Schönheimer, (Rudi) Rudolf 

Geburtsdatum/-ort: 10.05.1898; Berlin
Sterbedatum/-ort: 11.09.1941; Yonkers/New York City durch Selbstmord
Beruf/Funktion:
  • Pathologe, Biochemiker, Verfolgter des NS-Regimes
Kurzbiografie: bis 1914 Friedrichs-, dann Sophien-Realgymnasium Berlin, schließlich Privatlehranstalt u. Internat Viktoriastift, Falkenberg, bis zur Mittleren Reife
1914–1916 XI. Dorotheenstädt. Realgymnasium Berlin bis (Not-)Abitur
1916 XI. 27–1919 I. 22 Immatrikulation als Student d. Medizin an d. Friedrich-Wilhelms Universität Berlin, doch sofort Soldat in d. X. Batterie, Fußartilleriereg. 11, eingesetzt in d. Champagne u. in Flandern, ab Dez. 1917 Unteroffizier; EK II
Frühj. 1918–1922 VI. Mit Erlaubnis d. Militärbehörde (Wieder)Aufnahme des Studiums; am 17. 12. 1919 ärztl. Vorprüfung mit „gut“, gleichzeitig Engagement in d. zionist. Jugendbewegung „Blau-Weiß“; Staatsexamen mit „gut“
1922 I. 1–1924 I. 31 Medizinalpraktikum als Sekant am Patholog. Institut des Krankenhauses Berlin-Moabit bei Geheimrat Carl Benda (1857–1932); in Vertretung Bendas erste Vorlesungen über „Topographische Anatomie“ u. „Spezielle Patholog. Anatomie“; 1. 12. 1923 Approbation, 4.12.1923 Promotion bei Benda über experimentelle Atherosklerose, „sehr gut“
1924 II. 1–1926 zweijähr. Ausbildung in Chemie bei Karl Thomas (1883–1969) am Physiologisch-Chemischen Institut in Leipzig mit Stipendium d. „Rockefeller-Stiftung“ bis Anfang 1927, Abschluss: mündl. Prüfung
1926 II. 1–1933 VI. 30 Tätigkeit in Freiburg bei Ludwig Aschoff (➝ II 7), ab 1. 2. 1927 Hilfsassistent am Patholog. Institut, ab 1. 10. 1928 Assistent u. Leiter d. Abt. für Chemische Pathologie, Habilitation in Patholog. Anatomie: „Chemische u. experimentelle Untersuchungen über die Atherosklerose“, am 13. 12. 1928 Habil.-Vortrag: „Die Hämatogenen Pigmente“ u. Venia legendi für Allgem. Pathologie u. Patholog. Anatomie; ab 30. 1. 1929 Privatdozent, ab 15.5. planm. 2. Assistent
1930 IV.–1931 IX. Aufenthalt an d. University of Chicago, finanziert von d. Douglas Smith Foundation
1933 IV. 17–V. Teilnahme am Atherosklerose Kongress d. Josiah Mercy Foundation in New York in Vertretung von Aschoff, gleichzeitig Bemühungen um Anstellung in den USA
ca. 1933 V. 15–VII. Rückkehr nach Freiburg, Vorbereitung des Umzugs in die USA, teilweise im Elsaß wohnhaft; offizielles Ausscheiden aus d. Univ. Freiburg am 30.6.1933
1933 X.–1941 IX. Visiting, später Associate Professor an d. Columbia University, New York
Weitere Angaben zur Person: Religion: jüd.
Verheiratet: 1932 (Berlin) Salome, geb. Glücksohn (1907–2007), 1931 Dr. phil. nat. bei Spemann, Freiburg, später Professorin für Genetik am New Yorker Albert-Einstein-College of Medicine u. Mitglied d. National Academy of Sciences d. USA
Eltern: Vater: Carl Hugo (* 1867–1922), Frauenarzt
Mutter: Gertrud Klara, geb. Edel (?)
