Reuter, Hans Joachim 

Geburtsdatum/-ort: 22.10.1923;  Rudersberg, Rems-Murr-Kreis
Sterbedatum/-ort: 18.04.2003;  Stuttgart
Beruf/Funktion:
  • Urologe
Kurzbiografie: 1929-1933 Volksschule in Rudersberg
1933-1939 Lateinschule in Schorndorf, Mittlere Reife
1939-1941 Johannes-Kepler-Gymnasium in Stuttgart-Bad Cannstatt, Kriegsabitur
1941-1947 Kriegsdienst und Gefangenschaft
1942-1944 Lazarettbehandlung und Medizinstudium in Tübingen, ärztliche Vorprüfung
1947-1950 Studium in Heidelberg, Staatsexamen und Promotion
1950-1953 Tätigkeit in verschiedenen Krankenhäusern, z. B. in Wuppertal
1953-1957 Ausbildung zum Facharzt für Urologie in Ulm
1957 Eröffnung einer Praxis mit kleiner Klinik in Stuttgart, Paulinenstraße
1960 Klinikneubau auf der Karlshöhe
1960-1995 Leiter der Reuter-Klinik, seit 1987 Mitarbeit des Sohnes Matthias
1981 Verleihung des Titels Professor durch die Universität Saragossa in Spanien
1984 Gründung des „Museums für medizinische Endoskopie Max Nitze“ in Stuttgart
1995 Museum nach Wien überführt: „Nitze-Leiter-Museum“
1995 Reuter-Klinik unter eigener medizinischer Leitung in das Karl-Olga-Krankenhaus integriert
1995-2003 Ruhestand, Beschäftigung mit medizinischer Computerkunst: Verfremdung urologischer Röntgenbilder
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: 1951 (Heidelberg) Waltraut, geb. Vorsprach
Eltern: Vater: Albert (1894-1958), Arzt
Mutter: Margarete, geb. Herrmann (1895-1976)
Geschwister: 3: 2 Brüder, einer davon gefallen, eine Schwester
Kinder: 4: Claudia, Matthias, Andreas, Eva
GND-ID: GND/142014362

Biografie: Renate Liessem-Breinlinger (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 4 (2007), 293-295

Als junger Facharzt für Urologie eröffnete Reuter 1957 in der Paulinenstraße in Stuttgart eine Praxis. In Ulm bei Max Hösel hatte er den Einsatz endoskopischer Geräte zur Diagnose, z. B. der Blasenspiegelung und zu operativen Eingriffen durch die Harnröhre, sogenannte transurethrale Resektion, kennengelernt und die Überzeugung gewonnen, dass dieser minimal invasiven Chirurgie die Zukunft gehöre. Er erwies sich als virtuoser Operateur und profilierte sich durch technische Verbesserung und Weiterentwicklung der Instrumente.
Viele Patienten mit Geschwulst- und Steinleiden an Harnröhre, Prostata, Blase und Harnleiter vertrauten sich ihm an, darunter etliche Offiziere der US-Armee. Die Praxis in der Paulinenstraße mit einer Handvoll Krankenbetten reichte bald nicht mehr aus. Reuter kaufte eine bombengeschädigte Villa in der Humboldtstraße auf der Karlshöhe und ließ sie durch einen Klinikneubau ersetzen. In einem knappen Jahr entstand das neue Haus mit 40 Betten. Reuter arbeitete fast übermenschlich viel. Neben der intensiven Operationspraxis war er stets auch in der Forschung präsent. 1959 zeigte er auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Urologie in Berlin Filmaufnahmen von der transurethralen Entfernung eines Harnleitersteins und einer Elektroresektion von Blasen- und Prostatatumoren. Insgesamt produzierte er über 20 Filme, erst im 8-, dann im 16-mm-Format.
Neben der Endokinematographie war die Endofotografie ein Spezialgebiet, auf dem Reuter Pionierarbeit leistete. Ihm gelangen die ersten qualitativ hochstehenden Farbfotografien der Blase und der Prostata. 1963 publizierte er einen urologischen Bildatlas, den er in den 1980er Jahren überarbeitete. Er hinterließ damit ein Lehr- und Lernmittel, das – in zahlreiche Sprachen übersetzt, 1988 sogar ins Chinesische – noch immer Gültigkeit besitzt. Forschungs- und Weiterbildungsstätte zu sein, gehörte zu den Charakteristika der Reuter-Klinik. Unter den Hospitanten aus aller Welt, die meist im ehemaligen Schwesternhaus unterhalb der Klinik wohnten, gab es viele, die später ihrerseits bekannte Urologen wurden. 1977, beim 20-jährigen Bestehen seiner Klinik, war Reuter Gastgeber und einer der Vorsitzenden eines Internationalen Symposions über Kältechirurgie und Endoskopie in Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesellschaft für Endoskopie. Kollegen aus Brasilien, den USA, Ägypten, Japan leiteten Teile des wissenschaftlichen Programms. Im Rückblick konnte Reuter feststellen, dass er permanent an der Verfeinerung der Operationsmethoden und der Instrumente gearbeitet hatte, bei der praktischen Umsetzung unterstützt von Herstellern medizinischer Geräte wie Wolf in Knittlingen und Storz in Tuttlingen.
