Dehlinger, Ulrich 

Geburtsdatum/-ort: 06.07.1901;  Ulm
Sterbedatum/-ort: 29.06.1981;  Stuttgart
Beruf/Funktion:
  • Physiker
Kurzbiografie:

1907 IX1919 VI bis 1909 Elementarschule, dann bis 1917 Humanistisches Eberhard-Ludwigs-Gymnasium und bis 1919 Realgymnasium mit Abitur im Juni 1919, Gesamtnote „gut“, alles in Stuttgart

19191923 Studium der Mathematik und Physik an der Universität Tübingen, WS 1919/20 bis WS 1920/21, TH Stuttgart, SS 1921 bis WS 1921/22, Universität München, SS 1922, TH Stuttgart, WS 1922/23 bis WS 1923/24; Diplomvorprüfung „mit Auszeichnung“ am 13.12.1922, Diplomhauptprüfung für technische Physik „mit Auszeichnung“ am 6.12.1923; Diplomarbeit „Über den Einfluss der Elektroden auf die Sättigungsstromkurve durch ß-und γ-Strahlen“

1924 XI1934 IX Assistent am Laboratorium für Röntgentechnik der TH Stuttgart

1925 VII Promotion „mit Auszeichnung“ zum Dr.-Ing.: „Kristallstruktur und Doppelbrechung von Rutil und Anatas“. Diplom vom 29. Juli 1925

1928 XII Habilitation für das Fach „Angewandte Physik“: „Zur Theorie der Rekristallisation reiner Metalle“

1934 IV Ernennung zum außerordentlichen Professor

1934 X1969 VII Abteilungsleiter am Kaiser-Wilhelm- bzw. Max-Planck-Institut für Metallforschung

1937 XI Wiss. Mitglied des Instituts für Metallforschung

1938 IX1969 IX ordentlicher Professor, bis Oktober 1958 Pers. Ordinarius, an der TH Stuttgart

19471950 Dekan der Fakultät für Natur-und Geisteswissenschaften und Vorstand der Abteilung für Mathematik und Physik

1950 VVI Vortrags-und Studienreise in die USA

1969 XI Emeritierung

Weitere Angaben zur Person: Religion: evangelisch
Auszeichnungen: Ehrungen: Dr. rer. nat. h. c. der TH Dresden (1961); Heyn-Denkmünze, höchste Auszeichnung der Deutschen Gesellschaft für Metallkunde (1964)
Verheiratet:

I. 1928 (Ravensburg) Margarete, geb. Sterkel (1892–1950), Krankenschwester

II. 1951 (Stuttgart) Charlotte (Lotte), geb. Lucke (geb. 1904)


Eltern:

Vater: Alfred (1874–1959), 1924–1942, württembergischer Finanzminister

Mutter: Anna, geb. Martin (1876–1939)


Geschwister:

5


Kinder:

2; Annemarie (geb. 1929) und Margarete (geb. 1932), verh. Macherauch

GND-ID: GND/1012376745

Biografie: Alexander Kipnis (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 7 (2019), 98-104

Dehlinger wurde als erstes Kind des „Finanzamtmanns“ und von 1924 bis 1942 württembergischen Finanzministers Alfred Dehlinger in Ulm geboren, der nach seiner Promotion in Stuttgart arbeitete, wo auch Dehlinger fast sein ganzes Leben wohnte. Dort besuchte er zunächst eine Volksschule, dann ein humanistisches Gymnasium. Früh zeigte sich sein Interesse an Naturwissenschaften. Er konnte den Vater zum Wechsel an das Realgymnasium überreden, das heutige Dillmann-Gymnasium, die damals wohl modernste Lehranstalt der Stadt, dessen Gründer, Christian von Dillmann (1829–1899), ein bedeutender Schulreformer und erfolgreicher Förderer mathematisch-naturwissenschaftlicher Bildung war. Dort schloss Dehlinger die Schule ab. In seinem Reifezeugnis steht: „Er beabsichtigt, sich dem Studium der Mathematik und Physik zu widmen“ (UA Stuttgart 57/2421), auch wenn der Vater und Staatsrechtler davon abriet, weil „die führenden Stellen in der Gesellschaft den Juristen vorbehalten seien“ (UA Stuttgart SN 33/62).

