Boos, Reinhard 

Geburtsdatum/-ort: 01.06.1897;  Lörrach
Sterbedatum/-ort: 21.10.1979;  Lörrach
Beruf/Funktion:
  • NS-Kreisleiter und Bürgermeister
Kurzbiografie: 1911–1914 Kaufmännische Lehre bei d. Mechanischen Buntweberei in Lörrach
1914–1916 Buchhalter bei d. Weinhandelsfirma Blankenhorn, Schliengen
1916–1919 Kriegsdienst bei den Infanteriereg. 170 u. 185
1919–1921 Angestellter d. Stadt Lörrach
1921–1924 Kaufmänn. Angestellter bei d. Rhein. Kreditbank, Lörrach
1924–1932 Prokurist bei d. Zifferblattfabrik Schätzle, Weil am Rhein
1930 VI. 1 Eintritt in die NSDAP, Mitgl.-Nr. 288364
1930 IX. Ortsgruppenleiter d. NSDAP Lörrach
1931 III.–1938 IX. mit Unterbrechungen Lörracher Kreisleiter d. NSDAP
1933 IV. 19 NS-Kommissar für Lörrach
1933 VI. 29–1945 IV. 24 Bürgermeister d. Stadt Lörrach
1945 IV.–1949 IV. Lazarettaufenthalt, dann Inhaftierung im Internierungslager für ehemalige NS-Funktionäre in Freiburg, dort von 1946 bis 1949 Spruchkammerverfahren: minderbelastet
1949–1956 X. 3 Klage gegen die Stadt Lörrach auf Zahlung eines Ruhegehalts als Bürgermeister, letztinstanzlich zurückgewiesen vom Bundesverwaltungsgericht
1958–1968 Stadtrat-Freie Wähler Lörrach
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: 1924 (Lörrach), Marie Luise (1902–1962), geb. Rupp
Eltern: Vater: Wilhelm Christian (1864–1931), Amtsvollzieher in Lörrach
Mutter: Karoline (1862–1941), geb. Riflin
Geschwister: Lina Luise
Kinder: Reinhard (geboren 1928), Heilpraktiker
GND-ID: GND/1012792412

Biografie: Robert Neisen (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 5 (2013), 46-49

Boos, NS-Bürgermeister der Kreisstadt Lörrach während der gesamten Zeit des „Dritten Reiches“, sorgte in der Nachkriegszeit immer wieder für Kontroversen innerhalb des Gemeinderats und der lokalen Öffentlichkeit. Vor allem seine Wahl in den Gemeinderat auf der Liste der Freien Wähler 1959 und die nach seinem Tod wiederholt diskutierte Frage, ob Boos trotz seiner NS-Vergangenheit in die Bildergalerie der ehemaligen Lörracher Bürgermeister eingereiht werden solle, gaben Anlass zu Debatten, ob er eher ein gemäßigter Nationalsozialist war, der „beileibe keine Schande für Lörrach“ gewesen sei, wie ein Leserbrief in der BZ vom 9. Mai 1986 formulierte, oder ob Boos als radikaler und kompromissloser Vertreter des NS-Systems eingestuft werden muss.
Vor seiner Karriere als NS-Politiker arbeitete der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende Boos längere Zeit als Kaufmann. Nach einer entsprechenden Lehre in einer lokalen Weberei war er zwei Jahre Buchhalter einer Schliengener Weinhandelsfirma, ehe er 1916 zum Heeresdienst einberufen wurde. Bis zu seiner Entlassung kämpfte er an der Westfront, wo er bei der Schlacht an der Somme im November 1916 schwer verwundet wurde und erst ab Sommer 1917 wieder an der Front eingesetzt werden konnte.
Nach der Rückkehr ins Zivilleben arbeitete Boos zunächst als Angestellter bei der Stadt Lörrach, dann als Sachbearbeiter bei der Lörracher Filiale der Rheinischen Kreditbank. Anschließend war er Prokurist bei einer Zifferblattfabrik im benachbarten Weil am Rhein, die ihn jedoch im Mai 1932 auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise wegen starken Geschäftsrückgangs entließ.
Damals war Boos bereits unbestrittener NS-Führer von Stadt und Amt Lörrach. Im Juni 1930 in die NSDAP eingetreten wurde Boos schon nach drei Monaten Leiter der Ortsgruppe, die allerdings nur elf Mitglieder hatte und wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten um ihr Überleben kämpfte. Im März 1931 stieg Boos zum Kreisleiter auf. Im Zuge des reichsweiten Aufschwungs der Partei und durch wirkungsvolle örtliche Propagandaaktionen wie der Einrichtung einer Notküche für Erwerbslose gelang es dem energischen Boos, die Ortsgruppe zu einer starken politischen Kraft im „roten Lörrach“ zu machen, die ihre Mitgliederzahl steigerte und bei den zwei Reichstagswahlen 1932 zur stärksten politischen Kraft wurde. Als NS-Stadtrat seit Dezember 1930 war Boos maßgeblich daran beteiligt, die republikanische Stadtspitze durch die üblichen Vorwürfe zu diffamieren: Überbezahlung und Vetternwirtschaft. Das galt neben der KPD vor allem dem Zentrum.
