Rueß, Hans Adolf 

Geburtsdatum/-ort: 31.01.1901;  Esslingen
Sterbedatum/-ort: 26.10.1974;  Esslingen
Beruf/Funktion:
  • Gewerkschaftssekretär, MdL (Württemberg-Baden/Baden-Württemberg)-KPD, Verfolgter des NS-Regimes
Kurzbiografie: 1915–1918 Lehre als Flaschner u. Installateur
1906–1921 Mitbegründer des Spartakus- Bundes in Esslingen, Vorsitzender d. Freien Sozialistischen Jugend bzw. der Kommunistischen Jugendvereinigung Deutschland in Esslingen
1922–1923 Bezirksleiter des Kommunistischen Jugendverbandes für Südbayern
1923–1924 Sieben Monate Festungshaft in Landsberg u. Niederschönfeld, dann aus Bayern ausgewiesen
1925–1931 Leiter des KPD-Unterbezirks Esslingen
1929–1933 Gemeinderat in Esslingen u. Vorsitzender d. KPDFraktion
1932–1933 Redakteur der „Süddeutschen Arbeiterztg.“ in Stuttgart
1933–1935 KZ-Haft auf dem Heuberg, dem Oberen Kuhberg bei Ulm u. in Dachau
1936–1939 Flaschner in Esslingen
1939–1945 Haft auf dem Hohenasperg, dann im KZ Buchenwald, u.a. mit Robert Leibbrand (1901–1963) u. Willi Bleicher (1907–1981); im April 1945 an d. Selbstbefreiung d. Buchenwaldhäftlinge beteiligt
1946–1950 M. d. Verfassunggebenden Landesversammlung, dann MdL Württemberg-Baden
1946–1956 u. 1959–1971 Gemeinderat in Esslingen-KPD, ab 1959 Freie Wählervgg. Esslingen, ab 1969 Wählergemeinschaft d. dt.-kommunist. Partei/Freie Wählervgg. Esslingen
1946–1953 Mitglied im Bundesvorstand des Gewerkschaftsbundes Württemberg-Baden, Kassierer
1952–1956 MdL
Weitere Angaben zur Person: Religion: konfessionslos
Verheiratet: I. 1924 (Esslingen) Helene Pauline, geb. Grieb (1903–1988), gesch. 1934;
II. 1947 (Esslingen) Paulina Nuding, geb. Kopp (1902–1980), Kommunistin u. Widerstandskämpferin
Eltern: Vater: Johannes David (1871–1925), Schlosser
Mutter: Marie Katharine, geb. Ruoß (1875–1961), Hausfrau u. Weißnäherin
Geschwister: 3; Marie Luise (1899–1901), Else Marie (1902–1910) u. Klara Anna (1905–1933)
Kinder: 3
GND-ID: GND/122444787

Biografie: Michael Kitzing (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 6 (2016), 421-424

Rueß war Sohn einer politisch engagierten Esslinger Arbeiterfamilie. Sein Vater, ein Schlosser, arbeitete zuletzt bei der Maschinenfabrik Esslingen und hatte schon 1895 in Leipzig den Weg in den linken SPD-Flügel gefunden. 1918/19 war er Mitglied im Esslinger Arbeiter- und Soldatenrat. Rueß’ Mutter war in der SPD zweite Vorsitzende der Frauengruppe Stuttgart und stand im engem Kontakt zu Clara Zetkin und Käte Duncker (1871–1953).
Rueß, der während des I. Weltkrieges Flaschner und Installateur lernte, war bereits mit 15 Jahren politisch aktiv, zunächst in der „Freien Jugend“, nach Kriegsende als Mitgründer des Spartakusbundes bzw. der KPD in Esslingen. Von 1919 bis Ende 1921 stand er in Esslingen an der Spitze der Freien Sozialistischen Jugend, dann der Kommunistischen Jugendvereinigung Deutschland. Diese schickte ihn im Januar 1922 als Bezirksleiter nach Südbayern, wo er als Funktionär im Jugendausschuss des Deutschen Metallarbeiterverbandes in München tätig wurde. Nachdem es bei einer von Rueß organisierten Jugenddemonstration zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei gekommen war, wurde er im Oktober 1923 zu sieben Monaten Festungs- bzw. Schutzhaft verurteilt und saß zuerst in Landsberg ein, wo nach dem gescheiterten Putschversuch vom 9. November 1923 zur gleichen Zeit Hitler inhaftiert war, und schließlich in Niederschönfeld. Anschließend wurde Rueß aus Bayern ausgewiesen und kehrte nach Esslingen zurück. Überaus schnell machte Rueß dann Karriere in der KPD. 1925 wurde er Leiter des KPD-Unterbezirks Esslingen. Im Sommer 1925 besuchte er die KPD-Reichsparteischule im sächsichen Hohenstein und wurde unmittelbar danach in den württembergischen KPD-Landesvorstand berufen, dem er bis 1933 angehörte. Bei den Kommunalwahlen 1929 zog er als jüngstes Mitglied in den Esslinger Gemeinderat ein und übernahm sogleich den Vorsitz der KPD-Fraktion. Bis 1931 als Flaschner tätig wurde Rueß dann hauptamtlicher KPD-Funktionär und an der Seite von Willi Bohn Redakteur bei der „Süddeutschen Arbeiterzeitung“ in Stuttgart.
