Corterier, Fritz Louis Wilhelm 

Geburtsdatum/-ort: 19.07.1906; Wunstorf
Sterbedatum/-ort: 27.04.1991;  Wildbad
Beruf/Funktion:
  • Dipl.-Kaufmann, Vereidigter Bücherrevisor, MdB-SPD, Gegner des NS-Regimes
Kurzbiografie: 1916-1923 Scharnhorst-Realschule Wunstorf, Lutherschule Hannover, Primareife
1923-1926 Kaufmännische Lehre in einer Ex- und Importfirma in Bremen
1927-1933 Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Handelshochschule Berlin (1927-1928), Universität Tours (1928), Berlin (1928-1929), Abitur (extern) in Mannheim (1929), Handelshochschule Mannheim (1929-1933)
1928 Mitglied des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes und der Vereinigung Republikanischer Studierender, 1929 Eintritt in die SPD
1933 Dipl.-Kaufmann, Sportberichterstatter u. a. für Neue Badische Landeszeitung, Mannheimer Generalanzeiger, Sportzeitung Ludwigshafen, Badische Presse, Karlsruhe; Relegation (15.11.) durch den Rektor der Handelshochschule Mannheim (aufgehoben am 5.12.1945)
1934 Eröffnung eines Steuerberatungsbüros in Karlsruhe, Lehrer an einer privaten Handelsschule
1940 Einberufung zur Marineartillerie, Ausbildung in Emden, eingesetzt bei Brest, Vimereux, St. Dié, nach kurzer britischer Kriegsgefangenschaft am 20.07.1945 Entlassung, Wiederaufnahme der beruflichen Tätigkeit in Karlsruhe
1950-1962 Vorsitzender des Ortsvereins Karlsruhe der SPD
1953-1969 MdB, 1953-1961 ordentliches Mitglied, 1961-1965 stellvertretendes Mitglied im Finanzausschuß des Bundestages, 1961-1965 ordentliches Mitglied im Ausschuß für Mittelstandsfragen, 1958-1967 Stellvertretendes Mitglied in der Deutschen Delegation in der Beratenden Versammlung des Europarates
1967-1970 Mitglied des Europäischen Parlaments
1969 Großes Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland
1970 Medaille des Europäischen Parlaments in Gold
1981 Ehrenmedaille der Stadt Karlsruhe, Ehrenmitglied des SPD-Kreisverbands Karlsruhe, Ehrenmitglied der Europaunion
Weitere Angaben zur Person: Religion: evangelisch
Verheiratet: 1935 Karlsruhe, Maria, geb. John, Dipl.-Kaufmann
Eltern: Friedrich Corterier (1876-1956), Lehrer
Marie, geb. Bestenbostel (1879-1955)
Geschwister: 2
Kinder: Peter (geb. 1936), Dr. jur., MdB (SPD) 1969-1983, 1984-1987, Staatsminister im Auswärtigen Amt, 1987-1996 Generalsekretär der Nordatlantischen Versammlung, Brüssel
Jutta (geb. 1946), Lehrerin
GND-ID: GND/140771808

Biografie: Horst Ferdinand (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 2,81-84

Als sich Corterier nach der im Juni 1933 bestandenen Diplomprüfung am 12.11.1933 an die Leitung der Handelshochschule Mannheim mit der Bitte um Beurlaubung für das Wintersemester 1933/34 wandte, da er sich auf die nach der Diplomprüfung angestrebte Promotion vorbereiten wollte, teilte ihm der Rektor der Mannheimer Hochschule, Heinrich Sommerfeld, mit, daß er „gemäß dem Erlaß des Herrn Ministers des Kultus und Unterrichts und der Justiz – Abtlg. Kultus und Unterricht – in Karlsruhe vom 16. August d. J. Nr. A 22236, der die Säuberung der Hochschulen von marxistischen und sonstigen volksfeindlichen Studierenden vorschreibt“, für ein Weiterstudium an einer deutschen Hochschule nicht in Betracht komme. Dies war die Reaktion der Nationalsozialisten auf vielfache Bemühungen Corteriers, innerhalb der Studentenschaft Respekt und Verständnis für die Weimarer Republik zu erwecken. Noch am 12.3.1933, also nach der verhängnisvollen Reichstagswahl vom 5.3.1933 und Monate nach der „Machtergreifung“ durch Hitler, hatte er in einer Zeitschrift „Deutsche