Eine erfolgreiche Partnerschaft pflegte er mit Viktor Goldberg, der als erster die elektrohydraulische Zertrümmerung von Blasensteinen durchgeführt hat. Reuter hatte ihn 1961 bei einer Reise zum Kongress in die UdSSR kennengelernt. Goldberg kam wenig später von Riga nach Stuttgart, wo er mit Reuter die elektrohydraulische Steinsonde technisch verbesserte. Goldberg unterstützte Reuter auch bei der Weiterentwicklung der Niederdruckirrigation, die an der Reuter-Klinik schon seit 1962 in Gebrauch war. 1978 konnte Reuter, etwa zeitgleich mit dem Amerikaner J. J. Iglesias, ein „Continuous Flow Resectoscope“ präsentieren, das die Dauerspülung des Operationsraumes erlaubte und verhinderte, dass dem Operateur durch Blut die Sicht genommen wird. Reuter griff auch die Kältechirurgie auf und brachte es in ihrer Anwendung auf Rekordzahlen: in zwei Jahren über 300 Anwendungen.
Reuters qualitativ und quantitativ ungewöhnliche Leistung war das Ergebnis hoher Leistungsbereitschaft, physischer und psychischer Belastbarkeit, auch kluger Beschränkung auf das Machbare und perfekter Organisation. Dazu gehörte nicht zuletzt das Wohnen und Arbeiten unter einem Dach. Ein großes Verdienst hat seine Frau, die für die Patienten eine Atmosphäre der Geborgenheit schuf und für die wissenschaftlichen Ambitionen ihres Mannes den gesellschaftlichen Rahmen. Noch 2004 erinnerte sich der amerikanische Kollege Lawrence W. Jones in einem Artikel in der Zeitschrift der American Urological Association an die wohltuende Atmosphäre auf der Karlshöhe. Er war als Offizier nach Stuttgart gekommen und hatte in den frühen 1970er Jahren mit Reuter zusammengearbeitet.
Reuter war ein besessener Verfechter des Fortschritts in seinem Fach, aber auch die Vergangenheit interessierte ihn. Mit seinem Sohn Matthias erforschte er die Geschichte der Endoskopie und publizierte sie in einem siebenbändigen Werk, das zum Teil postum erschien. In den 1950er Jahren hatte Reuter begonnen, endoskopische Instrumente zu sammeln, darunter Zystoskope, mit denen der Begründer der Endoskopie im 19. Jahrhundert, Max Nitze, gearbeitet hatte. 1984 machte Reuter seine Sammlung öffentlich zugänglich. Zur Eröffnung fanden sich Gäste aus den USA und China ein; die Landesregierung war durch Minister Adalbert Seifriz vertreten. Die Ausstellung im ehemaligen Schwesternwohnhaus war aber keine Dauerlösung. Eine Serie von Mikroskopen wurde dem Center for Urological History in Baltimore, Maryland, übergeben; eine Auswahl von endoskopischen Geräten steht seit 1988 in Peking. Der Hauptteil wurde 1995 als „Nitze-Leiter-Museum“ in die Bestände des Instituts für Geschichte der Medizin im Wiener Josephinum integriert. Versuche, die Sammlung en bloc im Inland unterzubringen, waren gescheitert. Der Transfer des Museums nach Wien markiert zugleich Reuters Eintritt in den Ruhestand. Die Klinik wird als selbständige Abteilung des Karl-Olga-Krankenhauses vom Sohn weitergeführt. In alle Welt ist Reuter gereist: immer wieder in die USA, aber auch nach Südamerika und Südafrika, sogar in Kenia hat er operiert, an 66 internationalen Kongressen teilgenommen, und überall Aufmerksamkeit gewonnen. Trotz aller Weltläufigkeit ist Reuter dennoch immer ein echter Schwabe geblieben. Er liebte die Wälder um die Solitude, die Mineralbäder Leuze und Berg und besuchte den Urologenstammtisch, den er 1957 in Stuttgart gegründet hatte. Geboren ist er in Rudersberg im Rems-Murr-Kreis. In Schorndorf machte er das „Einjährige“, in Cannstatt das Abitur, kriegsbedingt schon nach der Unterprima. 18-jährig kam er zur Wehrmacht. 1942 bis 1944 hatte er Gelegenheit, in Tübingen fünf Semester Medizin zu studieren. Die Wehrmacht stellte damals Medizinstudenten systematisch frei und wachte darüber, dass sie an den Universitäten nicht unter der Hand in andere Fächer auswichen. Anlass zu Reuters Aufenthalt in Tübingen war eine Verwundung gewesen. 1944 wurde er wieder zum aktiven Kriegsdienst einberufen, am Kriegsende geriet er in russische Gefangenschaft, aus der er 1947 heimkehrte.