Geschwister: 4 (?); Fritz (* 1895), Klara u. weitere 2, früh verstorben
Kinder: keine
GND-ID: GND/120662914

Biografie: Fred Ludwig Sepaintner (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 6 (2011), S. 356-362

Schönheimer, der aus einer jüdischen Familie stammte, die über Zerbst und Leipzig nach Berlin gekommen war, wuchs in der preußischen Metropole auf, bis ihn seine Eltern auf die private Internatsschule Viktoriastift in Falkenberg in der Mark Brandenburg, etwa 60 km nordöstlich von Berlin, schickten. Dort blieb er bis zur Mittleren Reife. Das kriegsbedingt vorgezogene Abitur legte der 18-jährige Aktivist der jüdischen Jugendbewegung „Ivriah“ dann wieder in Berlin ab. Er schrieb sich zwar gleich danach in der Medizinischen Fakultät der Univ. Berlin ein, wurde aber sofort zur Fußartillerie eingezogen und erlebte Kämpfe in der Champagne, darunter 1917 die Doppelschlacht an der Aisne, und dann Schlachten in Flandern, an der Somme. Im Oktober verwundet wurde er kurz vor Jahresende zum Unteroffizier befördert und mit dem EK II dekoriert. Im März 1918 erkrankte er erneut, was schließlich zu seiner ambulanten Behandlung u. a. wegen „Nervenschwäche“ im Heimatort führte. Mit Billigung des Militärs, dem er noch einige Monate lang offiziell angehörte, nahm er unterdessen sein Studium auf. Im Dezember 1919 bestand er die ärztliche Vorprüfung. Schönheimer engagierte sich damals in der zionistischen Jugendbewegung „Blau-Weiß“, die – formal dem deutschen „Wandervogel“ nicht unähnlich – jüdische Inhalte betonte und ohne parteipolitische Bindung sozialistisch orientiert war. Ein aus dem dort angestrebten Gruppenerlebnis resultierendes Ereignis war seine Italienreise im Frühjahr 1921 mit drei Bundesbrüdern. Die Begegnung mit italienischer Kultur, eindrücklich in einem Tagebuch festgehalten, ist durchaus bemerkenswert in dieser an persönlichen Zeugnissen armen Vita ohne eigentlichen Nachlass.
Im Februar 1922 erhielt Schönheimer das Abgangszeugnis von der Universität, im Juni bestand er das Staatsexamen. Bevor er jedoch, wie damals beabsichtigt, Chirurg werden konnte, wollte er seine pathologischen Kenntnisse vertiefen. Deswegen hatte er am Pathologischen Institut des Krankenhauses Moabit als Medizinalpraktikant für ein Jahr die Stelle eines Sekanten unter Geheimrat Benda angenommen. Bald gehörte er zu den Fortgeschrittenen; er durfte nicht nur den Chef vertretend „Topographische“ und „Spezielle Pathologische Anatomie“ lesen. Ursachen der Artherosklerose wurden sein Forschungsthema. Seinen Ansatz beschreibt er im Lebenslauf, den er anlässlich seiner Habilitation in Freiburg vorlegte, nämlich bisher gewonnene Erkenntnisse über experimentelle Cholesterinkrankheit nachzuprüfen, zu erweitern und Befunde mit der menschlichen Erkrankung in Verbindung zu bringen. Dazu fütterte Schönheimer Kaninchen mit Cholesterin und untersuchte die sich ergebenden pathologischen Veränderungen. So erwuchs sein erster Arbeitsschwerpunkt, entstanden seine Dissertation und erste, beachtliche Veröffentlichungen. Gleichzeitig gelangte er aber zur Erkenntnis, dass überhaupt „ein Teil der acuten Fragen in der Pathologie nur mit Hilfe exakter chemischer Methoden“ zu klären seien. (Lebenslauf in: UA Freiburg B 24/3887, S. 1) Schönheimer entschloss sich zu einer Zusatzausbildung.