Republik“ darauf hingewiesen, daß nationalistische Ideologien mehr und mehr die studentische Selbstverwaltungsarbeit beherrschten und daß die Organisation der Studenten, die „Deutsche Studentenschaft“, eine rein nationalsozialistische Parteiangelegenheit und ein Hort des schärfsten Antisemitismus geworden sei. Corterier war schon bei Beginn seines Studiums der „Vereinigung Republikanischer Studierender“ beigetreten, die dem „Deutschen Studentenverband“ angehörte, der Organisation der linksgerichteten, auch jüdischen demokratischen Studentengruppen. 1929 übernahm er die Leitung der südwestdeutschen Sektion der Republikanischen Studentenvereinigung und wurde 1931 stellvertretender Reichsvorsitzender dieser Gruppierung. Er organisierte eine Reihe von Arbeitstagungen der republikanischen Studenten, so vom 19.-21.2.1932 in Mannheim, wo Themen wie „Die hochschulpolitische Lage und die organisierte Abwehr des Hochschulfaschismus“ oder „Neue Wege in der Bekämpfung des Faschismus“ auf der Tagesordnung standen. Im Rahmen des „Deutschen Studentenverbands“ wirkte Corterier bei Treffen deutscher und französischer Studenten mit; Themen einer Tagung in Mannheim im Dezember 1930: Kriegsächtung, Verständigungspolitik, Deutsch-Französische Annäherung, Vereinigte Staaten Europas. Allerdings gehörte nur eine verschwindende Minderheit der deutschen Studenten der republikanischen Studentenvereinigung an, was aber Corterier in seinen Aktivitäten nicht im mindesten beeindruckte. Die politischen Spannungen an den Universitäten wuchsen von Semester zu Semester. „Eine Mischung von Landsknechtsbiederei, zackiger Brutalität und bedrohlicher Insinuation ließ in den akademischen Räumen aufhorchen wie die Fremdsprache eines Eroberers“ (Friedrich Kuhn). Corterier berichtete später, daß es infolge der Spannungen „kurz vor der körperlichen Auseinandersetzung“ gestanden habe. Die Antwort auf Corteriers couragierten Aufsatz in der „Deutschen Republik“ kam postwendend in einem NS-Blättchen „Die Bresche“, wo ein sich „Nebbich“ unterzeichnender Autor Corterier und seine Freunde Helmut Wolfgang Faißt, Kurt Hirche und Fritz Rinderspacher in der bei den Nationalsozialisten üblichen Gossensprache persönlich verunglimpfte und Corterier als „Talmud-Zögling“ bezeichnete. Daß er einige Monate später aus der Hochschule hinausgeworfen wurde, war nach diesen Vorgängen mehr oder weniger zwangsläufig. Nicht einmal das Zeugnis über die bestandene Diplomprüfung wurde ihm ausgehändigt; er bekam es erst drei Jahre später auf Umwegen.
Nun stand Corterier praktisch auf der Straße. Sein Vater war auf Grund des berüchtigten Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums entlassen worden und konnte kaum mehr einspringen, und der als „Volksfeind“ Titulierte hatte keinerlei Unterstützung von Seiten des NS-Staates zu erwarten. So schlug er sich zunächst als Sportberichterstatter für die lokale Presse durch, bevor er, zusammen mit seiner im gleichen Fach diplomierten Ehefrau, im Jahre 1934 ein Steuerberatungsbüro eröffnete; gleichzeitig unterrichtete er für monatlich 80 Mark an einer privaten Handelsschule die kaufmännischen Fächer. Es war ein mehr als bescheidener Anfang, aber Sach- und Fachkenntnis des jungen Ehepaars sprachen sich herum, und so konnte nach kargen Jahren des Aufbaus eine wirtschaftlich auskömmliche Basis erreicht werden. Da kam der Krieg. Ob er wollte oder nicht, Corterier mußte fünf Jahre lang Uniform tragen und tauchte wie viele andere Systemgegner in der Anonymität der Deutschen Wehrmacht unter.