Entscheidend für die Fächerwahl Dehlingers war die 1919 weltberühmt gewordene Relativitätstheorie Einsteins. Nach der Sommerarbeit als Praktikant bei den Württembergischen Hüttenwerken in Wasseralfingen immatrikulierte er sich im Herbst in Tübingen. Da es dort noch keinen Lehrplan gab, verlief das Studium von Physik und Mathematik recht unsystematisch. Nach drei Semestern kehrte Dehlinger nach Stuttgart zurück, wo der neue Ordinarius für Physik, Erich Regener, erstmals eine Prüfungs- und Studienordnung für Diplom-Physiker, damals noch Diplom-Ingenieure genannt, an der TH eingeführt hatte. Die Vorlesung über Technische Mechanik von Richard Grammel (1889–1964) beeindruckte ihn derart, dass sie ihm später wegen ihres „systematischen, zum Lösen realistischer Aufgaben verwendeten Aufbaus“ als Vorbild diente (UA Stuttgart, SA2/1684).

Sein VI. Semester verbrachte Dehlinger in München, damals Hochburg der theoretischen Physik mit berühmten Lehrveranstaltungen von Arnold Sommerfeld (1868–1951). Dehlinger durfte dort einen Vortrag über den „Stark-Effekt“ vom Standpunkt der Bohr-Theorie über die Elektronenhüllen von Atomen halten, was ihm Ausgangspunkt seiner Entwicklung zum theoretischen Physiker wurde, wie er sich erinnerte. Nach Stuttgart zurückgekehrt bestand Dehlinger Ende 1922 die Diplomvorprüfung und 1923 die Diplomhauptprüfung für Physik.

Ab 1924 erhielt der junge Diplom-Ingenieur eine Assistentenstelle am von Richard Glocker geleiteten Röntgenlaboratorium der TH. Er wurde der erste Doktorand von Paul Ewald, der seit 1921 als planmäßiger Extraordinarius den Lehrstuhl für Theoretische Physik innehatte. Es ist zu vermuten, dass die Doktorarbeit Dehlingers über „Kristallstruktur und Doppelbrechung von Rutil und Anatas“ zur theoretischen Kristalloptik, dem Bereich Ewalds, gehörte. Leider gingen die Dissertation und die Gutachten von Ewald und Glocker im II. Weltkrieg verloren. Bekannt ist nur, dass Dehlinger im März 1925 die Dissertation einreichte, im Juli die mündliche Prüfung bestand und promoviert wurde.

Nach der Promotion blieb Dehlinger Assistent des Röntgenlaboratoriums und beteiligte sich als Helfer an Glockers Praktika und Forschungsarbeiten über Röntgenographie von kristallinen Stoffen. 1927 entwickelte er als erste bemerkenswerte Leistung die „Rückstrahlkammer“, die innere Spannungen in Metallen röntgenographisch zu beobachten und zu bestimmen ermöglichte. Bald konzentrierte er sich auf die reale Struktur von Metallen und Legierungen und führte selbständige theoretische Forschungen auf diesem Gebiet durch, die in seine Habilitationsschrift mündeten, die er im Herbst 1928 vorlegte. Auch über dieses Verfahren sind keine Dokumente mehr vorhanden, nur der Text „Zur Theorie der Rekristallisation“, ein Höhepunkt in der Entwicklung der Physik in Stuttgart, wurde 1929 gedruckt und gilt als grundlegendes Werk. Dehlinger selbst verstand diese Arbeit als Versuch „ein atomistisches Bild des Zustandes eines verformten Metalls anzustellen und dann unter konsequenter Anwendung mechanischer und thermodynamischer Überlegungen die vielfältigen Erscheinungsformen der Rekristallisation zu erklären“ (ebd. S. 149). Das zeigt, dass hier die Methoden und Ideen der theoretischen Physik zum ersten Mal auf jene komplexen Vorgänge angewendet wurden, die sich bei der plastischen Verformung und Rekristallisation von metallischen Werkstoffen abspielen. Das von Dehlinger ersonnene Modell der „Verhackungen“ bei deformiertem Metall erwies sich als sehr fruchtbar und war Vorläufer des Begriffs „Dislokation“ („Versetzung“), der seitdem zu einem Grundbegriff der Kristallphysik und Metallkunde wurde. Das „Modell der Verhackungen“ wurde von selbst „zu einem Fundamentalbegriff der Festkörperphysik“, auch „u. a. Ausgangspunkt für die Entdeckung der sog. Solitonen“ (Seeger, 2003, S. 307).

1929 begann Dehlinger Privatdozent seine Lehrtätigkeit für das Fach Physik mit der Antrittsvorlesung „Über den Aufbau der Metalle“. Nun beteiligte er sich mit Glocker an der Leitung röntgenographischer Praktika und las zweisemestrig über „Aufbau und Technologie kristalliner Stoffe“.