Der örtliche NS-Führer Boos spielte auch bei der Gleichschaltung in Lörrach nach der „Machtergreifung“ vom 31. Januar 1933 eine zentrale Rolle. Dem – wie andernorts – als politisch unzuverlässig bezeichneten Bürgermeister Heinrich Graser (1887–1957) wurde Boos am 19. April 1933 auf Weisung von Reichskommissar Wagner als Kommissar beigeordnet, bis der badische Innenminister Karl Pflaumer Boos am 27. Juni 1933 die Leitung der Stadt übertrug, allerdings gegen Boos’ Willen: Wie von Graser nach dem Krieg bestätigt wurde, hätte Boos ihn durchaus weiterhin als Bürgermeister akzeptiert, doch beugte sich Boos am Ende dem Druck Wagners, der unbedingt einen überzeugten Nationalsozialisten an der Spitze der bedeutenden Kreis- und Grenzstadt sehen wollte. Am 29. Juni 1933 erfolgte Boos’ „Wahl“ durch den Bürgerausschuss, auch hier durchaus kein demokratischer Akt: die KPD und SPD Stadträte waren bereits aus dem Gremium entfernt, die Zentrumsstadträte hatten aus Protest gegen die kurzfristige Terminierung der Wahl, die das Aufstellen eines Gegenkandidaten verhindert hatte, ihre Mandate tags zuvor niedergelegt. Nur bedingte Eignung von Boos zur politisch-administrativen Führung der Kreisstadt machte sich bald bemerkbar, seine Amtsführung verlief in Summa eher erfolglos. Auch er beschritt anfangs die zeittypischen Wege, förderte die heimische Wirtschaft und nutzte vor allem die von der Regierung Schleicher aufgelegten und vom NS-Regime aufgestockten Arbeitsbeschaffungsprogramme für Straßen- und Kanalbau und Gebäudeinstandsetzung. Das half dem örtlichen Gewerbe. Wie in allen deutschen Städten ist damals auch in Lörrach eine Zunahme der Bautätigkeit zu verzeichnen; es wurden Kleinsiedlungen an der Brombacherstraße gebaut und 1935/36 die neue Handelsschule errichtet, finanziert freilich wurde dies überwiegend mit Reichsmitteln. Indem er die örtlichen Unternehmer zum Einstellen kommunaler Fürsorgeempfänger anhielt und für diese einen städtischen Arbeitsdienst einführte, gelang es ihm auch, die in Lörrach hohe Quote an städtischen Wohlfahrtsempfängern innerhalb von vier Jahren erheblich zu reduzieren und so den Stadtetat zu entlasten. Während des II. Weltkrieges wandte er sich dann sogar gegen die Idee der Reichsregierung, die den wichtigsten örtlichen Arbeitgeber, die Textildruckerei KBC, ein französisch-schweizerisches Unternehmen, in ein deutsches Konsortium überführen wollte, weil er damit die Gefahr der Schließung verbunden sah. In anderen Bereichen war seine Politik aber vom Misserfolg geprägt. Das gilt vor allem für seine geradezu großmannsüchtige Idee, Lörrach zu einem Gegengewicht von Basel, zu einem deutschen „Kulturbollwerk“ gegen die „marxistisch verseuchte“ Nachbarstadt auszubauen. Boos strebte Eingemeindungen umliegender Ortschaften an: Tüllingen, Tumringen, Brombach, Haagen und Hauingen hatte er im Blick. Erfolgreich war er lediglich bei Tumringen und Tüllingen, die 1935 zu Lörrach kamen. Die anderen Versuche scheiterten am örtlichen Widerstand, den das badischen Innenministerium nicht ignorieren wollte. Wagner und die Landesregierung widersetzten sich auch der Idee Boos’, den für die Stadt nachteiligen Verlauf der deutsch-schweizerischen Grenze zugunsten von Lörrach zu verändern. Sie scheuten diplomatische Konflikte, die mit Sicherheit damit verbunden gewesen wären. Auch Boos’ Versuch, Lörrach im Zuge der Aufrüstung zur Garnisonsstadt zu machen, blieb erfolglos. Auf Widerstand stieß schließlich Boos’ Personalpolitik, weil sie fachliche Kriterien hintanstellte. Dies steht im deutlichen Widerspruch zur späteren