater, dessen Vorfahren aus Hausen im Wiesental kamen, war Blechnermeister in Lörrach und betrieb später eine eigene Karosseriewerkstatt; ihre Mutter kam aus dem Aargau. Es war daher nicht selbstverständlich, dass Naumann nach vier Jahren Volksschule auf das humanistische Gymnasium wechselte, doch die Mutter unterstützte die interessierte und begabte Tochter gegen väterliche Vorstellungen.
Nach dem Abitur 1941 wollte Naumann möglichst weit weg von zu Hause studieren, weswegen sie sich zum Wintersemester 1941/42 an der Universität Wien für die Fächer Germanistik, Geschichte und Geographie einschrieb. Allerdings langweilten sie vor allem die germanistischen Vorlesungen und Übungen so sehr, dass sie sich nach zwei Wochen um eine Alternative bemühte. Es war Zufall, dass sie in der Wiener Berggasse das Institut für Japankunde entdeckte. Sie bewarb sich um verspätete Aufnahme in den Anfängerkurs und fand sich als einzige Studentin wieder, aber sie hatte ihr Fach gefunden.
Der Wiener Lehrstuhl für Japankunde war 1938 vom japanischen Baron Mitsui Takaharu (1900–1983; die japanische Namensnennung stellt den Familiennamen voran) als eine Abteilung des Instituts für Völkerkunde gestiftet worden. Hier begann Naumann das Studium der Japanologie bei Professor Murata Toyofumi, einem japanischen Germanisten, zunächst mit Sprachunterricht und Landeskunde. Im zweiten Semester kamen Völkerkunde, Volkskunde, Philosophie, an der Universität Wien ein Muss bei einem Studium an der Philosophischen Fakultät, und ab dem vierten Semester noch Sinologie hinzu.
Naumanns Studium war in keiner Weise regulär. Da es für den japanischen Sprachunterricht kein Lehrmaterial gab, wurden zunächst japanische Schullesebücher und danach Sachtexte aus Büchern entsprechend den Interessen der wenigen Studentinnen verwendet; männliche Studenten gab es wegen der Kriegssituation kaum. Daraus erarbeitete Naumann grammatikalische Listen und Tabellen. Hier zahlte sich wohl ihre humanistische Schulbildung aus. Das methodische Rüstzeug erlernte sie in den völkerkundlichen Veranstaltungen, die geprägt waren durch die Wiener ethnologische Schule und die durch sie vertretene Kulturkreislehre, die im Rahmen einer Universalgeschichte der Kultur vergleichend eine „Urkultur“ zu erschließen suchte. Da von den Eltern wenig finanzielle Unterstützung kam, arbeitete Naumann als studentische Hilfskraft und machte für den Gebührenerlass Fleißprüfungen.
Als es um die Wahl eines Dissertationsthemas ging, schlug ihr Professor Murata eine Arbeit zum Shintô vor, was sie zu diesem Zeitpunkt aber für unangemessen hielt. Ihre 1945 nach sieben Studiensemestern fertiggestellte Dissertation über „Das Pferd in Glaube und Brauchtum Japans“ hat sie weitgehend autodidaktisch geschrieben, da gegen Kriegsende die Japankunde wegen ausbleibender japanischer Gelder eingestellt wurde und die Japan-Bibliothek, rechtzeitig vor dem russischen Einmarsch, in das Kloster Maria Taferl in Niederösterreich ausgelagert war. Erst 1946 fanden sich die Professoren der Völkerkunde Wilhelm Schmidt und Wilhelm Koppers bereit, Naumanns Dissertation zu begutachten und die Studentin zu prüfen, wonach sie ihr Studium ordnungsgemäß abschließen konnte.
Während ihrer Studienzeit in Wien hatte Naumann einen chinesischen Austauschstudenten, den Zoologen Wang Feng-chen, kennengelernt, den sie 1945 heiratete. 1947 übersiedelte das Ehepaar nach Shanghai, wo die drei Töchter zur Welt kamen. Der Ehemann wurde Professor an der T’ung-chih-Universität in Shanghai, auf deren Campus die Familie auch wohnte. Trotz der Inanspruchnahme durch die Familie erschien 1949 Naumanns umfangreiche Übersetzung einer japanischen Arbeit zum „Jahresbrauchtum im japanischen Dorf“. Die Jahre in China waren aufgrund der politischen Situation sehr schwierig und unsicher. 1949 endete der Bürgerkrieg mit der Errichtung der Volksrepublik durch die Kommunisten. Die frühen 1950er-Jahre waren von Enteignungen und Massenkampagnen zur Gleichschaltung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen geprägt. 1952 wurde Naumanns Ehe geschieden, sie verließ mit den Töchtern die bisherige Wohnung, musste für den Lebensunterhalt arbeiten und bemühte sich um eine Ausreiseerlaubnis. Nach der Scheidung war sie nicht länger chinesische Staatsbürgerin, und auch als Deutsche musste sie erst wieder eingebürgert werden. In dieser Situation fand sie große Unterstützung bei den Steyler Missionaren in Shanghai, was sie bewog, zum Katholizismus überzutreten.