Im Sommer 1934 wurde in Stuttgart das Kaiser-Wilhelm-Institut für Metallforschung neu gegründet, wo sich bereits zwei TH-Institute mit der Metallforschung beschäftigten. Das neue Institut fasste sie als Teilinstitute zusammen: für physikalische Chemie der Metalle unter Professor Georg Grube und für Röntgenographie der Metalle – Röntgenmetallkunde, ab 1937 Institut für Metallphysik – unter Professor Richard Glocker neben Werner Kösters neuem Teilinstitut für Metallkunde, der Geschäftsführender Direktor des Gesamtinstituts war. Alle drei Direktoren waren als Lehrstuhlinhaber an der TH, so dass das neue Kaiser-Wilhelm-Institut durch Personalunionen mit der TH verbunden war. Der zum außerordentlichen Professor beförderte Dehlinger war in Glockers Teilinstitut Abteilungsleiter.

Bald zeigte sich, dass die neuen NS-Machthaber die Metallforschung als Zweckforschung über Nichteisenmetalle in ihre Rüstungspläne einspannten, besonders für das Luftfahrtministerium. Anfang 1937 wurde Ewald zwangsweise in Ruhestand versetzt, und die TH hatte sich um die Neubesetzung des Lehrstuhls zu kümmern. Dehlinger wurde erster Kandidat der Berufungskommission. Die Berufungsakte im Bundesarchiv lässt ein dramatisches Tauziehen zwischen dem Reichserziehungsministerium, das den Empfehlungen von Philipp Lenard folgte, und den sachlich argumentierenden Stuttgarter Physikern erkennen. Lenard verlangte, Ferdinand Schmidt (1889–1960), einen Vertreter der „Deutschen Physik“, zu berufen und das Stuttgarter Ministerium gab nach, setzte Schmidt an erster Stelle. Diese Runde war für Dehlinger verloren. Dann aber zogen Glocker und Köster alle Register, um Dehlinger in Stuttgart zu halten, der schon Angebote aus der Industrie hatte, und die theoretische Physik zu retten. Im Herbst 1937 wurde Dehlinger zum Mitglied des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Metallforschung ernannt, die selbständige „Abteilung Dehlinger“ eingerichtet. Nach dem Krieg, aus dem Kaiser-Wilhelm-Institut war die Max-Planck-Gesellschaft geworden, hieß der Name „Abteilung für Mathematik und Physik“. Offensichtlich waren es auch Glocker und Köster, die den renommierten Münchener Physik-Ordinarius Walther Gerlach (1889–1979) zu einem Brief an das Erziehungsministerium veranlassten, worin er betonte, dass er „in der Besetzung der Theoretischen Professur mit Dehlinger für die deutsche Metallforschung eine ungewöhnlich glückliche und erfolgversprechende Maßnahme“ sehe (BA Berlin, R4901/13624). Ein scharfsinniger, weil letztlich entideologisierender Schachzug Glockers und Kösters hing damit zusammen, dass auch Regener, der den Lehrstuhl für Theoretische Physik geschaffen hatte, im Oktober 1937 entlassen wurde. Die Abteilung für Allgemeine Wissenschaften der TH schlug vor, den Unterricht der Physik neu zu organisieren: Lehrstuhl und Institut für Experimentalphysik sollte „Grundlagen der Physik“ heißen, die Theoretische Physik „Höhere Physik“ und das Fach vom experimentellen und theoretischen Standpunkt aus behandeln. Dieser Vorschlag neutralisierte die politischen Abneigungen gegen eine angeblich „jüdische“ theoretische Physik und schuf neuerlich die Chance, Dehlinger zu berufen. Das Erziehungsministerium war damit einverstanden. F. Schmidt erhielt den ehemaligen Lehrstuhl Regeners und wegen der Berufung Dehlingers richtete der Stuttgarter Kultusminister am 23. November 1937 die Bitte nach Berlin, ihn zu den Verhandlungen zu ermächtigen. Dehlinger schien zwar keine politische Persönlichkeit zu sein, aber seine „wissenschaftliche Befähigung [stehe] nach Gutachten außer Zweifel“ und im Übrigen sei ja mit Professor Schmidt ein aktiver Nationalsozialist für die TH gewonnen. Dagegen fand Berlin nichts einzuwenden. Es setzte aber für Dehlinger gegen Stuttgarter Proteste die Gehaltskategorie nur wie für einen beamteten Extraordinarius fest, er erhielt also nur ein persönliches Ordinariat. Ordinarius mit voller Bezahlung wurde er erst 1958.