In Heidelberg beendete er sein Studium mit Staatsexamen und 1951 mit der Promotion. Drei Jahre lang praktizierte er in verschiedenen Sparten, unter anderem in Wuppertal bei dem Gynäkologen Anselmino. 1953 erhielt er eine Assistentenstelle bei Max Hösel in Ulm, einem Wegbereiter der Urologie als einer selbständigen Disziplin, der ihn zum Facharzt ausbildete.
Auch Reuters Altershobby zeugt davon, dass er nie um eine originelle Idee verlegen war. Am Computer gestaltete er aus seinen Endofotografien und nuklearmedizinischen Aufnahmen mit einer Gammakamera farbenprächtige Kunstwerke und schaffte es, einen unverwechselbaren Stil zu entwickeln. Auch dieses Werk wollte er in Stuttgart publik machen, die Ausstellung musste 2003 aber postum stattfinden.
Quellen: StadtA Stuttgart, Bestand Gesundheitsamt 202, 1873-1990, 113, 114. Ka 1097, Urologische Klinik Prof. Dr. Reuter Stuttgart, FS, o. J. [1987], Text u. Bild Verw. Reuter GmbH; UA Heidelberg H-III-862/121; mündliche Auskünfte von Prof. Dr. Horst Sommerkamp, Freiburg, u. Frau Waltraut Reuter; Manuskript d. Rede zur Eröffnung d. postumen Kunstausstellung mit Reuter-Bildern, 2003, von Dr. Eva Mendgen, geb. Reuter; Druckschriften aus dem Nachlass.
Werke: (Auswahl) Rheumatische Überleitungsstörungen im Elektrokardiogramm, Diss. med. Heidelberg 1951; Atlas d. urologischen Endoskopie, 1963, 1980 2. Aufl.-1988; Philipp Bozzini u. die Endoskopie des 19. Jh.s, 1989; ABC für Prostatakranke, 1968; Electric lithotripsy, a new method of transurethral treatment of bladder stones. Endoscopy 1, 1969, 63-67; Physiologic lowpressure irrigation for transurethral resection: Suprapubic trocar drainage, in: Journal Urol. 1974, 111, 210-212; (zus. mit Matthias Reuter u. Rainer Engel), Geschichte d. Endoskopie. Handb. u. Atlas, Bde. 1-4, 1998, Bd. 5-7, 2003.
Nachweis: Bildnachweise: Karin Schober-Wende, 2000, u. in den Nachrufen, 2004 (vgl. Lit.).

Literatur: Viktor Goldberg, Eine neue Methode d. Harnsteinzertrümmerung durch elektrohydraulische Lithotripsie, Urologe B, 1979, 19, 23; Karin Schober-Wende, Stuttgarter Köpfe, 100 Portraits, 2000, 140 f.; Jürgen Sökeland, In memoriam H. J. Reuter 1923-2003, in: Der Urologe (A) 12, 2003, 1619; P. P. Figdor, In memoriam H. J. Reuter (1923-2003), in: Publikation d. Österr. Gesellschaft für Urologie NÖGU, Juni 2004, 33 f.; Rainer M. E. Engel, Hans-Joachim Reuter (1923-2003). American Urological Assiciation (AUA) News vom Aug. 2003; Matthias Reuter, H. J. Reuter, The Urologic Endoscopist, Photographer and Historian, in: Journal of Endourology 18 vom 3. 4. 2004, 233-235; Lawrence W. Jones, H. J. R: Renaissance Urologist 1970-1973, AUA News, Sept./Okt. 2004, 9, issue 6, 16.
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