Wais, Ruth 

Geburtsdatum/-ort: 02.10.1905;  Stuttgart
Sterbedatum/-ort: 12.11.1993;  Stuttgart
Beruf/Funktion:
  • Lehrerin und Wanderführer-Autorin
Kurzbiografie:

1912–1922 Evangelisches Töchterinstitut bis Mittlere Reife

1922–1925 Königin-Katharina-Stift Stuttgart bis Abitur

1925–1933 Studium der Mathematik und Physik in Stuttgart, Tübingen, München und Berlin

1933/34 I. und II. Dienstprüfung für das höhere Lehramt

1935 Promotion zum Dr. rer. nat. in Tübingen bei Konrad Knopp (1882–1957): „Das Taylorsche Summierungsverfahren“

1935–1936 Umschulung für den Volksschuldienst

1936–1939 Hauslehrerin in Niederländisch-Indien

1938 Eintritt in die NSDAP auf Sumatra, Nr. 5 505 528

1939–1043 Lehrerin an der Spohn-Oberschule, Ravensburg

1943–1944 Lehrerinnen-Bildungs-Anstalt Öhringen

1944–1947 wieder Spohn-Oberschule Ravensburg

1947 Studienrätin an der Mädchenoberschule in Tübingen

1950 Mörike-Oberschule für Mädchen in Stuttgart

1953 Ruhestand und intensive Arbeit am Albführer

Weitere Angaben zur Person: Religion: evangelisch
Verheiratet:

unverheiratet


Eltern:

Vater: Julius (1871–1950), Kaufmann und Schriftsteller

Mutter: Bertha, geb. Dold (1878–1961)


Geschwister:

2; Gudrun (1912–1953), verh. Straub, und Gerhard (1913–1944, gefallen)


Kinder:

keine

GND-ID: GND/125382634

Biografie: Renate Liessem-Breinlinger (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 7 (2019), 557-559

Ihr Werk, zwei kompakte Wanderführer durch die Schwäbische Alb mit Erklärungen zu Natur und Kultur, findet man mühelos im Internet samt anerkennender Kommentare – jedoch unter dem Namen ihres Vaters, dahinter kleingedruckt: „Neubearbeitet von Dr. rer. nat. Ruth Wais“. Des Vaters Albführer hatte Tradition seit 1903, war 1936 in 12. Auflage erschienen und bald vergriffen. 1949, noch zu Lebzeiten des Vaters, entschloss sich Wais, die Nachfolge anzutreten, ermutigt vom langjährigen Vorsitzenden des Schwäbischen Albvereins Georg Fahrbach (1903–1976), der „nach Abstimmung mit dem früheren Verleger“ (Bd. I., 1954, VII, Geleitwort) die Herausgabe durch den vereinseigenen Verlag veranlasste. Auch wenn das Rocktaschenformat beibehalten war, die Version der Tochter war ausführlicher, was das Wissenswerte am Weg anbelangt, und eigentlich auf drei Bände angelegt. Passioniert und diszipliniert führte sie diese Fleißarbeit über 20 Jahre lang fort mit dem Ziel, „Fremden und insbesondere den Heimatvertriebenen die schönsten Wege zu weisen.“ (Bd. I., 1954, V, Vorwort). Ihre Bekanntheit verdankte die Lehrerin dem Albführer.

Aufgewachsen im Elternhaus an der Alten Weinsteige in Stuttgart in bildungsfreundlichem Milieu legte sie das Abitur am dortigen Mädchengymnasium ab, an dem einst Mörike unterrichtet hatte. Dann schrieb sie sich an der TH Stuttgart in den Fächern Mathematik und Physik ein, damals noch eine deutliche Abkehr von den als weiblich konnotierten Fächern. Der Start war nicht leicht, denn bald nach Aufnahme des Studiums erkrankte sie an Kinderlähmung, wovon „geringe Folgen und keine nennenswerten Bewegungseinschränkungen durch Atrophie der Muskeln der linken Schulter“ (StA Ludwigsburg EL 203 Bü 720, PA Wais) blieben. Zu unterschätzen war dies aber nicht; denn die Behinderung war deutlich sichtbar und bedeutete nach damaliger Denkweise eine Minderung der Heiratschancen. Darum gewann der erfolgreiche Abschluss des Studiums und eine Anstellung mit gesichertem Einkommen für Wais und ihre Eltern besondere Bedeutung.