Zu Beginn der NS-Zeit gelang es ihm, sich der ersten Verhaftungswelle nach der NS-„Machtergreifung“ in Württemberg zu entziehen. Er fand Unterschlupf in der Wohnung eines Freundes in Esslingen-Sulzgrieß. Nach neun Tagen wurde er ergriffen und im Esslinger „Kriminal“, dem ehemaligen Salemer Pfleghof, inhaftiert, von wo aus er dann mit 50 anderen Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschaftsvertretern ins KZ Heuberg deportiert wurde. Nachdem dieses Lager Ende 1933 zur Kaserne wurde, kam Rueß ins KZ Oberer Kuhberg, wo er zeitweise gemeinsam mit Kurt Schumacher (1895–1952) in den Kasematten gefangen war. Erst im Dezember 1935, inzwischen war er ins KZ Dachau eingeliefert, wurde Rueß freigelassen und konnte bei seinem früheren Lehrherren den erlernten Beruf wieder aufnehmen. Wie in vergleichbaren Fällen stand er jedoch unter polizeilicher Überwachung und musste sich zweimal wöchentlich melden.
Beim Ausbruch des II. Weltkrieges wurde Rueß erneut gefangen und ins Gefängnis Hohenasperg eingeliefert. Dann wurde er zusammen mit anderen württembergischen Gesinnungsgenossen ins KZ Buchenwald deportiert und im Steinbruchkommando eingesetzt, in dem die Todesrate besonders hoch war. Aufgrund seiner beruflichen Kenntnisse „gelang es mir bald, aus dem Himmelfahrtskommando herauszukommen“ (Erlebnisse, 2002, S. 106). Im Lager war Rueß Vertrauensmann der württembergischen Kommunisten und Verbindungsmann zu in Buchenwald festgehaltenen Gesinnungsgenossen aus Russland, Polen und Frankreich. Im April 1945 gehörte er zu den Gefangenen, die sich noch vor der Befreiung durch die Amerikaner gegen die SS-Wachmannschaften erhoben und diese überwältigten. Damals leistete er mit 21 000 überlebenden KZ-Insassen den „Schwur von Buchenwald“, den er als entscheidend für sein weiteres politisches Handeln bezeichnete: „Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel“ (Hans Rueß – Tabellarischer Lebenslauf, 2002, S. 147).
Unmittelbar nach Kriegende kehrte Rueß in seine Heimatstadt zurück, und wurde bei einem Empfang durch den kommissarischen Landrat Fritz Landenberger (1892–1978) als „Repräsentant des Geistes, der dem Nationalsozialismus Widerpart bot“ (Landrat Landenberger zum Empfang, 2002, S. 95), gewürdigt. Nun setzte Rueß sein politisches Engagement fort. Zusammen mit dem Sozialdemokraten Ludwig Strauß wurde Rueß Vorsitzender des „Arbeitsausschusses gegen den Nazismus“. Bald auch beteiligte er sich an der Neugründung der KPD in Esslingen und in Württemberg-Baden.
Im September 1945 trat Rueß mit einer am KP-Programm orientierten Grundsatzrede hervor, worin der Grundtenor seiner künftigen Beiträge im Landtag von Württemberg-Baden und Baden-Württemberg schon anklang. Neben Stolz und Trauer, die den während der NS-Zeit Umgekommenen galten, propagierte Rueß die These, dass das Finanzkapital der wahrhaft Schuldige für die Verbrechen des „Dritten Reiches“ gewesen sei. Daran band er seine Forderung nach einer grundlegenden Säuberung der Betriebe und Verwaltungen durch die Besatzungsmacht, aber auch der Nationalisierung der Bergwerke und aller lebenswichtigen Industrien. Der Boden dürfe nicht mehr als Spekulationsobjekt missbraucht werden und im Rahmen einer Bodenreform sollten auch die ehemaligen Nationalsozialisten entschädigungslos enteignet werden, deren Besitz landarmen Bauernsöhnen zukommen müsse. Als weitere Anliegen nannte Rueß die Schaffung einer einheitlichen Arbeiterpartei und die Vertretung der Kommunisten in der Landesregierung. Es sei völlig unangemessen, dass die Liberalen mit dem Ministerpräsidenten Reinhold Maier und Kultusminister Theodor Heuss gleich zwei Vertreter in der neuen Regierung hätten, die Kommunisten aber, in Esslingen am Ende der Weimarer Republik immerhin stärkste Partei, jedoch überhaupt nicht darin vertreten seien. Auch die Befürchtung, ehemalige Nationalsozialisten könnten weiterhin gegen die Kommunisten hetzen, klang als eine seiner großen Ängste an. Gegenüber anderen Nationen bekannte sich Rueß schließlich zur Verpflichtung der Wiedergutmachung des deutschen Volkes für die NS-Gräueltaten.