1954 kam Naumann mit ihren Töchtern zurück nach Lörrach und fand Arbeit in Basel, wo sie zunächst die japanischen Farbholzschnitte im Kupferstichkabinett der Kunstsammlung Basel und danach die Ostasiatica der Sammlung Staechelin bearbeitete. Nach diesen befristeten Anstellungen erhielt sie 1956 eine Stelle in der Orientalischen Abteilung der Bayerischen Staatsbibliothek in München. Um den Lebensunterhalt ihrer Familie zu sichern, musste sie aber zusätzlich Reinschriften von Examensarbeiten übernehmen, die sie, nach Berufs- und Hausarbeit, nachts anfertigte. Auch ihre eigene Dissertation überarbeitete sie bis 1959 für die Drucklegung.
Diese schrittweise Rückkehr zur Japanologie wurde befördert durch die Begegnung mit dem Japanologen Wolfram Naumann, den sie 1959 heiratete, 1960 wurde der Sohn Claudius geboren und im selben Jahr endete die Anstellung an der Münchner Staatsbibliothek. 1963 und 1964 erschien Naumanns Arbeit über die japanische Berggottheit yama no kami, die in Japan große Beachtung fand und starke Kontroversen auslöste. Denn Naumann kam darin zu gänzlich anderen Ergebnissen als Yanagita Kunio (1875–1963), der Nestor der Volkskunde in Japan. Ethnologisch-vergleichend zog Naumann auch nicht japanisches Material für ihre Untersuchung heran und stellte im Ergebnis die ethnische und kulturelle Homogenität und häufig apostrophierte Einzigartigkeit Japans in Frage.
1964 habilitierte sich Wolfram Naumann und erhielt eine Dozentur in Münster. Auch Naumann übernahm nun Lehraufträge in Bochum, Münster, dann in Freiburg, nachdem der Ehemann 1968 an die Universität Freiburg gewechselt hatte. Die Familie wohnte zunächst in Kirchzarten, von wo aus sie viele Wanderungen in den Schwarzwald unternahm, den auch Naumann dadurch erst jetzt richtig kennenlernte. Mitte der 1970er-Jahre erwarb das Ehepaar ein Haus in Sulzburg, das es liebevoll mit gesammelten Objekten traditioneller Handwerkskunst und vielen Bildern befreundeter Maler und auch der Töchter ausstattete, die das zeichnerische Talent der Mutter geerbt und teilweise zum Beruf gemacht hatten. Der Garten des Sulzburger Hauses wurde so gestaltet, dass er chinesischen und japanischen Vorstellungen folgte und dennoch der Küche diente. Naumann hat es sehr genossen, mit der Sulzburger Nachbarschaft wieder das angestammte Alemannisch sprechen zu können.
1970 habilitierte sich Naumann in Freiburg und leitete von da an als Akademische Rätin und ab 1973 als außerplanmäßige Professorin bis zu ihrer Emeritierung 1985 die Japan-Abteilung des Orientalischen Seminars. In dieser Zeit hat sie eine in der deutschen Japanologie einzigartige Spezialbibliothek zu den Themen Volkskunde, Religions- und Mythenforschung aufgebaut, die sie in Ermangelung entsprechenden Hilfspersonals unkompliziert und praktisch, wie sie war, auch selbst katalogisierte und etikettierte.
Mit ihrer Habilitationsschrift hatte sich Naumann der Erforschung der japanischen Mythen zugewandt, ein Feld, für das es eine lange und bis in die Neuzeit reichende Tradition nationalistischer japanischer Interpretationen gab. Naumanns Vorgehen war jedoch auch hier immer streng quellenkritisch, und sie bezog archäologische Artefakte ebenso ein wie außerjapanisches Vergleichsmaterial. In zahlreichen Studien arbeitete sie den religiösen Gehalt einzelner Phänomene und Vorstellungen der mythischen Berichte heraus, zeigte ihren historischen Wandel und trennte sie von ideologischen Instrumentalisierungen. Daraus entstand 1988 der erste der beiden Bände zur „Einheimischen Religion Japans“. Der 1994 folgende zweite Band behandelt die Konfrontation dieser religiösen Ideen mit denen des Buddhismus.
Der strikt historische Ansatz von Naumann fand auch in Japan wachsende Anerkennung, wie Übersetzungen ihrer wichtigen Arbeiten ins Japanische zeigen. Für die Arbeit über die Berggottheit erhielt sie in Japan 1994 einen UNESCO-Kulturpreis. Bereits 1975 hatte man sie zu einem Kongress anlässlich des 100. Geburtstages von Yanagita Kunio eingeladen, wo sie ihre Sicht über die japanische Gottesvorstellung vortragen konnte. Dieser ersten Japanreise folgten weitere, bei denen sie sich intensiv mit den Artefakten der japanischen Frühzeit befasste, die ihr so lange nur in Abbildungen zur Verfügung gestanden hatten. Sie besuchte zahlreiche Ausgrabungsstätten und konnte in angeschlossenen Museen und Lehrsammlungen viele Originalobjekte eigenhändig studieren.