In dieser hektischen Zeit beendete Dehlinger seine erste Monographie „Chemische Physik der Metalle und Legierungen“. Für seine Zeit stellte es ein Pionierwerk dar, eine theoretische Begründung der Metallkunde sowohl auf atomistischen wie phänomenologischen Grundlagen. Dehlinger machte deutlich, dass ein deduktiver Aufbau der Metallkunde, wie es für einen theoretischen Physiker üblich wäre, bei den realen Objekten der Metallkunde nicht möglich ist und erarbeitete halbempirische Methoden, die zu geschlossenen Darstellungen führten. Seine besondere Beachtung fanden Gitterbaufehler von realen Metallen. Nach Erscheinen dieses Werks erhielt Dehlinger 1939 den Ruf auf Physik-Ordinariat an der Deutschen Universität Prag, den er ablehnte.

Als Leiter des „Lehrstuhls für höhere Physik“ begann er seine große Vorlesung über Theoretische Physik auszuarbeiten – eine bedeutende Aufgabe, der er sich über 1945 hinaus widmete, obwohl er dank der Bemühungen von Köster und Glocker als Spitzenkraft der Luftfahrtforschung UK gestellt war. Durch einen Luftangriff im Juli 1944 waren die Räume seiner Abteilung ausgebrannt, die im Keller befindlichen wertvollen Anlagen aber konnten gerettet werden. Ausgebombt war Dehlinger samt Familie in Herrenberg untergekommen.

Die Wiederbelebung der Lehre und Forschung hatten nach dem Zusammenbruch begonnen, in den „hochgestimmten Zeiten des Kairos“ (UA Stuttgart, SN 33/62), so Dehlinger Die TH öffnete im SS 1946 wieder. Drei Jahre lang arbeitete Dehlinger mit voller Hingabe unter seinem früheren Lehrer Grammel, dem ersten Nachkriegsrektor, als Dekan. Um den Studenten mit „Notabitur“ den Studienanfang zu ermöglichen, hielt Dehlinger einen „Ergänzungskursus“ der Physik, abends von 20 bis 21.30 Uhr. Im Dienstzimmer, hinter einem großen Buchregal, stand ein Feldbett, auf dem er die Woche über nächtigte.

Der Neubeginn gab Dehlinger die Möglichkeit, Forschung und Lehre, für ihn eine untrennbare Einheit, endlich nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. Unter heute unvorstellbaren Umständen fanden 1946 Vorlesungen und Seminare statt, ab 1948 auch praktische Arbeiten. Er erarbeitete seinen 6-semestrigen Kursus der Theoretischen Physik. Dieser umfasste Theoretische Mechanik I– Punktsysteme und starre Körper – und II Kontinuumsmechanik, Elektrodynamik, Optik, Thermodynamik, statistische Mechanik und Quantenmechanik. Außerdem leitete Dehlinger Praktika und Seminare sowie zusammen mit dem zurückgekehrten Regener das Physikalische Kolloquium. Dabei verband er immer zu betrachtende theoretische Fragen mit Aufgaben aus der Praxis. Dehlingers Nachlass zeigt, wie gründlich und sorgfältig er sich vorbereitete.

Seine Anforderungen waren hoch, und es war nicht leicht, eine Prüfung bei ihm zu bestehen. So wurden aber die zukünftigen Ingenieure auf eine erfolgreiche berufliche Tätigkeit vorbereitet. Dehlinger verstand es, besonders begabte Studenten früh zu erkennen und zu geeigneter Forschungsarbeit heranzuziehen, denen er bei Diplom- und Doktorarbeiten viel Freiheit ließ. Für sie war Dehlinger „weit mehr als akademischer Lehrer der Physik […], er war ein hochgebildeter, vielbelesener und vielseitig interessierter väterlicher Freund“ (UA Stuttgart 57/2421), so sein Schüler Professor Alfred Seeger (1927–2015). Viele von Dehlingers Schülern wurden Professoren und führende Köpfe in der Industrie. Dank ihrer Mitarbeit waren die Forschungsthemen sehr vielseitig. 1950 erhielt Dehlinger eine Einladung des Carnegie Instituts in Pittsburgh, USA, bei dessen Kongress mit einem Vortrag über Plastizität der Metalle teilzunehmen; er war dort der einzige Deutsche.

