Kalbfell, Oskar 

Geburtsdatum/-ort: 28.10.1897;  Betzingen (1907 Reutlingen-Betzingen)
Sterbedatum/-ort: 05.11.1979;  Reutlingen
Beruf/Funktion:
  • Oberbürgermeister von Reutlingen
Kurzbiografie: 1904-1911 Schule in Betzingen
1919 Eintritt in die SPD
1922 Wahl in den Gemeinderat von Reutlingen
1928 Wiederwahl, SPD-Fraktionsvorsitzender
1930-1937 Geschäftsführer der Firma Bobrzyk sen., Baumaterialien und Baugeschäft Reutlingen
1933 März Kandidat für Landtags- und Reichstagswahl
1933 April KZ Heuberg
1937-1947 Prokurist und Teilhaber der Firma Briel&Kalbfell, Baustoffhandlung, Reutlingen
1945-1973 Oberbürgermeister von Reutlingen
1945-1947 Landrat des Kreises Reutlingen
1946-1952 Mitglied des Landtags von Württemberg-Hohenzollern, SPD-Fraktionsvorsitzender
1949-1953 Mitglied des Deutschen Bundestages
1952-1968 Mitglied des Landtags von Baden-Württemberg
Weitere Angaben zur Person: Religion: evangelisch
Verheiratet: Betzingen, Rosa, geb. Kehrer (1899-1980)
Eltern: Vater: Karl Kalbfell (1862-1902), Metzger
Mutter: Pauline, geb. Brucklacher (1861-1939)
Kinder: Edith Margarete, verh. Haid (geb. 1923)
Karl Rolf (1927-1928)
Ingrid Juliane, verh. Galiez (geb. 1939)
GND-ID: GND/119507005

Biografie: Hans Georg Wehling (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 1 (1994), 170-172

Kalbfell war einer der großen baden-württembergischen Oberbürgermeister in der Zeit des Wiederaufbaus nach dem 2. Weltkrieg. 28 Jahre „regierte“ er nahezu unangefochten seine Heimatstadt, vom Tag der französischen Besetzung am 20.4.1945 an bis zum 5.11.1973. Zugleich spielte er eine führende Rolle in der SPD des Landes.
Kalbfell war das Kind kleiner Leute, ausgestattet mit enormen Fähigkeiten und vor allem einem unbändigen sozialen Aufstiegswillen. Von seiner Herkunft her lag es nahe, diesen Aufstieg über die SPD und das ihr angeschlossene Vereinswesen – in seinem Fall vorwiegend Sport – zu suchen. Er hat für sich in Anspruch genommen, den Menschen gleicher Herkunft diesen Aufstieg wie ein Vorturner, der er auch im wörtlichen Sinne war, vorgemacht zu haben – und er ist auch so verstanden worden. 1922 wurde er zum frühestmöglichen Zeitpunkt als jüngster Stadtrat in den Reutlinger Gemeinderat gewählt; nachdem er bei den Wahlen 1928 die meisten Stimmen erhalten hatte, wurde er sogar SPD-Fraktionsvorsitzender. Bei Parteiveranstaltungen war er weit und breit ein gesuchter Redner. So kandidierte er im März 1933 sowohl für den Landtag als auch den Reichstag. Nicht verwundern kann es, daß er gleich nach der Machtergreifung für einige Wochen ins KZ Heuberg inhaftiert wurde.