Eine der Hochburgen der Physiologischen Chemie war seit der 2. Hälfte des 19. Jh.s die Physiologie in Leipzig. Leipziger Besonderheit unter Institutsleiter Karl Thomas (1883–1969) war das Angebot einer auf zwei Jahre konzentrierten Zusatzausbildung für Mediziner im Fach Chemie, die Schönheimer als Rockefeller-Stipendiat absolvierte: in engster Zusammenarbeit mit Thomas, seinen Assistenten und zahlreichen Doktoranden war der erste Schritt eine gute Grundausbildung in allgemeiner und physiologischer Chemie, um sich hernach verschiedenen pathologischen Themen zuwenden zu können. Einen Großteil seines 2. Leipziger Jahres verwandte Schönheimer auf die Arbeit über Peptidsynthesen. Schon damals, betont er, hatte sich sein Interesse ausgeweitet, auf Gebiete, „die einer gemeinsamen morphologischen und chemischen Bearbeitung“ (ebd. S. 2) bedurften. Damals unternahm er auch seine Reise nach Palästina; der Gedanke, dorthin auszuwandern, erschien ihm bis in seine letzten Tage als die beste Antwort auf den um sich greifenden Antisemitismus. Auch eine mehrmonatige klinische Tätigkeit in Berlin unterbrach den Leipziger Aufenthalt.
Nach seiner mündlichen Abschlussprüfung, ging Schönheimer nach Freiburg, „weil hier schon früher eine größere Anzahl pathologischer Studien mit chemischer Methode durchgeführt war“ und sich ihm auch die Möglichkeit eröffnete, sich neben chemischen Arbeiten in morphologischer Pathologie weiterzubilden. Geheimrat Ludwig Aschoff, der berühmte Pathologe, stellte ihm ab Februar 1926 einen Laborplatz zur Verfügung. Dort fand Schönheimer sein wichtigstes wissenschaftliches Betätigungsfeld in Deutschland. Im ersten Jahr noch Rockefeller-Stipendiat wurde er 1927 Hilfsassistent bei Aschoff und bald auch als 2. Assistent einer der nur drei Planstellen-Inhaber an diesem großen Lehrstuhl. Schönheimer habilitierte sich, wurde Privatdozent und Leiter der Abteilung für Chemische Pathologie.
Trotz widriger Umstände, dem verlorenen I. Weltkrieg, Inflation und Weltwirtschaftskrise, war die Freiburger Medizinische Fakultät in den 1920er Jahren sichtbar aufgeblüht. Nicht nur der Vorkriegsplan des neuen Klinikums hatte realisiert werden können, was die Arbeitsbedingungen optimal werden ließ und gewiss dazu beitrug, diese Universität im internationalen Wettstreit attraktiver zu gestalten. Auch organisatorisch waren wichtige Schritte vollzogen worden. Namen wie Heinrich Wieland (BWB III 457) und Hermann Staudinger (➝ II 265), Hans Spemann (➝ IV 280) und Georg von Hevesy (BWB IV 143), durchweg Nobelpreisträger, belegen den Erfolg. Aschoffs Lehrstuhl hatte längst internationale Bedeutung: Zahlreiche Wissenschaftler, auch aus den USA und Japan – 23 von 26 japanischen Pathologie-Lehrstühlen waren bald mit Aschoff-Schülern besetzt – zog es in den 1920er Jahren nach Freiburg. Auch die große Zahl jüngerer hochbegabter Wissenschaftler, die damals nach Freiburg kamen, spiegelt diese Tendenz. Schönheimer gehörte dazu, hatte bereits einen überschaubaren eigenen Wirkungsbereich und konnte weitgehend selbstständig arbeiten.
