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Lina Hähnle – und 125 Jahre NABU

Lina Hähnle steigt 1918 in Ulm aus dem Zug [Quelle: Landesfilmsammlung Baden-Württemberg]

 „Ich konnte die rücksichtslose Ausbeutung der Natur einfach nicht mehr mit ansehen!“

So fasste Lina Hähnle selbst in Worte, was sie 1899 zur Gründung des Bund für Vogelschutz motiviert hatte. Heute, 125 Jahre später, existiert dieser Verein immer noch – seit 1990 unter dem Namen NABU – und ist mit über 940.000 Mitgliedern die mitgliederstärkste Naturschutzorganisation in Deutschland.

Im Jahr 1899 war es keineswegs üblich, dass eine Frau einen Verein gründete und sich zur ersten Vorsitzenden wählen ließ. In dieser Hinsicht war die resolute Lina Hähnle eine Wegbereiterin. 1851 in Sulz am Neckar geboren hatte sie im Alter von 20 Jahren gegen den Willen ihrer Familie ihren Cousin Hans Hähnle geheiratet. Dessen Firma „Württembergische Wollfilzmanufaktur“ in Giengen an der Brenz war äußerst erfolgreich. Häufig war Hans im Ausland auf Geschäftsreise, 1892 wurde er zudem Reichstagsabgeordneter und seit 1895 saß er im württembergischen Landtag.

Lina Hähnle hatte acht Kinder geboren, von denen zwei im Säuglingsalter starben. Neben der Kindererziehung führte sie in Giengen einen repräsentativen Haushalt. Mit dem Landtagsmandat ihres Mannes kam 1895 ein zweiter Haushalt in Stuttgart hinzu: in der schicken Villa Hähnle in der Jägerstraße. Hier führte Lina Hähnle einen Salon, in dem liberale Politiker, Künstler wie Gerhart Hauptmann und Unternehmer wie Robert Bosch ein und aus gingen. Es wäre untertrieben zu sagen, dass Lina Hähnle gut vernetzt war.

Die leidenschaftliche Gärtnerin liebte seit jeher Tiere und hatte ein Herz für die Natur. Schon als 13-Jährige hatte sie ein Herbarium angelegt und sich für die Natur begeistert. Als sie von ihrem Sohn Otto, der in Heidelberg studierte, von einem Aufruf von Rudolf Bergner aus Graz erfuhr, der in Österreich den Bund der Vogelfreunde gegründet hatte, nahm sie umgehend Kontakt auf. 1898 regte sie die Gründung eines Württembergischen Vereins zum Schutz von Vögeln an. Am 1. Februar 1899 folgte in der Stuttgarter Liederhalle die Gründung des Bunds für Vogelschutz für das gesamte Deutsche Reich.

Mit 1.000 Gründungsmitgliedern bereits stattlich aufgestellt, stieg die Mitgliederzahl bis Jahresende auf 3.500. Vom österreichischen Vorbild hatte Lina Hähnle die Idee übernommen, einen sehr geringen Mitgliedsbeitrag zu erheben, um Menschen unabhängig von ihrem Einkommen eine Mitgliedschaft zu ermöglichen.

Bereits im Gründungsjahr richtete Lina Hähnle mit der Vogelinsel bei Giengen das erste Naturschutzgebiet Deutschlands ein. 1908 kauften die Hähnles die Nachtigalleninsel im Neckar bei Lauffen und erklärten sie zum Schutzgebiet für Nachtigallen und Laubsänger. 1911 kam mit dem Federsee bei Buchau das erste große Schutzgebiet hinzu. Heute ist das Naturschutzgebiet am Federsee das größte Vogelschutzgebiet Baden-Württembergs.

Außergewöhnlich für ihre Zeit war die Art und Weise, wie Lina Hähnle den Bund für Vogelschutz organisierte: Sie legte den Fokus von Beginn an auf Öffentlichkeitsarbeit und nutzte dafür auch ihre guten gesellschaftlichen Verbindungen. In einer Zeit, in der es weder Radio noch Fernsehen gab, waren Vortragsreisen die Möglichkeit, um Informationen zu verbreiten. Sie zeigte Bilder, informierte über Vogelarten und deren Lebensräume, Anregungen zum Schaffen von Nistplätzen und verschiedene Kampagnen des Bunds für Vogelschutz.

