Braune, Wilhelm Theodor 

Geburtsdatum/-ort: 20.02.1850; Großthiemig/Sachsen
Sterbedatum/-ort: 10.11.1926;  Heidelberg
Beruf/Funktion:
  • Germanist
Kurzbiografie: 1869 Abitur an der Lateinschule der Franckeschen Stiftungen
1869-1872 Studium des Germanischen (bei Friedrich Zarncke und Rudolf Hildebrand) und Klassischen Philologie (bei Georg Curtius und Adam Ebert) und der vergleichenden Sprachwissenschaft (bei Curtius, August Leskien und Ernst Windisch) in Leipzig
1872 Promotion zum Dr. phil. bei F. Zarncke
1873-1877 Kustos an der Universitätsbibliothek Leipzig
1874 Habilitation für deutsche Sprache und Literatur
1877 außerordentlicher Prof. in Leipzig
1880 ordentlicher Prof. in Gießen
1888 ordentlicher Prof. für germanische Philologie in Heidelberg (Nachfolge Karl Bartsch), Direktor des germanisch-romanischen Seminars
1899 Ritterkreuz 1. Klasse des Zähringer Löwenordens
1902 Hofrat
1904 Rektor, Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften München
1905 Geheimer Hofrat
1909 Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften
1910 Ritterkreuz I. Klasse mit Eichenlaub des Zähringer Löwen
1917 Geheimer Hofrat II. Klasse
1919 Emeritierung, Ernennung zum ordentlichen Honorarprof.
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: 1879 (Leipzig) Sophie Luise Elisabeth, geb. Lange
Eltern: Vater: Gottfried Wilhelm Braune, Pastor
Mutter: Marie Henrike, geb. Elste
Geschwister: 1 Schwester
Kinder: 2 Söhne
3 Töchter
GND-ID: GND/104105100

Biografie: Gerhard W. Baur (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 4 (1996), 42-45

