Wernicke, Herbert 

Geburtsdatum/-ort: 24.03.1946;  Auggen
Sterbedatum/-ort: 16.04.2002; Basel
Beruf/Funktion:
  • Regisseur, Bühnen- und Kostümbildner
Kurzbiografie: 1965–1966 Musikstudium in Braunschweig
1967– 971 Ausbildung zum Bühnenbildner an d. Akademie d. Bildenden Künste in München
1970–1971 Kostüm- u. Bühnenbildner am Südostbayerischen Städtetheater Landshut-Passau-Straubing
1972–1974 Kostüm- u. Bühnenbildner an den Wuppertaler Bühnen
1975 Beginn d. freiberuflichen Tätigkeit
1978/79 erste Arbeiten als Schauspiel- u. Opernregisseur
1990 Wohnsitz in Basel
1993 Regiedebüt an den Salzburger Festspielen
2001 Regiedebüt an d. Metropolitan Opera New York; Bayer. Staatspreis
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: I. 1972 Ogün, geb. Gürten (geboren 1945), Kostümbildnerin, gesch.;
II. 1995 Desirée, geb. Meiser (geboren 1961), Schauspielerin, Sängerin u. Regisseurin
Eltern: Vater: Herbert Johannes (1898–1971), Kunstmaler u. Gemälderestaurator
Mutter: Herta, geb. Meier, gesch. Frey (1911–2003)
Geschwister: Wolfgang (geboren 1948); 2 Halbgeschwister aus d. I. Ehe des Vaters: Johannes (1924–2004), Angelika (1925–2014) u. ein Halbbruder aus der I. Ehe d. Mutter: Peter Frey (geboren 1940)
Kinder: 2;
Johannes (geboren 1991),
Franziska (geboren 1996)
GND-ID: GND/123874440

Biografie: Stefan Hess (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 6 (2016), 506-509

Wernicke gehörte zur Generation der Trümmerkinder. Seine Eltern lernten sich während des II. Weltkriegs in Freiburg im Breisgau kennen, wo sein Vater als Soldat stationiert war, und bezogen dort wenige Wochen nach Kriegsende eine gemeinsame Wohnung. Beide Elternteile waren damals noch verheiratet. Für die Geburt des außerehelich gezeugten Sohnes zog die Mutter im Frühling 1946 vorübergehend ins südbadische Dorf Auggen. Kurz darauf verließen die Eltern Süddeutschland: Der Vater übersiedelte nach Bremen, wo er an der Kunsthalle seine durch den Krieg unterbrochene Tätigkeit als Gemälderestaurator wieder aufnahm, während sich die Mutter in ihrer Geburtsstadt Braunschweig niederließ. Nachdem sich beide Elternteile von ihren bisherigen Ehepartnern hatten scheiden lassen, heirateten sie 1952 in Braunschweig: beide bereits geborenen Söhne wurden legitimiert und erhielten den Familiennamen Wernicke.
Der Vater, gelernter Kunstmaler, arbeitete von 1949 bis 1965 als Gemälderestaurator am Herzog Anton-Ulrich-Museum in Braunschweig, wo er mit seiner Familie in einer Dienstwohnung logierte. Dadurch hatte Wernicke in seiner Kindheit fast täglichen Umgang mit barocker Malerei. Gleichzeitig zeigte sich bei ihm früh ein starkes Interesse für Musik und Theater. So besuchte er schon als Kind regelmäßig das dem Museum gegenüberliegende Staatstheater, fertigte Bühnenbildmodelle und komponierte im Alter von 14 Jahren eine Oper. Nach dem Abbruch des Gymnasiums absolvierte Wernicke am Landestheater Hannover, dem heutigen Niedersächsischen Staatstheater, ein Praktikum als Bühnenbildner. 1965 nahm er Unterricht, Flöte, Harmonielehre, Komposition und Dirigieren, an der Niedersächsischen Musikschule in Braunschweig. Von 1967 bis 1971 ließ er sich an der Akademie der Bildenden Künste in München bei Rudolf Heinrich zum Bühnenbildner ausbilden, setzte aber gleichzeitig sein Musikstudium fort und besuchte kunsthistorische Lehrveranstaltungen an der Universität München.
Noch während seiner Ausbildung wurde Wernicke 1970 von Klaus Schlette als Bühnenbildner ans Südostbayerische Städtetheater Landshut-Passau- Straubing engagiert, wo er Bühnenbilder für mehrere Schauspielinszenierungen entwarf. Von 1972 bis 1974 war er als Kostüm- und Bühnenbildner an den Wuppertaler Bühnen angestellt. In dieser Zeit stattete er neben mehreren Schauspielproduktionen erstmals auch eine Oper aus, den Rigoletto von Giuseppe Verdi, und war dann ab 1975 freiberuflich als Ausstatter von Sprech- und Musiktheaterproduktionen tätig. So entwarf er 1977 und 1978 die Bühnenbilder für zwei Schauspielinszenierungen von Jürgen Bosse am Nationaltheater Mannheim, während seine Frau Ogün für die Kostüme verantwortlich zeichnete.
