Sinzheimer, Max 

Geburtsdatum/-ort: 20.06.1894; Frankfurt am Main
Sterbedatum/-ort: 16.10.1977; Elm Grove, Wisconsin, USA
Beruf/Funktion:
  • Musiker, Dirigent, Komponist, Chorleiter, Verfolgter des NS-Regimes
Kurzbiografie:

bis 1914 Musikstudium am Hochschen Konservatorium in Frankfurt am Main und in München

1914/15 Kriegsdienst

1915–1917 Korrepetitor am Landestheater Darmstadt

1917–1920 Kapellmeister am Nationaltheater Mannheim

1919–1938 Musikalischer Leiter des jüdischen Männergesangvereins Liederkranz, Mannheim

1920–1935 Privatmusiklehrer in Mannheim

1921–1933 Dirigent des Stamitz-Orchesters und aktives Mitglied der Gesellschaft für neue Musik in Mannheim

1922–1925 Leiter des Bachchors der evangelischen Christuskirche in Mannheim

1929–1938 Leiter des Mannheimer Synagogenchors

1938 Inhaftierung im KZ Dachau nach der Reichspogromnacht

1939 Emigration in die USA

1940–1944 Anstellung an der Anshe Emet Synagoge in Chicago und der ihr angeschlossenen Highschool

ab 1944 Direktor des Opern- und Chordepartments der American University of Music Chicago und Musikdirektor an der St. Andrew Lutheran Church in Chicago

1976 Stamitz-Plakette der Stadt Mannheim und des Kurpfälzischen Kammerorchesters

Weitere Angaben zur Person: Religion: israelitisch
Verheiratet:

I. 1924 (Mannheim) Helene (Lene), geb. Hesse (1896–1957), Geigerin und Geigenlehrerin;

II. um 1960 (USA) Gertrude Margaretha, geb. Schamber (1904–1993)


Eltern:

Vater: Siegmund (1857–1927), Kaufmann

Mutter: Bertha, geb. Marx (1869–1921), Hausfrau


Geschwister:

keine


Kinder:

keine

GND-ID: GND/131427083

Biografie: Susanne Schlösser (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 7 (2019), 517-520

Sinzheimer wurde als Sohn eines aus Gelnhausen stammenden und in Frankfurt am Main tätigen Kaufmanns geboren; seine Mutter war eine gebürtige Mannheimerin. Über seine Schulbildung ist nichts bekannt. Da er bereits im Alter von 20 Jahren sein Musikstudium als Schüler des Organisten Carl Breidenstein sowie von Bernhard Sekles (1872–1934) am Frankfurter Hochschen Konservatorium abschloss, ist davon auszugehen, dass sein musikalisches Talent früh entdeckt und gefördert wurde. In München studierte er außerdem bei Walter Braunfels (1882–1954) Komposition, wo er die Bekanntschaft von Carl Orff (1895–1982) machte, mit dem er bis zu seiner Emigration in Kontakt blieb.

Nach kurzem Kriegsdienst ab November 1914 wurde er 1915, mit 21 Jahren, Korepetitor am Landestheater Darmstadt. Zwei Jahre später wechselte er als Kapellmeister an das Mannheimer Nationaltheater, wo ihm – als Anfänger neben den beiden renommierten Dirigenten Wilhelm Furtwängler (1896–1954) und Felix Lederer (1857–1957) – nur die „leichte“ Muse übertragen wurde, also Spielopern und Operetten. 1920, als Furtwängler das Nationaltheater verließ, endete auch Sinzheimers Mannheimer Engagement.

Sinzheimer blieb aber in dieser Stadt und ließ sich als freischaffender Musiker nieder. Bereits seit 1919 war er der künstlerische Leiter des traditionsreichen und künstlerisch anspruchsvollen jüdischen Gesangvereins Liederkranz. Daneben gab er als Privatlehrer Musikunterricht und dirigierte von 1921 bis 1933 das von ihm mitbegründete Stamitzorchester, das vor allem Werke der Mannheimer Schule in kammermusikalischer Besetzung spielte. Das Stamitzorchester probte in den Konfirmandensälen der Mannheimer Christuskirche. Möglicherweise war das ein Grund dafür, dass er trotz seiner jüdischen Herkunft von 1922 bis 1925 außerdem den an dieser Kirche angesiedelten Bachchor dirigieren konnte. Ebenfalls seit 1921 engagierte er sich in der von dem Komponisten Ernst Toch (1887–1964) gegründeten Mannheimer Gesellschaft für Neue Musik. Bis 1933 war Sinzheimer wesentlich an der Programmgestaltung beteiligt, dirigierte oft die regelmäßigen Konzerte oder wirkte als Pianist an den kammermusikalischen Aufführungen der Gesellschaft mit. Auch im Liederkranz nahm er immer wieder zeitgenössische Werke in die Programme auf, so dass er neben Toch zu einem wichtigen Pionier der „Neuen Musik“ in Mannheim wurde.