Das Hauptinteresse Dehlingers blieb die Erforschung des Einflusses von Kristallbaufehlern und von Vorgängen im festen Zustand hinsichtlich der Eigenschaften von Metallen. Schon in den 1920er Jahren war es gelungen, Dehlinger war unter den Pionieren, „die fast platonische Lehre von den idealen Kristallen durch das Studium der Gitterfehler aller Art als Träger der Kristalleigenschaften zu ergänzen“ (Dehlinger 1969 in: UA Stuttgart SA2/1684). 1955 fasste er die jahrzehntelange Arbeit vieler Forscher weltweit und seines eigenen Instituts im Buch „Theoretische Metallkunde“ zusammen, das zum Standardwerk wurde; denn er hatte sich bemüht, „die physikalische Melodie samt ihrem empirischen Kontrapunkt nicht durch eine zu dicke Instrumentierung mit Formeln zu verdecken“. (1955, Theoretische Metallkunde, Vorwort III). Aufgrund der Betrachtung des empirischen Materials „wird eine theoretische Metallkunde stets wirklichkeitsnäher bleiben dürfen als die allgemeine theoretische Physik“ (ebd.). Das Werk wurde ins Amerikanische und Russische übersetzt und erschien 1968 in zweiter, gänzlich überarbeiteter Auflage. Zu Dehlingers literarischer Arbeit dieser Zeit gehören auch über 30 kurze Artikel über physikalische und chemische Grundlagen der Werkstoffprüfung, die er 1961 für die 4. Auflage von Luegers bekanntem „Lexikon der Technik“ verfasste.

Im August 1957 erhielt Dehlinger einen Ruf auf den Lehrstuhl für angewandte Physik der TH Karlsruhe, der nicht nur höheres Gehalt, sondern viel bessere Arbeitsmöglichkeiten bot. Bei den Verhandlungen über den Verbleib verlangte Dehlinger für sich nahezu nichts, beharrte aber auf der Gründung des ersten deutschen Lehrstuhls für Festkörperphysik in Stuttgart. Die weitere Entwicklung bestätigte, welche Voraussicht er dabei hatte. Nach seiner Emeritierung blieb Dehlinger noch einige Jahre mit der TH eng verbunden, die seit 1967 Universität war. Er starb wenige Tage vor seinem 80. Geburtstag.

Von Dehlinger stammen etwa 200 Publikationen, darunter zwei bedeutende Monographien und mehrere wichtige Beiträge zu Sammelwerken. Für sein Lebenswerk, seine einmalige, in untrennbarer Einheit verbundene Forschungs- und Lehrtätigkeit sind einige Grundzüge charakteristisch: Dehlinger besaß eine ausgeprägte Fähigkeit und entwickelte Fragestellungen, die auch über die Grenzen der Physik hinausgingen. Bereits 1935 hat er beispielsweise die Idee geäußert, dass für die innere Struktur von Genen ein periodischer Aufbau anzunehmen sei, wie er von Kristallen bereits bekannt ist. Diesem Gedanken widmete er mehrere Publikationen. Auch viele seiner Vorträge und besonders Reden zeigen das ausgeprägte Streben zum Allgemeinen. In diesem Zusammenhang ist das um die Wende zu den 1950er Jahren von ihm organisierte und durchgeführte „Philosophische Kolloquium über Grundlagen der Naturwissenschaften“ zu verstehen.

Dehlingers Bestreben zum Allgemeinen bestimmte seine seltene Fähigkeit, Probleme in größeren Zusammenhängen zu sehen und zu behandeln. Deswegen vermied er – im Gegensatz zu vielen Theoretikern – „die Rechnungen, in welchen ein einziger Einfluss mit großer Genauigkeit erfasst, aber andere starke Einflüsse vollständig beiseitegelassen wurden“ (1939, Chemische Physik, Vorwort V). Dehlinger sah stets den engen Zusammenhang zwischen Theorie und Experiment, zwischen Wissenschaft und Praxis; denn er wollte der Wirklichkeit möglichst nahe kommen. Diese Einstellungen entsprachen seiner Philosophie von wissenschaftlicher Arbeit. Er unterschied die „Rückwärtsphysik“, die der Sicherung des schon geschaffenen Systems und seiner Einzelheiten dient, und die „Vorwärtsphysik“, die neue Einsicht sucht, „wobei die persönliche Intuition des einzelnen Forschers unersetzlich ist“ (UA Stuttgart SA2/1684). Diese „Vorwärtsphysik“ bedeutete für Dehlinger „wirkliche Forschung“, auch „Forschung als Abenteuer“ (UA Stuttgart NS 33/62), die mit „abenteuerlichem und neuartigem Denken, exakten Phantasien“ arbeitet und dem Gewohnten zu widersprechen scheint. „Das eigentliche Abenteuer der Forschung besteht nun aber darin, diese phantastischen Träume in der Realität des Experiments wieder zu finden und auszubauen.“ (ebd.)