1978 gab Wernicke sein erfolgreiches Regiedebüt mit Händels Oratorium Belsazar am Staatstheater Darmstadt, wo im folgenden Jahr auch seine ersten Arbeiten als Schauspielregisseur zu sehen waren. In den 1980er-Jahren erwarb sich Wernicke, der bei allen seinen Regiearbeiten auch die Bühnenbilder und Kostüme entwarf, den Ruf eines Spezialisten für barocke Opern und Oratorien: 1980 inszenierte er für die Schwetzinger Festspiele Rameaus Hippolyte et Aricie in Koproduktion mit der Deutschen Oper Berlin, im folgenden Jahr Vivaldis Juditha triumphans, eine Koproduktion mit dem Staatstheater Darmstadt, und 1987 Glucks Le Cinesi und Echo et Narcisse in Koproduktion mit der Staatsoper Hamburg. Eine andere wichtige Wirkungsstätte Wernickes in diesen Jahren war das Staatstheater Kassel, wo er zwischen 1984 und 1987 einen vierteiligen Zyklus über die barocke Idee des Goldenen Zeitalters erarbeitete. Seit Beginn seiner Tätigkeit als Regisseur richtete Wernicke neben barocken Werken auch Repertoire- Opern der Klassik, Romantik und Moderne ein. Den Auftakt machte 1979 Bizets Carmen am Nationaltheater Mannheim, an dem er zehn Jahre später auch Janáčeks Aus dem Totenhaus inszenierte und ausstattete. 1980 entwarf Wernicke für Götz Friedrichs Inszenierung von Mozarts Così fan tutte am Staatstheater Stuttgart letztmals bei einer Opernproduktion Bühne und Kostüme, ohne selber Regie zu führen.
Aufgrund ihrer eigenwilligen Neudeutungen waren einige von Wernickes frühen Regiearbeiten sowohl beim Publikum wie auch bei der Theaterkritik umstritten, so etwa 1981 seine Inszenierung von Wagners Der fliegende Holländer an der Staatsoper München oder 1986 Johann Strauß’ Wiener Blut in einer Transkription für sechs Konzertflügel am Berliner Theater des Westens.
1990 verlegte Wernicke seinen Wohnsitz nach Basel, das zu seinem bevorzugten Experimentierfeld wurde. Schwer- und Höhepunkte seiner Arbeit dort bildeten seine Auseinandersetzung mit der Sparte Operette und den Musikdramen von Händel, 1999 die szenische Einrichtung von Madrigalen und Kantaten von Heinrich Schütz und 2000 von Johann Sebastian Bach – für letztere Arbeit erhielt er 2001 den Bayerischen Theaterpreis – sowie 1989 die bildgewaltigen Inszenierungen von Richard Strauss’ Salome und 1997 Kagels Aus Deutschland, eine Koproduktion mit dem Holland Festival und den Wiener Festwochen. Zu seinen weiteren Basler Arbeiten gehörten auch drei Soloabende für Sänger sowie vereinzelte Inszenierungen und Ausstattungen im Bereich Sprechtheater.
In die 1990er-Jahre fiel auch Wernickes. Durchbruch zu einem der international führenden Opernregisseure und -ausstatter. 1991 inszenierte er am Théâtre Royal de la Monnaie in Brüssel unter der Intendanz von Gérard Mortier Wagners Tetralogie Der Ring des Nibelungen. Diese Arbeit wurde in den Medien ebenso gefeiert wie zwei Jahre später Monteverdis L’Orfeo, Wernickes erste von insgesamt sechs Regiearbeiten an den Salzburger Festspielen. Es folgten die Regiedebüts an der Opéra Bastille in Paris, 1997 Der Rosenkavalier von Richard Strauss, an der Staatsoper Wien, 1998 I Vespri Siciliani von Verdi, an der Royal Opera London, 2000 Tristan und Isolde von Wagner, und an der Metropolitan Opera in New York, 2001 Frau ohne Schatten von Richard Strauss. Daneben wurde Wernicke an die Opernhäuser von München, Frankfurt am Main, Hannover, Hamburg, Amsterdam, Venedig, Barcelona, Madrid und Lissabon, ans Sommerfestival in Aix-en-Provence sowie an die Schauspielhäuser von Hamburg und Zürich engagiert. Weitere bedeutende europäische Bühnen zeigten Inszenierungen von Wernicke als Übernahmen.