1924 heiratete er. Seine Frau hatte sich in Mannheim als Geigerin bereits einen Namen gemacht hatte; ihr Vater Richard war erster Geiger am Nationaltheater, ihre Mutter Charlotte Berg Schauspielerin. Zusammen mit seiner Frau trat er als Duo und mit wechselnden Cellisten auch als Trio auf. Über Mannheim hinaus ging seine Tätigkeit als Gastdirigent, z. B. des Sinfonieorchesters des Frankfurter Orchestervereins. 1927 prophezeite die Zeitung Frankfurter Post nach einem solchen Konzert: „Aus vielversprechenden Anfängen heraus ist er heute schon ein Dirigent von Bedeutung geworden und ist es mir gar nicht zweifelhaft, dass er einmal unter die Großen gerechnet werden wird.“ (StadtA Mannheim Kl. Erw. 693, Bd. 2, Sinzheimer) Doch dazu sollte es nicht kommen.

Während bisher die jüdische Identität im Wirken Sinzheimers kaum eine Rolle spielte, änderte sich das gegen Ende der 1920er Jahre. So übernahm er zusätzlich zu den anderen Verpflichtungen auch die Leitung des Synagogenchors. 1930 war er der Dirigent der Uraufführung der Lehrkantate „Licht und Volk“ von Hugo Chaim Adler (1896–1955), deren Text der Mannheimer Rabbiner Max Grünewald (1899–1992) verfasst hatte.

Das Jahr 1933 brachte für Sinzheimer und den Liederkranz einschneidende Veränderungen. Bis 1936 verwandelte sich der ehemalige Männergesangverein nach und nach in den Liederkranz e. V. – Jüdischer Kulturbund, dessen Aufgabenstellung Sinzheimer 1936 im „Israelitischen Gemeindeblatt“ folgendermaßen beschrieb: „Die Arbeit […] ist nach zwei nicht leicht zu vereinbarenden Zielen ausgerichtet: dem Publikum Ersatz zu bieten für die ihm nicht mehr zugänglichen öffentlichen Veranstaltungen. […] Andererseits besteht die jüdische Kulturaufgabe nicht nur im ‚Ersatz’ des verlorengegangenen […], sondern in der Pflicht zur Herausstellung jüdischer Inhalte.“ (Israelitisches Gemeindeblatt, 17, 1936, S. 31). Neben dem Chor entstand die sogenannte Instrumentalgemeinschaft. Man kümmerte sich außerdem sehr um die musikalische Erziehung des Nachwuchses, und gestaltete nahezu alle zwei Wochen ein von jüdischen Künstlern und Künstlerinnen gestaltetes Kulturprogramm. Dabei spielte Sinzheimer die Hauptrolle, der sich 1934 in einem Brief an Carl Orff als „eine Art jüdischer Generalmusikdirektor“ (Kater, Michael H.: The Twisted Muse. Musicians and Their Music in the Third Reich, New York u. a.: Oxford University Press, 1997, S. 100) bezeichnete. Hilfreich war dabei, dass der Liederkranz noch über ein Vereinshaus in Q 2, 16 in der Mannheimer Innenstadt verfügen konnte. Bis 1938 wurde dort Theater und Oper gespielt und – trotz allen äußeren Unbills – auch manches Fest gefeiert.