Noch bis in jüngste Zeit kannten alle Germanistikstudenten den Namen von W. Braune als denjenigen des Verfassers von nach wie vor benutzten, grundlegenden Grammatiken des Althochdeutschen und des Gotischen. Kundigere wußten, daß er, zusammen mit Hermann Paul (geb. 1846), der (damals 23jährige) Begründer und langjährige Herausgeber der angesehenen Zeitschrift „Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur“ (1873ff.) war, und zusammen mit dem gleichaltrigen Freund und zeitweiligen Mitherausgeber Eduard Sievers das Dreigestirn der ersten germanistischen „Junggrammatiker“ bildete.
Ihr germanistischer Lehrer Friedrich Zarncke, der Altphilologe Georg Curtius und besonders der Slawist und Indogermanist August Leskien hatten den jungen Leipziger Gelehrten eine neue Sicht sprachlicher Entwicklung gezeigt, die in allem Wandel ausnahmslose Gesetzmäßigkeiten sehen wollte. Sprachvergleichung und Sprachgeschichte sollten vereinigt werden und die neugegründeten „Beiträge“ waren dazu bestimmt, den damals revolutionären Anschauungen dieser Germanisten und von Indogermanisten (wie Karl Brugmann und Hermann Osthoff) über die Laut- und Formenlehre der germanischen Sprachen zum Durchbruch zu verhelfen. Schon Braunes einleitender Beitrag im ersten Band „Zur Kenntnis des Fränkischen und der hochdeutschen Lautverschiebung“ erbrachte eine grundlegend neue und nach wie vor gültige Einteilung der rheinischen Mundarten aufgrund ihres unterschiedlich abgestuften Verhaltens in bezug auf die (2.) Hochdeutsche Lautverschiebung.
Mehrere folgende Aufsätze zur germanischen und althochdeutschen Grammatik, z. Braune „Zum Grammatischen Wechsel in der deutschen Verbalflexion“ (Beiträge 1, 513 ff.), „Über die Quantität der althochdeutschen Endsilben“ (Beiträge 2, 125 ff.) oder über Umlautsverhinderungen im Althochdeutschen (Beiträge 4, 540 ff.) führten ihn zum Plan, das von ihm und den Gleichstrebenden Erarbeitete systematisch in Lehrbüchern zusammenzufassen. So begründete er 1880 die „Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte“, in der er selbst das Gotische (1880) und das Althochdeutsche (1886) darstellte. Ausgebreitete eigene Forschung, gründliche Belesenheit, durchsichtige Disposition und übersichtliche, klare Darstellung zeichneten seine Grammatiken ebenso aus wie alles, was er veröffentlichte.
Neben diesen dauerhaften, immer wieder überarbeiteten grammatischen Handbüchern, zu denen er später auch kürzere „Abrisse“ für Anfänger erscheinen ließ (Abriß der althochdeutschen Grammatik 1890), sorgte Braune als Philologe gleichermaßen für die Bereitstellung geeigneter Texte für den akademischen Unterricht. Bereits in seiner Erstlingsarbeit, der im 6. Semester entstandenen Doktorschrift „Untersuchungen über Heinrich von Veldeke“, hatte er durch umsichtige und umfassende Behandlung von Sprache (in Lauten, Wortschatz und Reimtechnik) und Textüberlieferung die verwickelten Verhältnisse entwirren können und damit Nachfolgern die Herausgabe und Untersuchung von Veldekes Werk ermöglicht. 1875 brachte er mit seinem „Althochdeutschen Lesebuch“ ein bis dahin fehlendes und bis heute viel gebrauchtes Hilfsmittel heraus, in dem die ältesten Denkmäler der deutschen Sprache, poetische, religiöse und Sachtexte verfügbar gemacht wurden. Weil er aber bei seinen Vorlesungen über neuere Literatur feststellen mußte, daß auch hier geeignete Texte fehlten, begründete er 1876 die „Sammlung der Neudrucke deutscher Literaturwerke des 16. und 17. Jahrhunderts“, die bei seinem Tod 250 Nummern zählte, von denen er selbst unter den ersten 17 allein 15 Nummern besorgt hatte. Sein literarisches Interesse galt hauptsächlich editorischen, textkritischen und exegetischen Fragen. Nach seinen Gießener Professorenjahren (1880-88), in denen er sich als alleiniger germanistischer Lehrer auch in der literaturgeschichtlichen Lehre bis an die Klassik heranarbeiten mußte, konnte Braune sich ab 1888 in seiner Heidelberger Zeit durch kluge Arbeitsteilung und geschickte Personalpolitik der Behandlung englischer, altnordischer und neuhochdeutscher, hier vor allem literarischer, Gegenstände entziehen und sich im Literarischen wieder mehr seinem Ausgangspunkt, der älteren Literatur- und Textgeschichte zuwenden. Nach kleineren Vorarbeiten erschien 1900 sein umfangreichster Aufsatz über „Die Handschriftenverhältnisse des Nibelungenliedes“ (Beiträge 25, 1-222). Dieses zentrale Thema hatte ein ganzes Geschlecht von Germanisten (vor allem Lachmann, Müllenhoff, Haupt, Holtzmann, Scherer, Zarncke, Bartsch) beschäftigt und entzweit. Ohne sich von vornherein festzulegen, fand Braune durch vorurteilsloses, sorgfältiges Prüfen aller infragekommenden Handschriften nach ihren Lesarten zu einem aufs erste gesicherten Stammbaum. Und dieses Ergebnis einer nüchternen, sachlich dargestellten Bestandsaufnahme hatte in all seiner einleuchtenden Klarheit immerhin bis in die 60er Jahre Bestand als weithin anerkannte und scheinbar unumstößliche Lehrmeinung zur Entstehung des Nibelungenlieds.
Weitere gewichtige Untersuchungen galten den von ihm 1894 edierten, eben in den Pfälzer Handschriften der Vatikanbibliothek entdeckten Bruchstücken altsächsischer Bibeldichtung sowie dem schwierigen und wenig behandelten syntaktischen Thema „Zur Lehre von der deutschen Wortstellung“ (in der Festschrift für Rud. Hildebrand, 1894). In seiner Heidelberger Rektoratsrede von 1905 „Über die Einigung der deutschen Aussprache“ führte Braune den Nachweis, daß die neuere Bühnenaussprache von der Schreibung ausgehe. Die mustergültige Abhandlung über „Reim und Vers“ (Sitzungsbericht der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 1916) zeigte ihn als Meister wortgeschichtlicher Forschung, der hier im Wiederaufnehmen seiner jugendlichen Veldeke-Studien zu wichtigen allgemeinen sprachlichen und literaturgeschichtlichen Folgerungen kam. In seiner letzten großen Untersuchung „Althochdeutsch und Angelsächsisch“ (Beiträge 43, 361-445) konnte Braune durch die Untersuchung der frühen Karolingersprache im Tatian und oberdeutschen Quellen nachweisen, daß sich der althochdeutsche Wortschatz, besonders seine christliche Komponente, in der Auseinandersetzung zwischen nordwestlichen (angelsächsischen) und südlichen (gotischen) Missionseinflüssen herausgebildet habe und den Klostergemeinschaften dabei eine entscheidende Rolle zugekommen sei. Wörter wie Geist und heilig seien damals durch altgermanische Missionare in unsere Sprache gekommen. Durch Braune erhielt die „althochdeutsche Sprachgeschichte zuerst den breiten kultur- und missionsgeschichtlichen Hintergrund, aus dem sie seitdem verstanden und beschrieben wird“ (H. Fromm).