Schönheimers Arbeitsfeld griff den Themenkreis der Dissertation auf; er befasste sich wieder mit Atherosklerose, nun aber im weiteren Sinne, einem Thema, womit sich auch Aschoff beschäftigt hatte. Jetzt ging es Schönheimer primär um den Stoffwechsel von Cholesterin und anderen Sterinen, deren Resorption, Umwandlung, Ausscheidung und Rolle bei der Entstehung von Atherosklerose. Cholesterin war dabei als Hauptfaktor bereits erkannt, genauso wie bekannt war, dass es sich bei den Fettablagerungen an Arterienwänden, besonders der Aorta, um regelrechte Cholesterinnester handelte. Das hatte Aschoff bereits deutlich gemacht und die richtige These aufgestellt, dass dies eine metabolische und keine morphologische Erkrankung sei. Die Vorgänge im Einzelnen lagen aber noch gänzlich im Dunkeln.
Cholesterin ist ein Sterin, dessen Struktur bereits bekannt war und wovon man auch wusste, dass es im menschlichen wie tierischen Körper, selbst in Pflanzen nicht vorhanden war. Es kam nur in Vorstufen vor, woraus sich die Frage ergab, ob es aus diesen Vorstufen über die Nahrung oder zur Gänze im Körper synthetisiert wurde. Da Kaninchen, die mit pflanzlichen Sterinen gefüttert wurden, nicht in allen Fällen Atherosklerose ausbildeten, wandte sich Schönheimer der physiologischen Chemie der pflanzlichen Sterine zu, zunächst dem häufigsten, dem Sitosterin. In größeren Mengen verfüttert, ergaben sich aber keine eindeutigen Ergebnisse, so dass er weitere Versuchsreihen unternahm, wobei ihm ein Teilerfolg gelang. Unter besonderer Überwachung gefütterte Hennen legten Eier, die synthetisiertes Cholesterin enthielten, das eindeutig nicht durch Umwandlung der Nahrungssterine entstanden war.
Bei der weiteren Beschäftigung mit Sterinen, die teilweise nur in geringsten Mengen im Körper zu finden waren, vor allem mit Ergosterin, einer Vorstufe des als antirachitisch bekannten Vitamins D, zeigte sich, dass dessen inaktive Vorstufe auch nicht resorbiert wurde. Zusammen mit Kollegen untersuchte Schönheimer weitere Sterine und kam zu der Erkenntnis, dass kleinste Unterschiede der Strukturformeln, so Stereoisomerität oder Sättigung einer Doppelbindung, entscheidend dafür waren, ob der Stoff resorbiert wurde oder nicht. Diese Substratspezifität wie bei Enzymen bedeutete Erkenntnisfortschritt.
Der nächste Schritt galt den Ausscheidungswegen. Schönheimer wusste, Cholesterin wird nur als Hydrierungsprodukt ausgeschieden. Weil der in-vitro-Versuch mit Bakterien aber erfolglos war, ging er davon aus, dass diese nicht erst im Darm entstünden, sondern Intermediärmetaboliten aus Galle und Verdauungssäften darstellten. Da untersuchte Gallensteine aber kaum Dihydrocholesterin enthielten, war mit dieser Feststellung wenig gewonnen. Weitere Erkenntnis brachte erst eine geschlossene sterile in vivo Darmpräparation bei Hunden, deren Inhalt erkennen ließ, dass darin Dihydrocholesterin in großer Menge, dagegen nur wenig Cholesterin enthalten war. Daraus schloss Schönheimer dessen Rückresorbierbarkeit. Koprosterin fand er aber nicht im untersuchten Darm. Letztlich bestätigte dieses Ergebnis eine Hypothese seiner Habilitation, wonach Atherosklerose nicht unmittelbare Folge von Nahrungscholesterinzufuhr sei, sondern eher das Resultat einer gesteigerten Synthese, also eine Stoffwechselstörung.
Bei diesen Versuchen hatte Schönheimer mit dem Chirurgen Edmund Andrews aus Chicago zusammengearbeitet, der sich in Freiburg weiterbildete. Dieser vermittelte Schönheimer den etwa einjährigen Forschungsaufenthalt ohne Lehrverpflichtung ab Herbst 1930 in Chicago, womit er nicht nur Gelegenheit fand, seine bisherigen Erkenntnisse über den Cholesterinmetabolismus zusammenfassend darzustellen. Jetzt konnte er auch darüber veröffentlichen und durch rege Vortragstätigkeit in den USA erste Bekanntheit erlangen. So entstanden Verbindungen, die in Kürze für Schönheimers weiteren Lebensweg entscheidend werden sollten.