Ohne das Ziel aus den Augen zu verlieren, gestaltete sie ihre Studienzeit abwechslungsreich, was die Wahl der Orte wie die der Studienschwerpunkte anbelangt. Auf Stuttgart folgten Tübingen, München und Berlin. Als die Examina anstanden, kehrte sie nach Tübingen und Stuttgart zurück, um sich für das höhere Lehramt in der Heimat zu qualifizieren. Mit „befriedigend“ bestand sie 1933 die I., mit „gut“ 1934 die II. Dienstprüfung. Danach wurde sie aber nur als Praktikantin mit 60.- RM Taschengeld beschäftigt, u. a. mit statistischen Arbeiten am Kultministerium. Als Weg zu einer sicheren Anstellung wurde sie auf die Teilnahme an der einjährigen Ausbildung für Studienassessoren für den Volksschuldienst verwiesen. Sie schickte sich in das Unvermeidliche, schloss mit „sehr gut“ ab, empfand es aber als Herabsetzung. Ausweg war eine Tätigkeit in der Ferne: Sie wurde Hauslehrerin auf der Insel Sumatra, damals Niederländisch-Indien. Durch Vermittlung und mit Genehmigung des Kultministeriums schloss sie einen Dreijahresvertrag ab.

Arbeitgeber war der Diplomlandwirt Heinrich Gundert (1891–1942), der 1923 seine württembergische Heimat verlassen hatte, um in Sibosoer in der Nähe der Stadt Balige am Tobasee eine Teeplantage zu gründen. Er stammte aus einer Stuttgarter Theologenfamilie und war ein Vetter von Hermann Hesse. Die beiden Kinder Helmut und Herta waren bei Wais’ Ankunft 9 und 7 Jahre alt. Ihr Zögling Helmut schreibt in seinem 2017 veröffentlichten Buch „Baustelle Zukunft“: „Sie brachte uns viel bei“. Wais lebte auf einer „wilden Buschhochebene“ in „Urwaldeinsamkeit“ (StA Sigmaringen Wü 13 T 2 Nr. 1491/025), es gab aber auch, unter dem Hakenkreuz, Kontakte unter den Auslandsdeutschen. Auf Anregung von Zellenobmann Dr. med. Dannert verfasste sie 1938 einen Beitrag für die Zeitschrift „Die Wacht“ , die sie als Parteiblatt für Niederländisch-Indien bezeichnete, über deutsche Jugenderziehung in der Heimat und im Ausland. Der Ingenieur H. Werth hat er sie 1938 in die NSDAP aufgenommen und stellte ihr im Namen der Auslandsorganisation der NSDAP im März 1939 ein Unbedenklichkeitszeugnis für die Rückreise nach Deutschland aus. Die Tatsache, dass sie „Holländísch als Umgangssprache“ (ebd.) beherrschte, ist wohl vor allem mit ihren Erkundungstouren in den Ferien zu erklären, deren Früchte heute im Lindenmuseum zu finden sind: Textilien, Flechtarbeiten, Schmuck und Plastiken.

Nach Ablauf der Vertragszeit verbrachte Wais ein weiteres Vierteljahr in Niederländisch-Indien und erkundete zusammen mit ihren Eltern Sumatra, Java und Bali, nach Aufzeichnungen ihres Vaters auch das damalige Ceylon und Singapur. Nach der Rückkehr sei ihr „Tropenerholungszeit“ im „Tropengenesungsheim Tübingen“ verordnet worden, ob wegen einer akuten Erkrankung oder nur als Quarantänemaßnahme ist unklar. Wais fand das politische Klima in der Heimat verändert; auch in ihrer Familie hatten sich die Akzente verschoben: Die Schwester hatte 1937 einen Pfarrer geheiratet und wohnte an dessen Dienstort Warth bei Nagold. Ihr um 14 Jahre jüngerer Bruder Gerhard, der ganze Stolz des Vaters, hatte eben seine Berliner Promotion über die Alamannen beendet und für die Publikation im Ahnenerbeverlag fertiggestellt. Vater Wais hatte die Arbeit an seinen Wanderführern ruhen lassen und Korrektur gelesen. Nachdenklich fand Wais dessen Halbbruder Gustav Wais (1883–1961), der als Journalist und Presseverlagsleiter durch seine Freundschaft mit dem regimekritischen Landesbischof Theophil Wurm ins Abseits geraten war. Wais suchte noch Orientierung als der Krieg ausbrach. Sie war dankbar, dass sie rechtzeitig zurückgekehrt war, sonst hätte ihr samt Eltern Internierung gedroht.