Aus Briefen Braunes und Berichten von Kollegen und Schülern wird das Bild eines ausgeglichenen, zurückgezogen und spartanisch lebenden und vor allem arbeitenden Gelehrten und eines warmherzigen, liebenswürdigen Familienvaters deutlich, der sich auch in schweren Lebenslagen einen sonnigen Humor bewahrt habe. Familie, Haus, Garten, frühmorgendliches Harmoniumspiel und gelegentliches Musikhören seien sein Ausgleich und Trost auch in unglücklichen Zeiten gewesen, in denen Krankheit und Tod die Familie beschäftigten (zwei Kinder starben früh, die älteste Tochter nach langer Krankheit und seine 1921 verstorbene Frau begann bald nach der Hochzeit zu kränkeln und litt danach zeitlebens unter neurasthenischen Schmerzen).
Lange, auch noch nach seiner Emeritierung, betreute er die von ihm gegründete Akademische Lesehalle, die „letzte und liebste Schöpfung“ (so sein Schwiegersohn R. Petsch 1926 an den Rektor F. Panzer) des Wissenschaftsorganisators und ehemaligen Bibliothekars. Sein wissenschaftliches Tun wird gekennzeichnet durch ruhiges Maßhalten, Sicherheit und Klarheit im Denken und Urteilen, sachliches Darstellen. „Braune erscheint immer wieder als der gesunde Menschenverstand in Person“, charakterisierte ihn sein Heidelberger Nachfolger Fr. Panzer und sein alter Weggefährte E. Sievers befand: „Wo immer er zugriff, brachte er Licht und Ordnung“.
Werke: (Auswahl) Althochdt. Lesebuch 1875, 8. Aufl. 1920, 16. Aufl. bearb. von E. A. Ebbinghaus 1979; Got. Grammatik 1880, 9. Aufl. 1920, 19. Aufl. bearb. von E. A. Ebbinghaus 1981; Ahd. Grammatik 1886, 4. Aufl. 1911, 14. Aufl. bearb. von H. Eggers 1987; Abriß der ahd. Grammatik. Mit Berücksichtigung d. Altsächsischen. 1890, 15. Aufl. bearb. von E. A. Ebbinghaus. Weitere d. wichtigsten Arbeiten sind im Text aufgeführt. (Unvollständige) Übersichten über Braunes wissenschaftliche Produktion in: Beiträge z. Gesch. d. dt. Sprache u. Literatur 40, 546; 51, II, Anm. 1; Verzeichnisse u. Register zu den Bänden 1-100, bearb. von Hch. Jellissen, Tübingen 1979, S. 21. – Ausgewählte Briefe von Braune in: G. W. Baur, Aus der Frühzeit der „Beiträge“. Briefe d. Herausgeber 1870-1885. Beitr. z. Gesch. d. dt. Spr. u. Lit. 100 (1978), 337-368.
Nachweis: Bildnachweise: Vgl. Lit.: H. Wunderlich, S. 80; E. Sievers vor S. I; E. Einhauser u. in F. Behrend, Gesch. d. dt. Philologie in Bildern, 1927, 48.

Literatur: G(ustav) E(hrismann), Geleitwort, in: Aufsätze zur Sprach- und Literaturgeschichte. W. Braune z. 20. Februar 1920, dargebracht von Freunden u. Schülern. Dortmund 1920, V-VII; H. Wunderlich, W. Braune, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 2, 1910, 81-91; A. Götze, W. Braune, in: Gießener Anzeiger Jg. 176, Nr. 269, 2. Blatt vom 16. Nov. 1926; E. Schröder in: Anzeiger f. dt. Altertum 45, 1926, 199; E. Sievers, W. Braune, in: Beiträge z. Gesch. d. dt. Sprache u. Literatur 51, 1927, I-VI; F. Panzer, W. Braune, in: Zs. f. dt. Philologie 52, 1927, 158-164; H. Suolahti, W. Braune In memoriam, in: Neuphilologische Mitt. 28, 1927, 37-40; C. A. Williams, Necrology W. Braune, in: The Journal of English and Germanic Philology XXVI, 1927, 603-606; U. Stutz, W. Braune, ZSR Germ/Abt. Bd. 27, 1927, 901; E. Schwarz, W. T. Braune, in: NDB Bd. 2, 1955, 558 f.; H. Fromm, W. Braune, in: Beiträge z. Gesch. d. dt. Sprache u. Literatur 100, 1978, 4-39; E. Einhauser, Die Junggrammatiker. Ein Problem für die Sprachwissenschaftsgeschichtsschreibung. Trier 1989, 16-20.
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