Ende September 1932 wieder in Freiburg wurde Schönheimer in eine gehobene Assistentenstelle eingewiesen. Mit den sich damals, vor allem aber seit der NS-„Machtübernahme“ für den Juden Schönheimer nachhaltig verschlechternden Verhältnissen wurde er sofort konfrontiert: eine Begegnung mit einem führenden NS-Studentenvertreter alarmierte ihn dergestalt, dass er sich mit Aschoff besprach, der ihm sogleich zur beruflichen Neuorientierung riet. Der Versuch, in Bern unterzukommen, zerschlug sich genauso wie der Gedanke, eine Anstellung in der Türkei zu finden. Da machte Aschoff den Vorschlag, Schönheimer möge an seiner Statt Ende März beim New Yorker Kongress der Josiah Macy Jr. Foundation über Cholesterinmetabolismus und Atherosklerose sprechen. Die sich geradezu überschlagenden Maßnahmen des NS-Regimes Anfang 1933 trafen ihn dennoch unvermindert: reichsweit das „Ermächtigungsgesetz“ vom 24. März und darauf basierend das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April, in Baden der Erlass Nr. A.7642 Wagners (➝ II 297) über die sofortige Beurlaubung jüdischer Universitätsmitarbeiter, der im vorauseilenden Gehorsam bereits am Vortag ergangen war. Wenn der am 21. dieses Monats gewählte und sechs Tage später ins Amt eingeführte neue Rektor und NS-Parteigenosse Martin Heidegger (➝ I 162) dann bald den Hitlergruß bei Studenten und Dozenten seiner Universität einführte und die Zwangsmitgliedschaft aller Studenten des ersten und zweiten Semesters in der SA verfügte, dann waren dies seine Maßnahmen im Rahmen der inneruniversitären NS-„Machtübernahme“ in Freiburg.
Dieser Wandel wirkte sich auf Schönheimer nur zeitlich verzögert aus. Am 17. April war er in New York angekommen. Schon drei Tage später telegraphierte Aschoff und empfahl ihm, er möge sich dort um eine neue Stelle bemühen. Biochemiker waren zu dieser Zeit in den USA gesucht, erfreuten sich besonderer Förderung der Rockefeller Foundation und des Medical Research Council. Entsprechend schnell hatte Schönheimer Erfolg und fand eine Anstellung im Department für Biochemie der Columbia Universität. Der Abschied von Freiburg gestaltete sich kurz. Mitte Mai waren Schönheimer und seine Frau zurückgekehrt, hatten am Südrand der Stadt Wohnung genommen, den Umzug organisiert, dann aber, um nicht im letzten Augenblick auf Schwierigkeiten zu stoßen, zogen sie nach Haut-Thannenkirch bei Colmar. Verbleibende Institutsarbeiten wurden per Kurier abgeschlossen. Im August waren die Eheleute bereits in New York, im Oktober nahm Schönheimer seine neue Tätigkeit auf. Welch ein Verlust Schönheimers Weggang für Aschoff bedeutete, der dessen besondere Fähigkeiten erkannt hatte, geht aus Aschoffs Nachlass hervor; Aschoff äußerte sogar die Sorge, die chemische Abteilung aufgeben zu müssen.