Im Spätjahr 1939 erhielt sie eine Stelle an der Spohn-Oberschule in Ravensburg als Studienassessorin, erstmals mit regulärem Gehalt. Damit war ihr Wunsch erfüllt, „endlich einen normalen Klassenunterricht in meinen Fächern geben zu dürfen“ (StA Ludwigsburg, PA). Die Belastung aber war hoch, denn sofort mussten zur Wehrmacht eingezogene Kollegen vertreten werden. Wais unterrichtete über 200 Schüler in 12 Oberklassen. 1943 wurde sie wegen des kriegsbedingten Lehrermangels an die neugegründete Lehrerinnen-Bildungsanstalt im Öhringen versetzt, nach einem Jahr aber wieder nach Ravensburg zurückversetzt, da sie „wegen konfessioneller Bindung“ (ebd.) nicht in das regimekonforme Kollegium passte, was sie entlastend bei ihrem Entnazifizierungsverfahren anführte.

Wais’ Arbeitsbelastung stieg im Verlauf des Krieges weiter. 1943 wurde sie während der Ferien verpflichtet und in den Dornier-Werken in Friedrichshafen eingesetzt. Das Kriegsende erlebte sie in Ravensburg mit ihrer Mutter, die sie 1944 zu sich geholt hatte, vor allem wegen der Luftangriffe auf Stuttgart. Bei der Wiedereröffnung der Schulen drohte ihr als Parteimitglied eine Versetzung. Dagegen wehrte sie sich im September 1945, höflich aber bestimmt, in einem Schreiben an die Landesverwaltung für Kultus, Erziehung und Kunst der französischen Zone in Tübingen und bat mit Erfolg „um Wiedereinsetzung ins Lehramt auf meine Stelle an der Oberschule für Mädchen in Ravensburg“ (StA Sigmaringen Wü 13 T 2 Nr. 1491/025). Ausführlich schildert sie darin die Umstände ihres Parteieintritts im Ausland. Wie im Fragebogen vom August 1945 nennt sie als Zeugen ihren Onkel Gustav Wais, der im Kulturleben der Nachkriegszeit unter Kultminister Theodor Heuss Direktor des Württembergischen Landesamts für Denkmalpflege wurde.

1947 wurde sie als Studienrätin nach Tübingen versetzt und 1950, nach dem Tod des Vaters, nach Stuttgart an die Mörike-Oberschule, die sie selbst besucht hatte. Durch den Übertritt in die amerikanische Zone entstanden erneut Entnazifizierungs- Unterlagen, die das Spruchkammer-Urteil „Mitläufer“ von 1948 zu Grunde legten (StA Ludwigsburg EL 902/20 Bü 90277). Sie wohnte mit ihrer Mutter wieder im Elternhaus und erfüllte, was sie ihrem Vater versprochen hatte: die Neuauflage des Albführers in seinem Sinn zu besorgen. Damit trat sie an die Stelle des 1944 in Italien gefallenen Bruders Gerhard, dem diese Rolle zugedacht gewesen war. Deswegen schied sie 1953 aus dem Schuldienst aus.

„Um die alte Zuverlässigkeit zu gewährleisten, bin ich – wie mein Vater – jede der beschriebenen Wanderungen selbst gewandert, die meisten sogar mehrmals“ (Albführer, Bd. I., V). Ihr Buch sollte aber auch ein Heimatführer sein, deswegen arbeitete sie sich in die für sie neuen Wissensgebiete Geologie und Flurnamenforschung ein: zur Ur- und Frühgeschichte hatte sie durch die Alamannen- Forschungen ihres Bruders Zugang. Auch wenn sie ihre Person zurücknehmen wollte, sie wurde als markant wahrgenommen und regelmäßig in der Presse erwähnt. „Mit Rucksack, Regenhaut und Notizbuch“ (Stuttgarter Zeitung vom 27. 9. 1975) formulierte Wanderbuchautorin Gertrud Braune. Es kam aber auch vor, dass sie für ein „Kräuterwibli“ gehalten wurde. Anfangs wanderte ihre Mutter mit; während der Erkundung der mittleren und westlichen Alb war die Hauswirtschaftslehrerin Liselotte Vogt (1904–1980) ihre treue Gefährtin. Sie kannten sich seit der Schulzeit und lebten in den 1960/70er Jahren gemeinsam in Albstadt-Ebingen.

In den Artikeln zu Wais’ 70. Geburtstag klingt noch Hoffnung auf Erscheinen des 3. Bandes an (HStA Stuttgart J 191). Er fiel jedoch der Gebietsreform zum Opfer. Die Nachfahren übergaben das umfangreiche Material, wohl eine Fundgrube für ortsgeschichtliche Forschung, dem Schwäbischen Albverein. Nach dem Tod der Freundin 1980 suchte Wais Erholung im über 900 m hoch gelegenen Burgfelden, dem heute kleinsten Stadtteil von Albstadt mit dem alten Kirchlein und der großen Linde, das schon ihr Vater geliebt hatte. Ihre letzten Jahre verbrachte Wais im Stuttgarter Elternhaus. Von hier aus fand der Inhalt des Sumatra-Zimmers den Weg ins Lindenmuseum.