Neben seiner KPD-Tätigkeit war Rueß an der Gründung des örtlichen Gewerkschaftskartells in Esslingen beteiligt und übernahm bald Führungsaufgaben im Gewerkschaftsbund Württemberg-Baden, GWB, in dessen Vorstand er 1946 als Kassierer gewählt wurde, der die Aufgabe hatte, örtliche Gewerkschaftsfunktionäre beim Beitragseinzug anzuleiten. In dieser Funktion bemühte er sich auch, alten Gewerkschaftlern aus Bundesmitteln Invalidenunterstützung auszahlen zu können. Als stellvertretender Vorsitzender des Aufsichtsrats der „Vermögensverwaltung des GWB GmbH“ hatte Rueß die Aufgabe, die Rückführung des vom NS-Staat beschlagnahmten Gewerkschaftsvermögens einzuleiten. Nach der Währungsreform konnte er auf ein GWB-Vermögen von 6 Mio. DM verweisen.
In der Gewerkschaft fiel Rueß durch seine aggressive, herausfordernde Sprache auf. Im Gegensatz zur Mehrheit der Mitglieder des Bundesvorstandes lehnte er auch Hilfen aus dem Marshallplan ab, weil sie auf eine Spaltung Deutschlands hinausliefen. Im Landtag galt Rueß’ Interesse der Ausarbeitung des Betriebsrätegesetzes. Dabei kämpfte er besonders für ein weiterreichendes Mitbestimmungsrecht der Arbeitnehmer. Ohne die Demokratisierung der Wirtschaft und das Einschalten von Gewerkschaften und Betriebsräten in allen Organen der Wirtschaft, vom Betrieb bis in die höchsten Spitzen, könne das wirtschaftliche Chaos nicht überwunden werden. Rueß organisierte eine Vielzahl von Versammlungen, die die Verwirklichung von Art. 22 der Verfassung von Württemberg-Baden forderten, damit die gleichberechtigte Beteiligung der Vertreter der Arbeitnehmerschaft an Verwaltung und Gestaltung der Betriebe garantiert werde. Das Betriebsrätegesetz wurde zwar in der von Rueß gewünschten Form im Landtag verabschiedet, trat jedoch nicht in Kraft, weil es die amerikanische Militärregierung suspendierte. Daraufhin propagierte Rueß, die Arbeitnehmer sollten den Kampf auf Betriebsebene weiterführen und ersatzweise Betriebsvereinbarungen anstreben. Er forderte auch eine offensive Lohnpolitik, die notfalls durch Massenaktionen durchzusetzen sei. Durch diese aggressive Tonart hat sich Rueß in der Gewerkschaft zunehmend isoliert. Anfang 1953 musste er aus dem geschäftsführenden Landesvorstand ausscheiden.
Das Ende von Rueß’ politischer Karriere auf Landesebene ging mit dem KPD-Verbot 1956 einher, für die er übrigens 1949 und 1954 der Bundesversammlung angehört hatte. Auch auf kommunaler Ebene verlor er das Mandat im gleichen Jahr. Rueß war seit 1946 im Esslinger Gemeinderat und Kreistag und hatte nach der Abwahl von Fritz Landenberger 1948 bis zum Abschluss des Spruchkammerverfahrens des gewählten Oberbürgermeisters Dieter Roser (1911–1975) gemeinsam mit dem CDU-Politiker Hans-Karl Riedel (1893–1967) an der Spitze der Stadtverwaltung Esslingen gestanden. Mit der Gründung der Freien Wähler Esslingen noch im gleichen Jahr gelang es, die Folgen des Verbots zu unterlaufen. Wegen der kurzen Frist bis zur Kommunalwahl gelang der neuerliche Einzug ins Gemeindeparlament aber erst 1959. Rueß gehörte dem Gemeinderat bis zu seinem gesundheitlich bedingten Rückzug 1971 an.