Sofort nach der Rückkehr im Juli 1945 begann er, wieder zusammen mit seiner Ehefrau, mit dem Neuaufbau seines Büros im zerstörten Karlsruhe, das ihm längst zur Heimat geworden war. Aber zugleich meldeten sich in der äußeren Hoffnungslosigkeit des Jahres 1945 unvergessene Erinnerungen aus Studententagen: „Ich hatte nie einen großen politischen Ehrgeiz“, sagte er später, „aber eine unbändige politische Leidenschaft.“ Selbstverständlich war er sofort nach der Rückkehr wieder der SPD beigetreten, und zusammen mit gleichgesinnten Freunden – unter ihnen Hermann Veit, Günther Klotz, Alex Möller – baute er die örtliche Parteiorganisation in Karlsruhe auf; als er 1962 als Ortsvereinsvorsitzender ausschied, stellte die SPD 25 der 48 Karlsruher Stadtverordneten. Während sich Veit, Klotz und Möller in der Kommunal- und Landespolitik betätigten – Möller erst später auch in der Bundespolitik –, führte der Weg des Ortsvereinsvorsitzenden in das Bonner Parlament. In vier Bundestagswahlen – 1953, 1957, 1961, 1965 – unterlag er zwar viermal den von der CDU aufgestellten Kandidaten, rückte jedoch über die Landesliste in den Bundestag ein und konnte als persönlichen Erfolg verbuchen, daß er bei allen vier Wahlen erheblich mehr Erststimmen erhielt als seine Partei Zweitstimmen, in einem Fall – 1957 – fast viertausend. Der Weg des Wirtschaftsfachmanns Corterier im Bonner Bundestag war weitgehend vorgezeichnet: Vor allem kümmerte er sich in den Aufbaujahren der Bundesrepublik Deutschland um die Steuer- und Finanzgesetzgebung – Umsatzsteuerreform, Splitting, Kartellgesetz, Ausführung des Lastenausgleichs, dies letztere als vom Bundestag gewähltes Mitglied des Verwaltungsrates der Lastenausgleichsbank während der 3., 4. und 5. Wahlperiode des Bundestages – sowie um die ihm besonders am Herzen liegenden Mittelstandsfragen, seine Fraktion benannte ihn als Sprecher für dieses ihm von Berufs wegen gut bekannte Gebiet. So konnte er dafür sorgen, daß die berechtigten Interessen insbesondere der Handwerker bei vielen Gesetzesvorhaben berücksichtigt wurden. Es verstand sich von selbst, daß er sich, nach den Jahrzehnte zurückliegenden Erfahrungen auf dem europäischen Parkett, der Europapolitik verschrieb; dabei setzte er sich von vornherein für die Ausweitung des damaligen Sechser-Europas auf das ganze Europa ein – er durfte viel später die Verwirklichung dieses seinerzeit in schemenhafter Ferne liegenden Ziels noch erleben.
In der heftig umstrittenen Südweststaat-Frage engagierte er sich zwar zunächst für die dann 1952 erfolgte Bildung des Landes Baden-Württemberg, dies hielt er jedoch später für „seinen größten politischen Fehler“, da Baden davon keine Vorteile gehabt habe und Karlsruhe gegenüber Stuttgart hoffnungslos ins Hintertreffen geraten sei. Mit großer Leidenschaft und unter Aufgebot seiner nicht geringen Eloquenz stritt er für die Anberaumung des auf Grund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts von 1956 fälligen Volksentscheids im alten Lande Baden – „Der Volksentscheid muß her!“ – und wandte sich nachdrücklich gegen dessen kunstvoll betriebene Verschiebung (bis 1970). Als einziges der 162 Mitglieder der SPD-Fraktion des Bundestages unterschrieb er den Antrag des Abgeordneten Dr. Hermann Kopf und der Fraktion der CDU/CSU vom 27.6.1957, in dem die Bundesregierung – vergeblich, wie sich dann zeigte – ersucht wurde, den Entwurf eines Gesetzes über die Neugliederung des Gebietsteiles Baden des Bundeslandes Baden-Württemberg nach Art. 29 Abs. 3 des Grundgesetzes vorzulegen.