Auch wirtschaftlich war Kalbfell, der sich in mehreren Berufen versucht hatte, sehr erfolgreich, was in der Industrie- und Millionärsstadt Reutlingen viel zählt: Von 1930 an war er Geschäftsführer einer Baustoff-Firma, 1937 trat er als Teilhaber und Prokurist in ein Spezialbaugeschäft ein, das seitdem Briel&Kalbfell heißt. Die dort u. a. gefertigten Sparöfen galten in einer Zeit knapper Energie und Rohstoffe als kriegswichtig. Sein wirtschaftlicher Aufstieg ging aber nicht ohne eine gewisse Anbiederung an die Machthaber ab (Parteieintrittsgesuch 1.11.1939, jedoch abgelehnt wegen „mangelhafter politischer Zuverlässigkeit und weltanschaulicher Gesinnung“), was von seinen ehemaligen Genossen, zu denen er keinen Kontakt mehr hielt, mit Mißfallen registriert worden ist. Sein wirtschaftlicher Erfolg wurde politisch aber vor allem durch gute Kontakte zu führenden Leuten in der Stadtverwaltung, namentlich zu deren „grauen Eminenzen“, abgesichert, die – je später, desto mehr – im unbelasteten Kalbfell eine Überlebensgarantie für sich nach dem Zusammenbruch gesehen haben mögen.
Die drei Fliegerangriffe auf Reutlingen von Anfang 1945 gaben Kalbfell die Chance, seine Tatkraft und seinen Sachverstand bei der Beseitigung der Schäden zu beweisen. Seine große Stunde kam am 20.4.1945, als er allein den auf die Stadt zurückenden französischen Truppen entgegentrat und Reutlingen übergab. Die Franzosen setzten ihn mißtrauisch auf das erste Fahrzeug und zogen so in die Stadt ein. Die Übergabe erfolgte kampf- und reibungslos, ein Beweis, daß der Vorgang zwischen den einflußreichen Männern der Stadt abgesprochen worden war – der schwache NS-Oberbürgermeister und der NSDAP-Kreisleiter waren geflohen. Er rettete so die Stadt vor weiterer Zerstörung. Diesen persönlichen Einsatz, in ihren Augen eine Heldentat, haben die Reutlinger Kalbfell nie vergessen, auch für seine SPD-Genossen war er damit reingewaschen.
Der Oberbürgermeister, zunächst zugleich auch Landrat, nahm die Versorgung der Bevölkerung und den Wiederaufbau tatkräftig in die Hand. Als Mann der Tat leistete Kalbfell Ungewöhnliches – mit großer Energie, Einfallsreichtum und unbekümmert um rechtliche und bürokratische Hemmnisse. So organisierte er Nahrungs- und Brennholzbeschaffungsaktionen, ließ die Verkehrsbedingungen zur Außenwelt, namentlich auch die zerstörten Eisenbahnbrücken auch außerhalb der Stadt, wiederherstellen. Aufsehen in ganz Deutschland erregte die am 3.6.1945 eröffnete „Reutlinger Spende“, ein halbfreiwilliges Solidaritätsopfer der Wohlhabenden und von Kriegszerstörungen verschont Gebliebenen. In Kenntnis der genauen Vermögensverhältnisse – nicht zuletzt unter Benutzung der Steuerakten – wurden den Reichen der Stadt „Vorgaben“ für eine Geldspende gemacht, persönliche „Bearbeitung“ im Rathaus half nach. So kam bis zum 20.6.1948 ein Spendenaufkommen von 3,8 Mio RM zustande, mit dessen Hilfe Ausgebombten und Flüchtlingen wirksam geholfen werden konnte.
Gleich nach Kriegsende trat Kalbfell mit einer Fülle großer Reden an die Öffentlichkeit, in denen er mit dem untergegangenen Regime abrechnete, die Kausalitäten aufzeigte und für die Bewältigung der anstehenden Aufgaben zu motivieren suchte. Hier zeigte sich der große Rhetor als Volkserzieher. Kalbfell hatte auch begriffen, daß der Mensch nicht allein vom Brot lebt: Bereits am 18.10.1945 wurde von ihm ein städtisches Schauspielhaus Reutlingen-Tübingen gegründet, am 16.5.1946 folgte das Reutlinger Symphonieorchester unter Leitung von Hans Grischkat; beide Einrichtungen bestehen bis heute als Landestheater Tübingen-Reutlingen bzw. Württembergische Philharmonie. Ähnlich hat Kalbfell – selbst Hobbymaler und Kunstsammler – die Bildenden Künste gefördert: Daß der Holzschneider HAP Grieshaber an der Reutlinger Achalm bis zu seinem Tode Wohnsitz und Werkstätte hatte, ist kein Zufall.