Diese Gedanken fanden ihre Krönung in seinem Vorlesungskurs „Bildung durch Physik“ für Anfänger aller Fakultäten, in dem „Denk- und Schlussweise der Physiker“ besprochen wurden (UA Stuttgart SN 33/17). Er hielt sie als Emeritus ab WS 1970/71 mehrere Wintersemester lang und fand große Beachtung.

Auch hohe ethische Standards kennzeichneten die Tätigkeit und Persönlichkeit Dehlingers., der überzeugt war, „dass jeder, der an leitender Stelle steht, sich bewusst sein muss, dass auch seine einzelnen Handlungen gute oder böse Folgen für die Gemeinschaft haben werden, die er vorausberechnen kann und muss“ (Um die soziale Verantwortung, in: Allgemeine Zeitung Stuttgart vom 12.12.1951). Dass diese Einstellung kein Lippenbekenntnis war, wird mit der Ablehnung des Rufs nach Karlsruhe eindrucksvoll bestätigt. Der menschlich und fachlich hervorragende Hochschullehrer und Forscher steht in der Geschichte der Naturwissenschaft als Wegbereiter und Mitbegründer der modernen Metallphysik.

Quellen:

UA Stuttgart SN 33/1- SN 33/63, Nachlass Dehlinger, 57/2421, Personalakte Dehlinger; BA Berlin R4901/13624, Fotokopie im UA Stuttgart, Berufungen an die TH Stuttgart; Auskunft des StadtA Ravensburg vom 6.12.2017.