Der religiöse Gehalt der Mythen blieb das Thema, das Naumann immer weiter verfolgte und vertiefte. Während der 15 Jahre ihrer akademischen Lehrtätigkeit machte sie daraus Vorlesungen, die ihre Zuhörerschaft direkt an ihren Forschungsarbeiten teilnehmen ließen. Nach der Emeritierung entstanden ihre umfassenden Publikationen: 1988 und 1994 die beiden Bände über die „Einheimische Religion Japans“, mit denen sie dann doch den Vorschlag ihres Wiener Lehrers Professor Murata umsetzte, ein „Buch über Shintô“ zu schreiben. Die Summa ihrer Forschungen zum Thema Mythos und Religion enthält das im Jahr 2000 erschienene Werk „Japanese Prehistory: The Material and Spiritual Culture of the Jômon Period“. Neben der philologischen Kompetenz bei der Auswertung der schriftlichen Quellen zeigt sich hier einmal mehr ihr großes Gespür für die Aussagen der zeitgenössischen bildlichen und gegenständlichen Artefakte – vielleicht ein Erbe ihrer Handwerkervorfahren. Naumann konnte diese frühen Zeugnisse einer jägerischen Kultur mit lunarem Weltbild zuordnen, die Einflüsse von außerhalb Japans aufwies und weltweite Parallelen hatte.
Naumann hat Religion und Religiosität als elementares Bedürfnis der Menschen gesehen, bedingt durch die Erfahrung ihrer Sterblichkeit und deswegen unabhängig von der jeweiligen Kulturzugehörigkeit. Das galt auch für sie persönlich; denn trotz des gemeinsamen Kirchenaustritts des Ehepaares Ende der 1960er-Jahre fand sie später wieder Kontakt zur altkatholischen Gemeinde in Freiburg. Mitte der 1990er-Jahre musste Naumann erleben, dass die Japanologie in Freiburg dem Zeitgeist folgend, der nur noch das moderne Japan im Blick hatte, eingestellt wurde. Einige Jahre nach ihrem Ableben wurde auch ihre sorgfältig aufgebaute Spezialbibliothek aus Platzgründen aufgelöst. Im Frühjahr 2000 konnte Naumann die Korrekturen zu „Japanese Prehistory“ abschließen. Sie hatte bereits konkrete Pläne für einen Folgeband, starb aber im Herbst desselben Jahres 77-jährig an Krebs und wurde in Sulzburg bestattet.
Quellen: UA Freiburg B 341/442 Personalia 1969–1976.
Werke: Auswahl: Das Pferd in Sage u. Brauchtum Japans, Diss. phil. Wien 1946, in: Folklore Studies (Tôkyô) 18, 1959, 145-287; Yama no kami – die japanische Berggottheit. Teil I: Grundvorstellungen, in: Asian Folklore Studies 22, 1963, 133-366; Teil II: Zusätzliche Vorstellungen, in: Asian Folklore Studies 23, 1964, 49-199; Das Umwandeln des Himmelspfeilers. Ein japanischer Mythos u. seine kulturhistorische Einordnung, Habil. Freiburg im Br. 1970, 1971; Die einheimische Religion Japans. Teil I: Bis zum Ende d. Heian-Zeit, 1988, Teil II: Synkretistische Lehren u. religiöse Entwicklungen von d. Kamakura- bis zum Beginn d. Edo-Zeit, 1994; Die Mythen des alten Japan, 1996 [für eine allgem. Leserschaft]; Japanese Prehistory: The Material and Spiritual Culture of the Jômon Period, 2000
Nachweis: Bildnachweise: Foto (o. J.) in: Blümmel/Antoni, 2000/2001, vor 7.

Literatur: Auswahl: M.-V. Blümmel u. K.Antoni: In memoriam Nelly Naumann, in: Nachrichten der dt. Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens 176-170, 2000–2001, 7-22 (mit vollst. Schriftenverzeichnis); Miyata Noboru (dt. von Gerhild Endreß), Von Nelly Naumanns Japankunde lernen. Über die Universalität d. menschlichen Natur, in: K. Antoni, u. M.-V. Blümmel (Hgg), FG für Nelly Naumann, Mitteilungen der dt. Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens 119, 1993, 9-12; Matsumura Kazuo, Nelly Naumanns Contribution to the Study of Japanese Religion and Myth, in: Religious Studies Review (online) 32,3, 2006, 163-168. Sanroku kôko dôkôkai/Jômon zôkei kenkyûkai (Hgg.), Hikari no shinwa kôko (Leuchtende Mythenarchäologie. Aufsatzsammlung zur Erinnerung an Nelly Naumann, Gensôsha 2008.
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