Vielleicht wird man sagen können, daß es Kalbfells größte Leistung in der unmittelbaren Nachkriegszeit war, durch Reden und tatkräftiges Zupacken einer hungernden und frierenden Bevölkerung, die nach der Niederlage in Apathie abzugleiten drohte, Hoffnung gemacht und sie für den Wiederaufbau motiviert zu haben.
Kalbfell verstand es von Anfang an, qualifizierte Mitarbeiter zu gewinnen, die zu einem guten Teil aus der Wirtschaft kamen. Auch in späteren Jahren hat er weniger auf das Parteibuch als auf die Qualifikation geachtet und ist dabei gut gefahren.
In seiner weiteren Amtszeit baute Kalbfell Reutlingen konsequent zu einem gesuchten Gewerbestandort und einem attraktiven Wohnort aus, mit einer gewissen Vorliebe für Sportstätten und ein umfassendes Volksschul- und Volksbildungswesen. Im Wohnungswesen hebt sich Reutlingen deutlich von anderen Städten ab: Die stadteigene Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft (GWG) konzentrierte den sozialen Wohnungsbau auf sich, mit umfassender Bodenvorratshaltungspolitik und Rationalisierungen. Am Ende der Ära Kalbfell lebte jeder 3. Reutlinger in einer Wohnung, die die GWG erstellt hatte.
Sein hohes Ansehen erlaubte Kalbfell einen für schwäbische Verhältnisse exzentrischen Lebenswandel. Sein Ansehen spiegelt sich auch in seinen Wahlerfolgen: Bei den OB-Wahlen erreichte er 1946 72 %, 1948 79,9 %, 1954 97,4 %. Lediglich als er 1966 als 69jähriger für eine weitere Amtszeit von 12 Jahren antrat (eine Altersgrenze für Bürgermeister gibt es in Baden-Württemberg erst seit 1975), schrumpfte sein Stimmenanteil auf 55,5 %.
Ein Mann vom Format Kalbfells dachte immer über Reutlingen hinaus, auch wenn er letztlich immer seine Stadt und deren Interessen im Sinn hatte. Von Anfang an gehörte er dem Landtag von Württemberg-Hohenzollern an, sogar als Vorsitzender der SPD-Fraktion, anschließend war er Mitglied des Landtags von Baden-Württemberg bis 1968, 1949-1953 sogar des Bundestages (ohne daß er dort von sich reden gemacht hätte). Im Vergleich zu seinen Nachfolgern aus der SPD erzielte er bei diesen Wahlen überdurchschnittliche Ergebnisse, die zeigen, daß die Stimmen vorwiegend dem Mann, nicht seiner Partei galten.
Kalbfell mußte zum Abschied von seinem Amt als OB gedrängt werden, die geistige Umnachtung seiner letzten Lebensjahre kündigte sich an.
Nachweis: Bildnachweise: Fotos im Stadtarchiv Reutlingen

Literatur: 70. Geburtstag von Oberbürgermeister Oskar Kalbfell, Reutlingen 1967, 38 S.; Karl Keim, Geleitwort zur Festgabe für Oskar Kalbfell, in: Reutlinger Geschichtsblätter NF 5, 1967, 7-8; Ahnenreihe Oskar Kalbfell, Stadtverwaltung Reutlingen 1972, 322 S.; Ekkehard Melk, Zum Tode Oskar Kalbfells, in Stuttgarter Zeitung vom 07.11.1979; Trauer um Kalbfell, in: Die Gemeinde 102, 1979, 686; H.-G. Wehling, Artikelfolge zu Oskar Kalbfell anläßlich des 10. Todestages in: Schwäbisches Tagesblatt vom 20.11.1979, 18. und 21.04.1980
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