Wais, die in einfachen Worten Mathematik erklären konnte, hätte vermutlich nie von „Selbstverwirklichung“ gesprochen, hat sie aber erreicht. Wenn es sein musste, war sie ein bisschen barsch, ausgestattet aber mit sicheren Kenntnissen, logischen Fähigkeiten und viel Energie, wie es ihre Beurteilung von 1946 formuliert.

Quellen:

LKA Stuttgart, Familienbuch, auszugsweise; HStA Stuttgart J 191, Zeitungsausschnitte 1980, 1993, Q 3/67 Bü 4; StA Ludwigsburg EL 203 Bü 720, Personalakte, E 203 II Bü 648, Zulassungsarbeit II. Dienstprüfung, EL 902/20 Bü 90277, Fragebogen 1950, F 201 Bü 506 und 597, Reisepässe, EL 68 IV Nr. Nr. 552, Kartenausschnitte Albführer, E 216 Bü 269, Württembergische Kommission für Landesgeschichte zu Gerhard Wais, FL 300/31 III Bü 316, Toterklärung Gerhard Wais StA Sigmaringen Wü 13 T 2 Nr. 1491/025 und Nr. 2616/579, Spruchkammerakten; BA Berlin, Mitgliedskarte NSLB von 1933 und NSDAP von 1938, R 9361–VIII Kartei/ 25161600; A des Schwäbischen Albvereins, Teilnachlass Wais, Briefe Fotos und ein Bericht von Wais, Auskunft von Wais Haderthauer; masch. Aufzeichnungen von Julius Wais im Besitz von Susanne Steding; Auskünfte von Susanne Steding, Winnenden, Maria Straub, Stuttgart, Familienangehörige, Anja Gerling, StadtA Albstadt-Ebingen, Eberhard Tröger, StadtA Öhringen, Iris Müller, Lindenmuseum Stuttgart, Willi Siehler, Wanderbuch-Autor, Blaustein-Weidach.

Werke: Das Taylorsche Summierungsverfahren, Diss. rer. nat. Tübingen, 1935; Deutsche Jugenderziehung in der Heimat und im Ausland, in: Die Deutsche Wacht , Niederländisch-indische Halbmonatsschrift für Handels- und Kolonialpolitik, Volkswirtschaft und Völkerrecht Nr. 11, 1938; Albführer. Wanderungen durch die Schwäbische Alb, Bd. I, Östlicher Teil: Vom Ries zum Hohenneuffen, 1954 (568 S.), Bd. II, Mittlerer Teil: Von der Achalm bis zum Bussen, 1971 (836 S.); Lindenmuseum Stuttgart Nr. 4172, Völkerkundliche Sammlung, 143 Objekte aus Sumatra.
Nachweis: Bildnachweise: Foto (1980) S. 547, Familienbesitz. – Albvereinsblätter 1975 und 1980.

Literatur:

Gerhard Wais (Bruder Wais’), Die Alamannen in ihrer Auseinandersetzung mit der römischen Welt. Untersuchungen zur germanischen Landnahme, 1940; Georg Fahrbach, Nachruf auf Julius Wais, in: Blätter des Schwäbischen Marbach, Jg. 56/6, 1950, 100; Stuttgarter Nachrichten vom 12.10.1971, Wanderführer als Bestseller. Ehrung für Julius Wais an seinem 100. Geburtstag; Georg Fahrbach, Dr. Ruth Wais zum 70. Geburtstag, in: Blätter des Schwäbischen Albvereins Jg. 81/5, 1975, 140 f; Gertrud Braune, Mit Rucksack, Regenhaut und Notizbuch, in: Stuttgarter Zeitung vom 27.9.1975; Helmut Schönnamsgruber, Ruth Wais – 75 Jahre, in: Blätter des Schwäbischen Albvereins Jg. 86/6, 1980, 184;.Wolfgang Albrecht, Hans-Joachim Kertscher, Wanderzwang – Wanderlust: Formen der Raum- und Sozialerfahrung zwischen Aufklärung und Frühindustrialisierung, 1999, 299; Helmut Gundert, Baustelle Zukunft. Ein engagiertes Leben in Zeiten globaler Krisen, 2017, 19 f.

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