Über ihren Vortrag in Tettnang am 25. November 1909 heißt es im Amtsblatt für den Oberamtsbezirk Tettnang: „Reicher Beifall lohnte die Dame für ihre beherzigenswerten Wort. - In verschiedenen Lichtbildern nach photographischen Aufnahmen wurde noch das possierliche Treiben einer Rotkehlchenfamilie gezeigt und an einer großen Anzahl verschiedenartigster Niststellen und Futterhäuschen konnte man deren Einfachheit und Zweckmäßigkeit studieren. […] Daß die interessanten Ausführungen von Frau Kommerzienrat Hähnle auch hier volles Verständnis gefunden, zeigte die Einzeichnung von 25 neuen Mitgliedern.“

Lina Hähnle war bekannt dafür, dass sie immer mit dem Zug in der Holzklasse anreiste – wiederum untypisch für eine Fabrikantengattin, die sich auch eine Reise erster Klasse hätte leisten können. Sie nutzte die Zugfahrten jedoch, um Leute kennenzulernen und als neue Mitglieder für den Bund für Vogelschutz zu werben. Aus den Begegnungen im Zug entstanden teilweise langjährige Brieffreundschaften.

1909 starb Hans Hähnle. Er war an einer Altersdepression erkrankt und hatte sein letztes Lebensjahr in der Heilanstalt Winnental verbracht.

Zur Erinnerung an ihren Mann gründete Lina Hähnle 1909 die „Hans-Hähnle-Krippe“: Hier wurden Kinder der Arbeiter aus der Fabrik betreut und verpflegt; in ihrem großen Garten ließ Lina Hähnle Hafer für die Kinder anbauen und Milchkühe halten, damit die Kinder mit gesunden Lebensmitteln ernährt werden konnten.

Als 1933 die Nationalsozialisten in Deutschland an die Macht kamen, war die 82-jährige Lina Hähnle bereits seit über drei Jahrzehnten Vorsitzende des Bunds für Vogelschutz. Mit Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft nahm sie eine ambivalente Rolle ein. Einerseits diente sie sich dem Regime an, indem sie etwa über eine Nachbarin Kontakt zu Adolf Hitler aufnahm und erreichte, dass auf dem Obersalzberg öffentlichkeitswirksam 5.000 Nistkästen aufgestellt wurden. Sie trat bereits 1933 der NS-Frauenschaft bei und hielt in diesem Rahmen Vorträge, in denen sie zum Beispiel 1938 darauf hinwies, „daß es die Aufgabe der Frau ist, den Kindern die Liebe zur Natur zu wecken und zu pflegen.“ Andererseits blieb der Bund für Vogelschutz in ihrer Zeit als Vorsitzende in manchen Bereichen auch auf Distanz zum Regime. So wurde ein Ausschluss jüdischer Mitglieder erst im November 1937 beschlossen, 1936 hob die Vereinszeitschrift bei einer Besprechung des ersten tönenden Vogelbestimmungsbuchs „Gefiederte Meistersänger“ noch explizit den Beitrag von Ludwig Koch hervor, dem Pionier für die Tonaufnahme von Vogelstimmen. Dieser war zu diesem Zeitpunkt bereits über die Schweiz nach England geflüchtet. Privat nahm Lina eine kritische Haltung zum Nationalsozialismus ein. Sie hielt Kontakt zu Ludwig Koch und anderen jüdischen Mitgliedern des Bund für Vogelschutz in der Emigration.

1938 wurde der Bund für Vogelschutz, der in Reichsbund für Vogelschutz umbenannt worden war, vom Reichsforstamt zum einzigen Vogelschutzverein im Deutschen Reich erklärt. Anstelle von Lina Hähnle wurde mit Reinhard Wendehorst ein NSDAP-Mitglied Vorsitzender des Vereins.

Lina Hähnle, die unter einer Herzkrankheit litt, musste in ihrem letzten Jahr miterleben, dass ihr kranker Sohn der NS-Diktatur zum Opfer fiel: Reinhold, der seit den 1920er Jahren in der Heilanstalt Schussenried wegen Schizophrenie in Behandlung war, wurde am 23. August 1940 in Grafeneck ermordet. Es war der Familie nicht gelungen, ihn zu retten.

Lina Hähnle starb am 1. Februar 1941.

Filmaufnahmen mit Lina Hähnle in LEO-BW:

Familientreffen in Stuttgart 1917 und in Giengen an der Brenz

Lina Hähnle am Bahnhof in Ulm 1918

Mehr über Lina Hähnle erfahren:

Vogelmutter mit Courage. Porträt der NABU-Gründerin Lina Hähnle

Zu Lina Hähnles Verhältnis zum NS-Staat

Historische Originaltexte. Dokumente zur Naturschutzgeschichte

Stadtmuseum Giengen an der Brenz

Denkblatt_Hähnle

Mehr über 125 Jahre NABU:

NABU-Chronik in Kurzform

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