Selbststilisierung Boos’ als Bürgermeister aller Parteien und Schichten, wobei er auf die Berufung einiger ehemaliger Zentrumsmitglieder in städtische Fachbeiräte verwies. Tatsächlich ging Boos, der eine starke Abneigung gegen die katholische Kirche hegte, gegen Zentrumsmitglieder in der Stadtverwaltung mit unbeugsamer Härte vor. Bezeichnend ist der Fall des angesehenen Rechnungsdirektors Josef Pfeffer, dessen vorzeitige Pensionierung Boos gegen die Empfehlung des Landeskommissärs durchsetzte. Bei Pfeffer und anderen Zentrumsbeamten, die ebenfalls entlassen worden waren, suchte Boos auch die Ruhegehälter zu reduzieren. Andererseits stellte Boos „alte Kämpfer“ trotz offenkundiger Inkompetenz in die Stadtverwaltung ein, darunter vorbestrafte NSDAP- und SA-Mitglieder, was ihm sogar die Kritik des Innenministers und der Freiburger Staatsanwaltschaft eintrug. Dieser Vorgang führte letztlich mit dazu, dass das badische Innenministerium die Dienstführung Boos’ 1940 beanstandete und seine Dienstzeit als Bürgermeister von Wagner am 13. Juli 1942 nur unter Auflagen verlängert wurde.
Zweifellos im Sinne des Regimes war dagegen, dass Boos gegen „Feinde“ der „Volksgemeinschaft“ meist wenig Gnade kannte. Zwar wurde Boos nach dem Krieg aus Mangel an Beweisen vom Vorwurf freigesprochen, sich aktiv an der Zerstörung der Lörracher Synagoge vom 10.November 1938 beteiligt bzw. diese initiiert zu haben. Es ist auch belegt, dass Boos in einigen Fällen Juden und Sozialdemokraten vor Verfolgung und Verhaftung geschützt hat. Andererseits ist aktenkundig, wie Boos bei regimekritischen Äußerungen die Internierung im Konzentrationslager verlangte oder auf hohe Geldstrafen hinwirkte. Er hat auch mehrfach dagegen protestiert, wenn das Sondergericht Mannheim oder das Landgericht Freiburg entsprechende Verfahren gegen Lörracher wegen Geringfügigkeit oder mangels Beweis einstellten. Beispiele belegen Boos’ Antisemitismus. Die schweren Rügen von Beamten der Stadtverwaltung im Juni 1935, die noch Kontakte zu Juden hatten, zeugen genauso davon wie sein Kommentar, die Zerstörung der Lörracher Synagoge sei der „gerechten Empörung des Volkes“ über das Judentum zuzuschreiben. Den baufälligen Zustand der Synagoge nach der „Reichskristallnacht“ nahm Boos dann als Vorwand, um das Gotteshaus abzureißen; damit stand der Neugestaltung des Marktplatzes nichts mehr im Wege. Einen Vorschlag des Denkmalschützers der Stadt, den im Zuge der Pogrome 1938 ebenfalls verwüsteten alten Judenfriedhof in einen Naturschutzpark zu verwandeln, verwarf er, weil damit die Erinnerung an dieses „fremde Volk unseligen Angedenkens“ aufrechterhalten würde.
Während der Kriegszeit vermochte Boos keine kommunalpolitischen Akzente mehr zu setzen. Zwar hatte er sich 1938, als der Posten des NSDAP-Kreisleiters in eine hauptamtliche Stelle umgewandelt wurde, für das Amt des Bürgermeisters entschieden und war jetzt, sieht man von seiner Ernennung zum Gauparteiredner 1940 ab, von Parteiverpflichtungen weitgehend frei, doch litt auch seine Kommune unter stark eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten wegen hoher finanzieller Kriegslasten und vermindertem Personal nach den Einberufungen zur Wehrmacht.
Vorderhand widersprüchlich erscheint schließlich Boos’ Rolle bei der Einnahme der Stadt durch die Franzosen am 24. April 1945. Er selbst behauptete, er habe die Beendigung der Kampfhandlungen angeordnet. Zuvor aber hatte er mit einem letzten Aufgebot des „Volkssturms“ über mindestens zwei Stunden an heftigen Kämpfen teilgenommen, bei denen es Tote gab und er selbst verwundet wurde.