Werke: (mit R. Glocker) Die Kristallstruktur des Calciumcarbides, in: Zeitschrift für Kristallographie 64, 1926, 296–302; (mit R. Glocker und E. Kaupp) Über den röntgenographischen Nachweis der seltenen Erde Z = 61, in: Naturwissenschaften 14, 1926, 772 f.; (mit R. Glocker) Über den atomaren Aufbau der Antimonoxyde, in: Zeitschrift für anorganische und allgemeine Chemie 165, 1927, 41–45; Über die Raumgruppe von (CN2H2)2 und die Kristallstruktur von CaCN2, in: Zs für Kristallographie 65, 1927, 287–290; Über die Verbreitung der Debyelinien bei kaltbearbeiteten Metallen, ebd. 615–631; Ein röntgenographischer Effekt beim Dauerbruch, in: Naturwissenschaften 17, 1929, 545; Zur Theorie der Rekristallisation reiner Metalle, in: Annalen der Physik 5. Folge, 2, 1929, 749–793; Über den Einbau von Gasatomen in Kristallgitter, in: Zeitschrift für Physikalische Chemie B, 6, 1929, 127–134; Atomistische Grundlagen der Rekristallisation, in: Zeitschrift für Metallkunde 22, 1930, 221–223; Über den Aufbau der Metalle, in: Metallwirtschaft 9, 1930, 589–592; Röntgenographische Untersuchungen am System Cd-Mg, in: Zeitschrift für anorganische und allgemeine Chemie 194, 1930, 223–238; Röntgenforschung in der Metallkunde, in: Ergebnisse der exakten Naturwissenschaften 10, 1931, 325–386; Über Umwandlungen von festen Metallphasen. II. Die Allotropie der reinen Metalle, in: Zeitschrift für Physik 68, 1931, 535–542 und III. Kinetik auf atomistischer Grundlage, ebd., 74, 1932, 267–290; (mit R. Glocker) Über die Existenz von Resistenzgrenzen bei Mischkristallen mit ungeordneter Atomverteilung, in: Annalen der Physik 5. Folge, 16, 1933, 100–110; Über die Elektronenkonfiguration in metallischen Phasen, in: Zeitschrift für physikalische Chemie B, 22, 1933, 45–59; Stetiger Übergang und kritischer Punkt zwischen zwei festen Phasen, ebd. 26, 1934, 343–352; Die Chemie der metallischen Stoffe im Verhältnis zur klassischen Chemie, in: Angewandte Chemie 47, 1934, 621–634; Zur Morphologie der Chromosomen, in: Naturwissenschaften 23, 1935, 558; Über die Existenz einer Umwandlung von genau Zweiter Ordnung, in: Zeitschrift für physikalische Chemie B, 28, 1935, 112–118; Die Chemie der intermetallischen Verbindungen und Mischkristalle, ebd. 24, 1936, 391–395; Eine thermodynamische Erweiterung der Diffusionsgleichung, in: Zeitschrift für Physik 102, 1936, 633–640; Die technische Anwendung der Strahlen, in: H. Woltereck (Hg.) Die Welt der Strahlen, 1937, 240–285; Zur atomistischen Erklärung der Supraleitung, in: Naturwissenschaften 26, 1938, 593f.; Chemische Physik der Metalle und Legierungen, 1939; (mit K. Sommermeyer) Beiträge zur Diskussion eines Gen-Modells, in: Physikalische Zeitschrift 40, 1939, 67–70; Gibt es eine wahre Kriechsgrenze?, in: Zeitschrift für Metallkunde 31, 1939, 187–191; Zur Entwicklung der Metallkunde in Deutschland. Gustav Tammann zum Gedächtnis, in: Angewandte Chemie 52, 1939, 229–231; Über die Physik der Stahlhärtung, in: Zeitschrift für den physikalischen und chemischen Unterricht 52, 1939, 129–133: Zur Entstehung des Widmannstättenschen Gefüges in Eisen-Nickel-Meteoriten, in: Zeitschrift für Metallkunde 32, 1940, 196–198; Dauerstandfestigkeit und ihr Zusammenhang mit der wahren Kriechsgrenze, ebd. 199 f.; Die metallische Bindung als Nebenvalenzbindung, in: Zeitschrift für Elektrochemie 46, 1940, 402 f.; Intermetallische Phasen mit teilweise heteropolarer Bindung, ebd., 627–634; (mit E. Wertz) Keimbildung in wässriger Lösung, in: Annalen der Physik 5. Folge, 39, 1941, 226–240; Die Vorgänge beim Härten des Stahls, in: Umschau 45, 1941, 241– 243; Zur Begründung einer Rekristallisationstheorie, in: Zeitschrift für Metallkunde 33, 1941, 16–20; (mit A. Kochendörfer, H. Held und E. Lörcher) Die Ausbildung der Spannungen bei der Biegung von Ein- und Vielkristallen, ebd. 233–235; Plastische Eigenschaften der Werkstoffe, in: Metallwissenschaft 20, 1941, 159–162; Gleichgewicht und Keimbildung beim Schmelzen und Erstarren, in: Physikalische Zeitschrift 42, 1941, 197–203; (mit E. Wertz) Biologische Grundfragen in physikalischer Betrachtung, in: Naturwissenschaften 30, 1942–250–253; Die verfestigende Wirkung der verborgen elastischen Spannungen, in: Zeitschrift für Metallkunde 34, 1942, 197–199; Das Fließen der Metalle in physikalischer Betrachtung, in: Forschungen und Fortschritte 18, 1942, 273 f.; Die Spannungen beim Fließen vielkristalliner Werkstoffe, in: Zeitschrift für technische Physik 5, 1942, 140.143; Das Fließen der Metalle, in: Berichte der Naturforschenden Gesellschaft zu Freiburg 37, 1942, 184–186; (mit H. Nowotny) Zur Heteropolarität der Hume-Rothery-Phasen, in: Zeitschrift für Metallkunde 35, 1943, 151 f.; Die Fließbedingung bei mehrachsigem