Sinzheimer war inzwischen aber überzeugt, dass es besser wäre, Deutschland zu verlassen. 1935 hatte man ihm und seiner nichtjüdischen Frau Lene als „jüdisch Versippter“ die Mitgliedschaft in der Reichsmusikkammer abgesprochen und ihnen damit die Möglichkeit des Privatunterrichts für nichtjüdische Kinder genommen. Unter anderem deshalb suchte er den Kontakt zu Ernst Toch, der seit 1934 in den USA lebte. Denn wer in die USA einwandern wollte, brauchte ein Affidavit, die Bürgschaft eines US-Bürgers. Dieses zu erhalten war nicht einfach, wenn man – wie die Sinzheimers – keine Verwandte oder Freunde in den USA hatte. Toch war bereit, bei der Auswanderung zu helfen. Es gelang im Sommer 1938, Irvin Talbot (1894–1973), einen bei Paramount beschäftigten Filmmusiker jüdischer Abstammung, dafür zu gewinnen, die notwendige Erklärung für das Ehepaar abzugeben; denn auch Sinzheimers nichtjüdische Ehefrau hatte sich entschlossen, mit ihrem Mann zu emigrieren. Die Visumserteilung zog sich noch bis Frühjahr 1939 hin. Sinzheimer gehörte deshalb zu den Betroffenen der Pogromnacht vom 9. zum 10. November 1938 in Mannheim, in deren Folge er gemeinsam mit vielen männlichen Mitgliedern der jüdischen Gemeinde und des Liederkranzes vom 11. November bis 5. Dezember 1938 im KZ Dachau inhaftiert war.

Im März 1939 emigrierte das Ehepaar Sinzheimer über London in die USA. Schon am 21. Mai 1939 dirigierte er wieder, ein Wohltätigkeitskonzert zugunsten von Flüchtlingen im Tremont Temple in New York, von dessen Gemeinde er Anfang Mai den Auftrag erhalten hatte, aus begabten „Refugees“ einen Chor und ein Orchester zusammenzustellen. 1940 erhielt er eine Stelle an der Anshe Emet Synagoge in Chicago und an der ihr angeschlossenen Highschool. 1944 wurde das Ehepaar Sinzheimer amerikanische Staatsbürger; Sinzheimer nahm eine Stelle an der Reformsynagoge in Chicago an. In späteren Jahren war er als Direktor des Opern- und Chordepartments der American University of Music in Chicago tätig, außerdem komponierte er und wirkte als Musikdirektor an der St. Andrew Lutheran Church in Chicago. 1957 starb Sinzheimers Frau und Anfang der 1960er Jahren heiratete Sinzheimer wieder. Seine zweite Frau war wiederum keine Jüdin, aber in Mainz geboren. Wie sie in die USA gekommen ist, ist unbekannt.

Nach dem Ende des II. Weltkriegs wurde Sinzheimer im Rahmen eines Abkommens zwischen dem Land Baden-Württemberg und der IRSO, Jewish Restitution Successor Organisation, für das erlittene Unrecht entschädigt. Vergeblich hoffte er aber bis zu seinem Tod auf eine Einladung als Dirigent nach Mannheim – für ihn der einzige Weg einer „wirklichen“ Wiedergutmachung. Ihm wurde nur als späte Ehrung zuteil, als die Stadt und das Kurpfälzische Kammerorchester ihm 1976 die Stamitz-Plakette verlieh. Sie wurde ihm aber nicht in Mannheim, sondern in Chicago durch das deutsche Konsulat überreicht. Für Sinzheimer war das ein großer Wermutstropfen in seiner Freude, was in seinem Dankschreiben auch deutlich zum Ausdruck kommt. Eine weitere Chance, ihn nach Mannheim einzuladen, gab es nicht mehr: Sinzheimer starb im folgenden Jahr im Alter von 83 Jahren.

Quellen:

Dt. Nationalbibliothek, http://deposit.ddb.de/online/exil/swkatalog/s/39564.htm: Deutsche Exilpresse 1933–1945 digital, Schlagwortkatalog zur Zeitschrift Aufbau, Recherche Sinzheimer; GLA Karlsruhe 508 Zugang 1968–23, Nr. 738, Max Sinzheimer; Institut für Stadtgeschichte, Frankfurt am Main S2/10311 Max Sinzheimer; StadtA Mannheim, Marchivum, Kleine Erwerbungen 693, Chronik des Männergesangvereins Liederkranz bis 1934, Zug. 9/1962, Reichsmusikkammer, Kreismusikerschaft Mannheim, Nr. 113, Sinzheimer, Lene und Max Zug. 34/1992, Amt für Rats- und Öffentlichkeitsarbeit, Nr. 412, Briefwechsel mit Max Sinzheimer, ZGS-Mappe S 1/3924, Max Sinzheimer, Bibliothek J 1, Israeltisches Gemeindeblatt 1922–1938; University of California Los Angeles, Ernst Toch Archive, Music Library, Special Collections, Schoenberg Hall, Room B 425, Briefwechsel zwischen Max Sinzheimer und Ernst Toch 1937–1945.