Entsprechend den Vorgaben seiner Partei agitierte Rueß in den 1950er-Jahren gegen die Wiederbewaffnung und atomare Aufrüstung der Bundeswehr. In den 1960er-Jahren konzentrierte Rueß sein Engagement gegen die Notstandsgesetze und bekundete Sympathie mit Ho Chi Minh (1890–1969) und Fidel Castro. 1968 hatte er schließlich Anteil an der Gründung der Deutschen Kommunistischen Partei, für die er 1969, wie 20 Jahre zuvor für die KPD, erfolglos für den Bundestag kandidierte. Am Beginn der 1970er-Jahre war Rueß von Krankheit gezeichnet, 1973, ein Jahr vor seinem Tod, gab er mit der Mitgliedschaft im Kreistag sein letztes politisches Mandat auf.
Die Bewertung Rueß’ blieb bis in die Gegenwart umstritten und führte mitunter zu scharfen Auseinandersetzungen in der Esslinger Öffentlichkeit. Dem mehrfach von der Linken in Esslingen vorgebrachte Wunsch, eine Straße nach Rueß zu benennen, hat die Stadtverwaltung weder 1998 noch 2001 anlässlich seines 100. Geburtstages entsprochen.
Quellen: Stiftung A d. Parteien u. Massenorganisationen d. DDR im BA Berlin, Nachlass Hans Rueß; StadtA Esslingen, Sammlung G 207; Verhandlungen d. Verfassunggebenden Landesversammlung für Württemberg-Baden, 1946; Verhandlungen des ersten Württ.-Badischen Landtages, 1946–1950; Verhandlungen des Landtags von B-W 1952–1956.
Werke: Meine Erlebnisse in den Konzentrationslagern d. Nationalsozialisten, in: Von Weimar bis Bonn (vgl. Literatur), 1999, 303-308; Aus meinem Leben, in: Pospiech, Unbelehrbar auf d. Wahrheit Beharrende (vgl. Literatur), 2002, 68-84; Heuberg u. Kuhberg, die Nazi-Höllen in Württemberg, ebd., 85-93; Erlebnisse im Nazi-KZ, ebd., 100-110; Faksimileausschnitte aus d. ersten öffentlichen Rede von Hans Rueß nach d. Zulassung d. KPD, September 1945, ebd., 111-136.
Nachweis: Bildnachweise: Foto (1950er-Jahre), in: Baden-Württembergische Biographien 6, S. 424 – StadtA Esslingen Fslg. 1899., Egon Zweigart, Hans Rueß, 1991, 472 (vgl. Literatur).

Literatur: Rainer König, Neuaufbau d. Esslinger Gewerkschaftsbewegung 1945–1949, Zulassungsarb. zum Lehramt 1981; Egon Zweigart, Hans Rueß, in: Von Weimar bis Bonn. Esslingen 1919–1949, 1991, 472-473; ders., Widerstand u. nonkonformes Verhalten in Esslingen, ebd., 281-301; Reinhard Strüber, Das erste Besatzungsjahr, ebd., 367-387; Fritz Landenberger, Esslingen 1945 bis 1948, ebd., 441-446; Strenge Arithmetik regelt den Umgang mit d. Geschichte, in: Esslinger Ztg. vom 16.9.1994; An Hans Rueß’ Kampf erinnert, ebd. vom 24.10.1994; Neuer Anlauf gegen den Namensgeber d. Hindenburgstraße, in: Stuttg. Ztg. vom 10.12.1998; Vorstoß zur Würdigung eines Widerständlers, ebd. vom 21.10.1999; Gedenken an Hans Rueß, in: Esslinger Ztg. vom 30.10.1999; Über Hans Rueß, in: Nürtinger Ztg. vom 5.11.1999; Hans Rueß geehrt, in: Nürtinger Ztg. vom 8.2.2001; Versprechen ist nur „Schall u. Rauch“, in: Esslinger Ztg. vom 13.2.2001; Friedrich Pospiech (Hg.), Erinnern – Gedenken – Mahnen. Gemeinsam gegen rechts!: Zum 25. Todestag von Hans Rueß, 1999; Martin Schumacher (Bearb.), M. d. B. Volksvertretung im Wiederaufbau, 2002, Nr. 4831; Friedrich Pospiech (Hg.), Unbelehrbar auf d. Wahrheit Beharrende …Paula u. Hans Rueß, 2002; ders., Hans Rueß – Kommunist, Gewerkschafter, Antifaschist, ebd., 23-67; Fritz Landenberger, Rede zum Empfang d. aus dem Konzentrationslager heimgekehrten Esslinger, ebd., 94-99; Hans Rueß – Tabellarischer Lebenslauf, ebd. 146-149; Heidi Grossmann, Paula Rueß – Kommunistin u. Widerstandskämpferin, ebd., 193-235.
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