Es wird berichtet, daß Corteriers Großvater in Wunstorf, ein echter Welfe und „Bürgervorsteherworthalter“, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein mutiger Streiter für die gemeindliche Selbstverwaltung gewesen sei; beim obligatorischen Hoch auf den preußischen König sei er immer sitzengeblieben. Der Enkel Corterier hat viel vom Kampfgeist dieses Großvaters, mit dem er sich gut verstand, übernommen, und dazu trat noch das hugenottische Erbe: Hartnäckigkeit, lebenslange Treue zu nach gewissenhafter Prüfung übernommenen Wertmaßstäben, Unabhängigkeit des Urteils und unumstrittene berufliche Kompetenz. In Karlsruhe lebt sein Andenken fort als das eines Politikers, der nie die enge Verbindung zu allen Kreisen der Bevölkerung, besonders aber zu den kleinen Leuten, verlor.
Quellen: Mitteilungen von Frau Maria Corterier, Karlsruhe (Sommer 1992)
Nachweis: Bildnachweise: in: Amtliches Handbuch des Deutschen Bundestages 2. Wahlperiode 1953, 3. 1957, 4. 1961, 5. 1965, hg. vom Deutschen Bundestag, bearbeitet von der Bundestagsverwaltung

Literatur: (Auswahl) Politik nicht nur Sache der Männer, Fritz Corterier vor den Frauen von Karlsruhe, in: AZ – Allgemeine Zeitung vom 03.03.1952; Allesamt Kämpfer gegen den Kommunismus, Bundestagsabgeordneter Corterier vor den Delegierten des Karlsruher Ortsvereins der SPD, in: Ebd. vom 16.07.1958; 70 Jahre Dienst am Volke, Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Ortsverein Karlsruhe (Fritz Corterier, Vorwort); Josef Eisele, Von der Gründung bis 1945; Helmut Köhler, Dem Fortschritt verschrieben, Die Nachkriegsgeschichte des SPD-Ortsvereins Karlsruhe, 1959; Düstere Schatten über Wiedervereinigung und Demokratie, Ortsvereinsvorsitzender Fritz Corterier zeichnet vor der Delegiertenversammlung ein Bild der Lage, in: AZ vom 15.07.1959; Zu keiner Zeit Opportunist gewesen/Fritz Corterier wird heute 65 Jahre alt, in: BNN vom 19.07.1971; Reinhard Bollmus, Handelshochschule und Nationalsozialismus, Das Ende der Handelshochschule Mannheim und die Vorgeschichte der Errichtung einer Staats- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät an der Universität Heidelberg 1933/34, Meisenheim am Glan 1973; Zum 70. Geburtstag: Fritz Corterier – ein Europäer; Mit Veit, Möller und Klotz die Karlsruher SPD geformt, in: BNN vom 19.07.1976; 100 Jahre SPD Karlsruhe, Dokumentation, hg. vom SPD-Kreisverband Karlsruhe, 1977; Jörg Schadt und Wolfgang Schmierer (Hg.), Die SPD in Baden-Württemberg und ihre Geschichte, 1979; „Ein bewußter Karlsruher“, Der frühere SPD-Abgeordnete Corterier feierte 80. Geburtstag, in: Amtsblatt der Stadt Karlsruhe vom 26.07.1986; Josef Werner, „Engagement für Südweststaat war ein Fehler“, Kritik und Selbstkritik, Fritz Corterier feiert heute seinen 80. Geburtstag, in: BNN vom 19.07.1986; Robert Albiez, Carola Bury, Karl Glunk, Reinhold Grund, Karl H. Neumayer, Paul-Ludwig Weinacht, Der überspielte Volkswille, Die Badener im südwestdeutschen Neugliederungsgeschehen (1945-1970), Karlsruhe 1992
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