Spannungszustand vielkristalliner Metalle, ebd. 182–184; (mit A. Kochendörfer) Das Fließen der vielkristallinen Metalle, in: Zeitschrift für Elektrochemie 49, 1943, 228–233; Probleme und Ergebnisse der Legierungschemie, in: Physikalische Blätter 3, 1947, 565–570; Praktische Vernunft in der Physik, ebd. 4, 1948, 1–4; Chemische Physik der Legierungen, in: Naturforschung und Medizin in Deutschland 1939–1946, Bd. 31, Allgemeine Metallkunde, 1948, 1–6; Grundbegriffe der Physik, 1949; Richard Glocker zum 60. Geburtstag, in: Zeitschrift für Metallkunde 41, 1950, 285; Vorgänge in übersättigten Mischkristallen, in: Zeitschrift für Naturforschung 6a, 1951, 718–721; Um die soziale Verantwortung!, in: Allgemeine Zeitung Stuttgart, vom 12.12.1951 (UA Stuttgart, AA 98); Zur Systematik der Legierungsstrukturen im Zusammenhang mit der Bildungswärme, in: Zeitschrift für Metallkunde 43, 1952, 109–111; (mit H. Knapp) Thermodynamik der Kaltaushärtung, ebd. 223–227; Vergleich zwischen röntgenographisch und ferromagnetisch bestimmten inneren Spannungen, ebd. 44, 1953, 136–138; Die physikalischen Vorgänge bei der Wechselbeanspruchung, ebd. 240–242; Entropie der Elektronen in Metallgittern, in: Zeitschrift für Naturforschung 8a, 1953, 67– 69; (mit H. Knapp) Zur Energetik der Aushärtungszustände des Cu-Al, in: Applied Scientific Research, Section A, 4, 1954, 231–236; (mit E. Fues) Das Institut für Theoretische und Angewandte Physik, in: Die TH Stuttgart, Bericht zum 125-jährigen Bestehen, 1954, 39–41; Theoretische Metallkunde, 1955, amerikanisch 1958, russisch 1960, 2. Aufl. 1968; Richard Glocker 65 Jahre, in: Physikalische Blätter 11, 1955, 414; Entwicklung d. theoretischen Kernphysik, in: Stuttgarter Ztg. vom 25.08.1956 (UA Stuttgart AA 281); Erich Regener zum Gedenken, in: TH Stuttgart Reden und Ausätze 21, 1956, 39–44; (mit H. Franz) Zur Thermodynamik d. Ausscheidungsvorgänge, in: Zeitschrift für Metallkunde 48, 1957, 176–180; Mechanismen der Keimbildung in Kristallen, in: Zeitschrift für Physik 149, 1957, 647–654; Zur Theorie der oberen Streckgrenze, in: Zeitschrift für Metallkunde 49, 1958, 416–418; Die Entstehung von inneren Spannungen bei Vorgängen in Metallen, ebd. 50, 1959, 126–130; Die Entstehung von Versetzungen und Spannungen bei Vorgängen in Kristallen, in: Fortschritte der Mineralogie 38, 1960, 31–39; Präformierte Keime bei Umwandlungen und Ausscheidungen, in: Zeitschrift für Metallkunde 51, 1960, 353–356; (mit E. Kröner) Der elastische Dipol, ebd. 457–461; Zur Theorie der Rekristallisation, ebd. 52, 1961, 44–47; Aushärtung, in: Lueger, Lexikon der Technik Bd.3, 4. Aufl. 1961, 40; Ausscheidung, ebd.; Eigenspannungen, ebd. 170; Erholung, ebd. 193 f.; Eutektikum, ebd. 194; Ferroelektrikum, ebd. 223; Festigkeit, ebd. 224; Fließfigur, ebd. 237; Gefüge, ebd. 249; Gitterbaufehler, ebd. 256; Halbleiter, ebd. 287; Isolator, ebd. 321; Keim, ebd. 341; Kristall, ebd. 384 f.; Legierung, ebd. 421; Metall, ebd. 447 f.; Oberfläche, ebd. 481; Peritektikum, ebd. 512; Rekristallisation, ebd. 557; Relaxation, ebd.; Schubspannung, kritische, ebd. 610; Seigerung, ebd. 628 f.; Spannung, ebd. 648 f; Struktur, ebd. 683; Strukturempfindliche Eigenschaften, ebd. 683 f.; Textur, ebd. 699; Übergangsmetall, ebd. 717; Umwandlung, ebd. 722; Verformung, ebd. 732; Versetzung, ebd. 742; Zustand, ebd. 801; Zustandsdiagramm, thermisches, ebd.; Zwilling, ebd. 802; Forschungen über Plastizität, Strahlenbeschädigung und Gitterbaufehler in den Kaiser-Wilhelm- und Max-Planck-Instituten, in: Naturwissenschaften 48, 1961, 633–636; Metallphysikalische Grundlagen von Ausscheidungsvorgängen in Legierungen, in: Ausscheidungsvorgänge in Legierungen, 1964, 11–21; Zur Thermodynamik der Martensitbildung, in: Zeitschrift für Metallkunde 56, 1965, 346–348; Gitterbaufehler und technische Festigkeit, in: Umschau 68, 1968, 432–437; Warum wird Stahl beim Abschrecken hart?, ebd. 70, 1970, 104–108; Die Grenze Metall-Halbleiter im festen und flüssigen Zustand, in Zeitschrift für Metallkunde 61, 1970, 615 f.
Nachweis: Bildnachweise: Foto (1940) S. 94, UA Stuttgart Bildersammlung. – weitere Fotos 1971 u. 1980, ebd. (vgl. Literatur).

Literatur:

Poggendorffs Biographisch-literarisches Handwörterbuch VI, Teil 1, 1936, 540; VIIa, Teil 1, 1956, 390 f.; VIII, Teil 2, 2002, 808–811; Alfred Seeger, Ulrich Dehlinger. 60 Jahre, in: Physikalische Blätter 17, 1961, 330; Alfred Seeger, Ulrich Dehlinger †, in: Berichte und Mitteilungen der Max-Planck-Ges. 1982, H. 2, 15–17 (mit Bildnachweis); Alfred Seeger, Sogar theoretische Physik kann praktisch sein! – Ulrich Dehlinger, in: Die Universität Stuttgart nach 1945, 2004, 306–313 (mit Bildnachweis).

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