Für Schönheimer hingegen schienen sich in den USA neue, durchaus positive Perspektiven zu ergeben: In seiner Arbeit war er damals nämlich an einem Punkt angelangt, wo zu weiteren Erkenntnissen über den intermediären Stoffwechsel ganz neue Ansätze vonnöten waren. Die gerade aufkommende Isotopentechnik wies in eine solche neue Richtung. Harold Urey (1893–1981) hatte an der Columbia University gerade das Deuterium entdeckt, den schweren Wasserstoff. „Molekulare Biologie“ hieß das erfolgversprechende Schlagwort, und die finanzstarken Förderer, Rockefeller beim „Columbia Heavy Water Project“, die Macy Foundation bei Schönheimers Atheroskleroseforschung, waren aufgeschlossen; das kam Schönheimers Arbeit zugute. Schließlich stimmte auch der institutionelle Rahmen am Department of Biochemistry, Schönheimers neuem Arbeitsplatz. Dessen Leiter war seit 1928 der sehr agile ehrgeizige und auch durchsetzungsstarke Hans T. Clarke (1887–1972), der sein Institut weltweit zu einer der führenden Einrichtungen der Biochemie machen wollte; über Schönheimers Arbeit sollte ihm das gelingen.
Schönheimer nahm an der Columbia University zuerst seine Freiburger Forschung wieder auf. Er suchte nach einer schnellen und sicheren Art, Cholesterin im Blut zu bestimmen, indem er es mit Digitonin ausfällte. Zusammen mit Warren Sperry schloss er diese Phase der Arbeit ab, ohne aber alle Vorgänge aufklären zu können. Hierzu mussten sich erst seine Wege mit denen Ureys kreuzen. Bindeglied zwischen beiden wurde David Rittenberg (1906–1970), ein Schüler Ureys; Schönheimer und Rittenberg gingen gemeinsam die ersten Schritte zum Einsatz von stabilen Isotopen als molekulare Tracer, Spurenmarker beim Weg des Metabolismus. Es gab zwar auch dazu bereits Freiburger Ansätze, die Schönheimer in Zusammenarbeit mit von Hevesy und aus einem Ansatz des Organikers Franz Knoop (1875–1946) als wichtige chemische Tatsachen gegenwärtig waren, das grundsätzliche Neue seines weiteren Vorgehens aber wurde, dass er Isotope in organische Moleküle einbaute, deuterierte Substanzen bei Experimenten mit Fettsäuren und Sterinen einsetzte. Auf die Frage, ob Cholestenon ein Intermediärprodukt von Cholesterin bei der Transformation zu Koprosterin sei, stieß er jetzt auf die Antwort. In den Ausscheidungen der Hunde fand sich deuteriertes Koprosterin, bei der weiteren Arbeit mit Sterinen aber zeigten sich dann keine so eindeutigen Ergebnisse. Schönheimer schloss daraus auf komplexere Vorgänge und stellte die weitere Klärung dieses Fragenkomplexes zurück. Erst seinem Schüler Konrad Bloch (1912–2000) gelang die endgültige Aufklärung des Cholesterinsynthesewegs, wofür er 1964 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde.
Zum weit bedeutenderen Durchbruch für Schönheimer gerieten Pilotstudien mit Fettsäuren. Nicht wie erwartet wurde nach Verbrennung des an Mäuse verfütterten deuterierten Leinöls der weitaus größere Teil des Deuteriums wieder ausgeschieden, sondern mehr als die Hälfte fand sich im Körperfett eingelagert, war also transformiert. Damit wurde die bisherige Ansicht umgekehrt, beim Depotfett handle es sich um eine relativ stabile Masse und Nahrungsfett diene zuerst zur Verbrennung im Energiehaushalt. Es gelang auch der Nachweis, dass ungesättigte in gesättigte Fettsäuren verwandelt werden, im Körper also Saturierungs- und Desaturierungsprozesse abliefen.