Von den Franzosen gefangen kam Boos darum zunächst ins Lazarett, im August 1946 dann in das Internierungslager für ehemalige Nationalsozialisten in Freiburg. Nach seiner Freilassung im Dezember 1948 hatte der nunmehr körperlich Behinderte Mühe, wieder ins bürgerliche Leben zurückzufinden. Er fand gelegentliche Arbeit als Handelsvertreter, lebte aber überwiegend von städtischer Fürsorge. Reue über seine Taten während des „Dritten Reiches“ zeigte Boos bis an sein Lebensende nicht. Vielmehr klagte der stets sehr Prozessfreudige gegen die Stadt Lörrach, nachdem sie ihm unter Berufung auf die entsprechende Landesverordnung vom 6.August 1949 die Zahlung eines Ruhegehalts für seine Bürgermeistertätigkeit verweigert hatte. Nach zahlreichen Prozessen, die alle von der Stadt gewonnen wurden, verwarf das Bundesverwaltungsgericht am 3. Oktober 1956 die Klage letztinstanzlich.
Wesentlich erfolgreicher verlief für Boos dagegen das Freiburger Entnazifizierungsverfahren. Den vom „Untersuchungsausschuss für Internierte“ im Dezember 1948 noch als „Schuldiger“ Eingestuften sah die Spruchkammer Freiburg am 21. April 1949 nur als „minderbelastet“ an. Er sei zwar ein überzeugter Nationalsozialist gewesen, habe aber die NS-Gewalt nicht aktiv unterstützt. Als Sühnemaßnahme wurde eine Bewährungsfrist von drei Jahren auferlegt, in der Boos kein öffentliches Amt bekleiden durfte. Freilich, auch dieses Verfahren litt unter dem typischen Dilemma: Es fehlten der Kammer Zeit und Mittel, hinreichend nach belastenden Indizien zu suchen.
Schließlich weist der „Fall Boos“ auch in seiner späteren Behandlung zeittypische Züge auf. Das belegt die politische Karriere von Boos in der Nachkriegszeit als Lörracher Stadtrat. 1958 für einen Ausgeschiedenen nachgerückt, wurde Boos 1959 mit dem zweitbesten Stimmergebnis aller Kandidaten als Stadtrat bestätigt und 1962 wiedergewählt. Bei seinem Tod 1979 lag der Tenor der Berichterstattung eindeutig auf seinen „Verdiensten“ um das Wohl der Stadt, nicht auf seiner persönlichen Mitverantwortung für die NS-Verbrechen. Die einschlägigen Akten lassen ihn hingegen in der Hauptsache als entschiedenen Parteiaktivisten und Förderer der NS-Herrschaft erkennen.
Quellen: StadtA. Lörrach IV-2, Nr. 4, 5, 20 u. 74, IX-59, B.1., Nr. 42, 74 u. 78, Personalakte Reinhard Boos, Personalakte Josef Pfeffer, STAF D180/2, Nr. 221395, F 176/4, Nr. 19/1 u. 2.
Nachweis: Bildnachweise: Porträtfoto (undatiert) im Rathaus Lörrach, 1. OG, Porträtgalerie Lörracher Bürgermeister; StadtA Lörrach, reprod. in: Ott, 1983, 343, Gruppenfoto einer NS-Kundgebung; Göckel, 1990, 11, Gruppenfoto (vgl. Literatur).

Literatur: Hugo Ott, Die Zeit von 1918 bis 1945, in: Otto Wittmann u.a. (Hgg.), Lörrach. Landschaft – Geschichte – Kultur, 1983, 321-367; Saul Friedländer, Ein Weg in den II. Weltkrieg. Lörrach 1933–1939, 1989; Wolfgang Göckel, Lörrach im Dritten Reich, 1990; Hubert Bernnat, 125 Jahre Arbeiterbewegung im Dreiländereck. Die Geschichte d. Lörracher SPD von den Anfängen 1868 bis zur Nachkriegszeit 1948, 1993, 169-217; Markus Moehring, Lörrach u. das Kriegsende am Oberrhein, in: Simone Chiquet u.a. (Hgg.): Nach dem Krieg. Grenzen in d. Regio 1944–1948, 1995, 34-46; Michael Bryant, Zurück in die unbewältigte Vergangenheit. Das Lörracher Pogrom vom November 1938, d. Fall Reinhard Boos u. die Landfriedensbruch-Prozesse d. Nachkriegszeit, 477. Protokoll d. Arbeitssitzung am 20. Juni 2008 d. Arbeitsgemeinschaft für geschichtl. Landeskunde am Oberrhein, Karlsruhe (unveröff. Ms.); Saul Friedländer, Das Dritte Reich u. die Juden. Die Jahre d. Verfolgung 1933–1939. Die Jahre d. Vernichtung 1939–1945, 2008, 146; Jan Stoll, Judenverfolgung in Lörrach 1933–1945, Magisterarbeit Freiburg 2011 (unveröff. Ms).
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