Werke: Kompositionen (Entstehungsdaten unbekannt, daher alphabetisch): Blessed Are Those Who Fear the Lord, Psalm 128; Look, ye Saints, the Sight is glorious, Hymn anthem on the tune Bryn Calfaria, für gemischte Stimmen und Orgel/Klavier, Text: Thomas Kelly (1769–1854), Melodie: William Owen (1814–1893); Magnificat, komponiert für den Chor der St. Andrew Lutheran Church; Psalm 121, Text: M. S.; Set Me as a Seal upon Your Heart; Song of Dedication. Psalm 30, für gemischten Chor, Tenor oder Sopran solo und Orgel; The Beatitudes, für hohe (mittlere) Singstimme, gemischten Chor und Orgel/Klavier, in Erinnerung an Walter Hinrichsen; The 23rd Psalm. – Schriften: Max Sinzheimer publizierte regelmäßig Artikel über seine musikalische Arbeit im „Israelitischen Gemeindeblatt“, Mannheim. Außerdem: Diskussionsbeitrag zur Frage der Metronomisierung, in: Pult und Taktstock. Fachzs. für Dirigenten, H. 7/8, Sept./Okt. 1926, 135 f.; Zur Männerchorfrage, ebd., Jan. 1927, 15 f.; Zur Uraufführung von Arnold Schönbergs op. 31; Variationen für Orchester, in: Pult und Taktstock., Dez. 1928, 117.
Nachweis: Bildnachweise: Foto (1919) S. 512, StadtA Mannheim, Marchivum, Bildsammlung, AB00001–007. – dort auch: AB00833, AB00841–001, KF000035, KF015983, KF041027.

Literatur:

Kurzgefasstes Tonkünstlerlexikon: für Musiker und Freunde der Musik, Paul Frank, Wilhelm Altmann (Hg., Bearb.), 1. Aufl., Leipzig: sehr erw. 12. Aufl. 1926. Dt. Musiker-Lexikon, Erich H. Müller (Hg.), Dresden: Verlag Limpert, 1929; Herbert Meyer, Ernst Löwenthal, Max Sinzheimer. Ein Beitrag zur Mannheimer Musikgeschichte, in: Mannheimer Hefte1 und 2, 1979, 14 f. und 91; Michael H. Kater, The Twisted Muse. Musicians and Their Music in the Third Reich, 1997; Karl-Hermann Schlage, Zwei Mannheimer Musiker im Dienst der geistlichen Musik in Synagoge und Kirche, in: BH 1, 1999, 88–93; Susanne Schlösser, Das goldene Buch des Liederkranzes. Die Chronik eines jüdischen Männergesangsvereins in Mannheim 1856–1938, hgg. von den Freunden des StadtA Mannheim e. V., 2004 (mit CD-ROM, = Stadtgeschichte digital Nr. 4); Karl-Hermann Schlage, Das musikalische Leben der jüdischen Gemeinde Mannheim von 1855–1938, in: Mannheimer Geschichtsblätter, N. F. 12, 2005, 109–136; Susanne Schlösser, „Ein Dirigent von Bedeutung“ – der jüdische Musiker Max Sinzheimer in Mannheim und in der Emigration, in: Mannheimer Geschichtsblätter, N. F. 12, 2005, 137–146; Dies., Max Sinzheimer als Dirigent und Programmgestalter des jüdischen Männergesangvereins Liederkranz in Mannheim 1919–1938, in: Spurensicherung. Der Komponist Ernst Toch (1887–1964) – Mannheimer Emigrantenschicksale, Mannheimer Hochschulschriften, Bd. 6, 2007, 283–300; Dies., „Keine Experimente, sondern Wahrhaftigkeit“. Ernst Toch und Max Sinzheimer – Zwei Pioniere der „Neuen Musik“ im Mannheim der Zwischenkriegszeit (mit Audio CD mit Werken von Ernst Toch aus den Mannheimer Jahren, ausgewählt von Michael Flaksman und eingespielt von Friedemann Eichhorn, Jonathan Flaksman, José Gallardo, Jelena Očić und Sang-Hee Park), hgg. von den Freunden des StadtA Mannheim e. V. (= Stadtgeschichte digital, Nr. 7), 2010.

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