Damit wurde deutlich, dass das Columbia Heavy Water Project statt der erwarteten neuen Biologie eine neue Biochemie hervorgebracht hatte. Schönheimer kam inzwischen dem Zenit seiner wissenschaftlichen Karriere nahe. Die Harvey Lecture des Jahres 1937, die der 39-jährige als erster Ausländer halten durfte, ist ein deutlicher Hinweis darauf. „Die Integration von organischer Chemie und Biologie war das Zentrum seiner Bestimmung […] und er war der beste und der einzige im Columbia Heavy Water Project, der dies wirklich beherrschte“ (Berthold, 1978, S. 78). Auch Schönheimers fächerübergreifende Arbeitsgruppe, an der Physiker, organische und Biochemiker, Biologen und Mediziner Anteil hatten, wirkte als Vorbild für künftige Forschungsprojekte.
Der Einsatz von N-15 als Tracer bei Aminosäuren und Proteinen ab Frühjahr 1938 zeitigte weitere grundlegende Neuerkenntnisse, etwa den Beweis, dass auch strukturelle Proteine sich im ständigen Auf- und Abbau befinden. Zukunftsweisend war schließlich Schönheimers wissenschaftliches Vermächtnis „The Dynamic State of Body Constituents“, das er als Dunham Lectures im Sommer 1941 skizziert und Clarke, Rittenberg und Sarah Rittner postum redigiert und herausgegeben hatten. Noch einmal wird hierin greifbar, wie bedeutend die Leistung dieses kurzen, genialischen, aber so traurig endenden Wissenschaftlerlebens war.
Der Chirurg Rudolf Nissen (1896–1981) besuchte Schönheimer zwei Tage vor seinem Selbstmord und berichtet in seinen Erinnerungen, er habe ihn „weniger deprimiert angetroffen als einige Wochen zuvor.“ An gleicher Stelle berichtet er übrigens auch vom Urteil Aschoffs über Schönheimer, der ihn zehn Jahre zuvor als „genialen Kopf bezeichnete, der jeder Universität, an der er wirkte, zur höchsten Ehre gereichen würde.“ (R. Nissen, 1969, S. 307.) Schönheimer hatte zu diesem Zeitpunkt seinen Entschluss wohl bereits gefasst. Die letzten Beweggründe dazu werden immer im Dunkeln bleiben.
Der 43-jährige, den Anfang des Jahres 1941 seine Frau verlassen hatte und dessen sexuelle Orientierung „unklar“ (Peter D. Klein) gewesen sein soll, war zwar als Wissenschaftler genialisch, umso problembeladener erscheint seine Persönlichkeitsstruktur. Auch von einem beruflichen Fortkommen in New York kann kaum geredet werden. Er forschte und arbeitete zwar unter hervorragenden Umständen, und irgendwelche Klagen und Unzufriedenheit seinerseits über seine Position sind nicht fassbar, dennoch war Schönheimer 1941 nach acht Jahren noch immer Associate Professor, eine Stellung im krassen Missverhältnis zu seiner Leistung. Im Sommer 1941 hatte Schönheimer einen schweren Autounfall erlitten, er kam ins Krankenhaus. Das ereignete sich unmittelbar vor dem Selbsttod, die direkte Verbindung zwischen beiden Vorgängen aber lässt sich nicht beweisen. Gesichert dagegen ist Schönheimers depressive Erkrankung; er muss seit seiner Jugend als psychisch instabil gelten. Schon als Soldat war er deswegen behandelt worden und selbst bei der Arbeit fiel immer wieder auf, wie bei ihm Phasen überschäumender Euphorie und Depression ineinander übergingen, bis hin zu tagelangen Absenzen ohne ersichtlichen Grund. Dennoch, in den letzten Lebenswochen, selbst in der Nacht vor dem Suizid hatte seine nächste Umgebung, der Bruder und dessen Familie, keinerlei Anzeichen in dieser Richtung bemerkt. Schönheimer wusste seinen inneren Zustand offensichtlich zu verschleiern; denn seine Abschiedsbriefe datieren bereits vom 7. September, ganze fünf Tage, bevor er sich im Garten seines Anwesens vergiftet hat. Den Nobelpreis für die Entwicklung der Tracertechnik erhielt übrigens Georg von Hevesy 1943. Schönheimers Tod hatte sich kaum zwei Jahre zuvor ereignet.