Bei Wernickes überraschendem Tod nach kurzer Krankheit im April 2002 blieben die Inszenierung des Händel-Oratoriums Israel in Egypt in Basel und der an der Staatsoper München begonnene Ring des Nibelungen unvollendet und weitere Regieprojekte unverwirklicht. In den Nachrufen wurde Wernicke als „einer der wichtigsten Vertreter zeitgenössischer Opern-Neudeutungen“ (FAZ, 17.4.2002), als „herausragender Opernszenograph“ (Frankfurter Rundschau, 18.4.2002) und als „genialer Bilderfinder“ (Die Zeit, 25.4.2002) gewürdigt.
Wernicke entwarf für seine Operninszenierungen vorzugsweise Einheitsbühnenbilder, die meist Innenräume zeigten und häufig von einem überraschenden, suggestiven Bildeinfall ausgingen. Dabei stützte er sich auf einen großen Bilderfundus, der sich aus seiner umfassenden Kenntnis der Kunst- und Architekturgeschichte, aus Fotografien, Filmen, historischen und aktuellen Theaterproduktionen, auch aus Alltagserinnerungen speiste. Da Wernicke illusionistischen, pseudorealistischen Bühnenzauber vermied und sich seine Inszenierungen vom „kulinarischen“ Musiktheater entschieden absetzten, galt er als Vertreter des sogenannten Regietheaters. Zwar war er ein Meister der Bühnenillusion, bevorzugte aber meist eine allegorische Bildsprache. Vor allem interessierte ihn – wie es sein langjähriger Dramaturg Albrecht Puhlmann ausdrückte – „die hochgradige Stilisierung, er war angezogen von sinfonischer Musik und ihrer Übertragung auf die Opernbühne, er inszenierte die Subtexte und Metaebenen aus Entstehungszeit, Spielzeit und Jetztzeit“ (2006, S. 10). Wernickes ausgefeilte, von Spielwitz geprägte, gelegentlich auch derbe Personenregie ließ stereotype Operngesten nicht zu. Da er für jedes Stück nach „maßgeschneiderten“ Lösungen suchte, entwickelte er im Unterschied zu anderen Ausstatter-Regisseuren wie Achim Freyer oder Robert Wilson trotz wiederkehrender Bühnenrequisiten, z.B. die als Vanitassymbole zu verstehenden Bahnhofsuhren, keinen spezifischen Regiestil. Über seinen Tod anhaltende Wertschätzung Wernickes zeigt sich in der Wiederaufnahme bzw. Übernahme mehrerer seiner Inszenierungen, etwa 2009 und 2010 im Festspielhaus Baden-Baden.
Quellen: Nachlass in d. Akademie d. Künste, Berlin.
Werke: Inszenierungen auf DVD: Carl Heinrich Graun, Montezuma, Dt. Oper Berlin, 1982/ 2012; Francesco Cavalli, La Calisto, Théâtre Royal de La Monnaie, Brüssel, 1996/2006; Jacques Offenbach, Orphée aux Enfers, Théâtre Royal de la Monnaie, Brüssel, 1997/2002; Hector Berlioz, Les Troyens, Salzburger Festspiele, 2000; Giuseppe Verdi, Falstaff, 2001/2002; Georg Friedrich Händel, Giulio Cesare, Gran Teatre del Liceu, Barcelona, 2004/2006; Richard Strauss, Der Rosenkavalier, Produktion d. Salzburger Festspiele im Festspielhaus Baden- Baden, 2009/2010; Richard Strauss, Elektra, Festspielhaus Baden-Baden, 2010/2011.
Nachweis: Bildnachweise: Fotos von 1982 u. 2002 in: Christian Fluri (Hg.), Herbert Wernicke – Regisseur, Bühnenbildner, Kostümbildner, 2011, 248f.

Literatur: (Auswahl) Sigfried Schibli, Sogkraft des Theatralischen. Der Opernregisseur Herbert Wernicke im Gespräch, in: Neue Zeitschrift für Musik 1990/6, 30-34; Herbert Wernicke oder: Die Geometrie d. Oper, Fernsehfilm von Roland Zag u. Cornelia Dvořák, ZDF, 1997; Hubertus Adam, Arrangierte Zeitschichten. Die Inszenierungen von Herbert Wernicke, in: Archithese 34, 2002/3, 8-13; Harmonie bleibt Utopie. Herbert Wernicke – Regisseur u. Bühnenbilder, 2006 (Ausstellungskatalog Berlin); Armonía frente a Utopía. Un retrato de Herbert Wernicke, La Coruña 2008; Christian Fluri (Hg.), Herbert Wernicke. Regisseur, Bühnenbildner, Kostümbildner, 2011.
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