Quellen: Rudolf-Schönheimer-A in: Stabile Isotope Labor, Houston, Texas, zusammengest. von Heiner K. Berthold, Peter D. Klein u. Jerry D. Eastman; UA Freiburg B 24/3887; Auskunft von A. Kipnis, Mannheim, vom Januar 2011.
Werke: Auswahl: Über die experimentelle Cholesterinkrankheit d. Kaninchen, Diss. med. Berlin, in: Virchows Archiv für Pathologische Anatomie u. Physiologie 249, 1924, 1–42; Ein Beitrag zur Bereitung von Peptiden, in: Hoppe-Seydlers Zs. für Physiolog. Chemie 154, 1926, 203–224; Chemische u. experimentelle Untersuchungen über die Atherosklerose, Habil. Med. Freiburg 1928; (mit H. Behring, R. Hummel u. L. Schindel) Über die Bedeutung gesättigter Sterine im Organismus, in: Hoppe-Seydlers Zs. für Physiolog. Chemie 192, 1930, 73–111; (mit H. Behring u. R. Hummel) Über die Spezifität d. Resorption von Sterinen abhängig von ihrer Konstitution, ebd., 117–123; New contributions in sterol metabolism, in: Science 74, 1931, 579–584; (mit F. Breusch) Synthesis and destruction of cholesterol in the organism, in: Journal of Biological Chemistry 103, 1933, 439–448; (mit W. M. Sperry) A micromethod for the determination of free and combined cholesterol, ebd. 106, 745–760; (mit D. Rittenberg) Deuterium as an indicator in the study of intermediary metabolism, in: Science 82, 1935, 156 f.; (mit E. A. Evans Jr.) The chemistry of the steroids, in: Annual Review of Biochemistry 6, 1937, 139–162; The investigation of intermediary metabolism with the aid of heavy hydrogen, The Harvey Lectures 1936–1937, Series XXXII, 1937; (mit D. Rittenberg) The application of isotopes to the study of intermediary metabolism, in: Science 87, 1938, 221–226; (mit K. Bloch) Studies in protein metabolism XI., The metabolic relation of creatin and creatinine studied with isotopic nitrogen, in: Journal of Biological Chemistry 131, 1939, 111–119; (mit D. Rittenberg) The study of the intermediary metabolism of animals with the aid of isotopes, in: Physiological Reviews 20, 1940, 218–248; (mit S. Ratner) The metabolism of proteins and amino acids, in: Annual Review of Biochemistry 10, 1941, 197–220; (postum) The Dynamic State of Body Constituents, Harvard University Monograph in Medicine and Public Health No. 3, 1942.
Nachweis: Bildnachweise: Reliefbüste von 1991 im Rudolf-Schönheimer-Saal im Baylor College of Medicine, Housten, Texas; Berthold, passim (vgl. Quellen u. Literatur).

Literatur: Poggendorffs Biograph.-literar. Handwörterb. VI, Teil 4, 1940, 2355 f., VII a, Teil 4, 1961, 225 f.; Nachruf in: New York Times vom 22. 9. 1941 (mit Bildnachweis); J. H. Questel, Rudolf Schönheimer †, in: Nature 149, 1942, 15 f.; Rudolf Nissen, Helle Blätter, dunkle Blätter, 1969; Urs Peyer, Rudolf Schönheimer (1898–1941) u. d. Beginn d. Tracer-Technik bei Stoffwechseluntersuchungen, 1972; H. K. Berthold, Schönheimer, Rudolf, in: NDB 23, 2007, 413– 415; ders., Rudolf Schönheimer (1898–1941), Leben u. Werk, 1998, 22003 (mit Bildnachweis); E. P. Kennedy, Hitler’s gift and the era of biosynthesis, in: Journal oft he Molecular Biology 276, 2001, 42619–42631; Lothar Jaenicke, Rudolf Schönheimer. Entdecker d. Umsatzdynamik im Körper, in: Biospektrum 8, 2002, 274–278.
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