Bernays, Otto Paul Ulrich 

Geburtsdatum/-ort: 15.08.1881; München
Sterbedatum/-ort: 23.12.1948;  Karlsruhe
Beruf/Funktion:
  • Pädagoge, Verfolgter des NS-Regimes
Kurzbiografie: 1890-1898 Gymnasium Karlsruhe
1898-1904 Studium der klassischen Philologie, Germanistik und Geschichte in Heidelberg und München
1904 Dr. phil. in München; Thema der Dissertation: „Studien zu Dionysius Periegetes“; badisches Lehramtsexamen (Fächer: Griechisch und Latein für obere Klassen, Deutsch und Geschichte für mittlere Klassen)
1904-1910 Lehramtspraktikant in Durlach, Heidelberg, Schwetzingen, Lahr, Lörrach, Tauberbischofsheim
1910 Prof. am Gymnasium Tauberbischofsheim
1914 Prof. an der Goethe-Schule in Karlsruhe
1933 Vom 7. April bis 11. Mai als „Judenstämmling“ beurlaubt
1936 Nach dem „Gesetz über die Reinerhaltung des deutschen Berufsbeamtentums“ in den Ruhestand versetzt
1938 Kurzzeitig im KZ Dachau
1939 Muß sich einen hebräischen Vornamen beilegen („Uri“)
1941 f. zur „Judensteuer“ herangezogen
1943 17.-24. August willkürliche Inhaftierung in Singen/Hohentwiel
1945 Wiedereinstellung in den badischen Schuldienst
1947 Mitbegründer und Leiter der „Volkshochschule Karlsruhe e. V.”; Beförderung zum Oberstudienrat
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: 1914, Elisabeth, geb. Schatz, kath., Tochter des Bezirksarztes Dr. Schatz (geb. 1893 Geisingen, gest. 1971 Karlsruhe)
Eltern: Vater: Michael Bernays, Dr. phil., Prof. der Universität München (geb. Hamburg 1834, gest. Karlsruhe 1897)
Mutter: Louise, geb. Rübke verwitwete Uhde (1848-1919), Tochter eines Hamburger Reeders, Witwe des Kunstschriftstellers Dr. Hermann Uhde
Geschwister: 1 Halbbruder mütterlicherseits: Prof. Dr. Hermann Uhde-Bernays, 1873-1965 (vgl. dessen Autobiographie „Im Lichte der Freiheit“, 1. Auflage, 1947)
1 Schwester: Marie Bernays, 1883-1939, Leiterin der Sozialen Frauenschule in Mannheim
Kinder: 1 Tochter
GND-ID: GND/105724580

Biografie: Wolfgang Leiser (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 1 (1982), 46-48

Die Söhne des streng orthodoxen Hamburger Rabbiners Michael Isaak Bernays (1792-1849) erwarben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts höchsten Gelehrtenruhm: Jakob, der ältere (1824-1881), vertrat in Bonn die klassischen Sprachen, Michael wurde zum Begründer der Goethe-Philologie und war als Münchner Ordinarius der zu seiner Zeit berühmteste deutsche Literaturhistoriker, ein Mann von universaler Kultur.
In einem Elternhaus, das illustre Geister und hochgestellte Personen zu seinen Freunden zählte, wuchs Bernays auf, Patenkind Paul Heyses und der Fürstin Pauline Metternich. Die Atmosphäre in der Fürstenstraße 13 zu München und in der Schirmerstraße 1 im stilleren Karlsruhe, wohin sich der leidende Vater 1890 zurückgezogen hatte, schildert der Halbbruder H. Uhde-Bernays (eine Biographie des Vaters aus der Feder von Ulrich Bernays ist leider nie zum Druck gekommen). Der junge Bernays verlor den Vater schon früh, dessen Leitsterne aber hatte er erkannt und in seinem eigenen Leben bis zum Ende festgehalten; sie hießen Hellas, Weimar und Bayreuth. Folgerichtig wandte er sich dem Studium der alten Sprachen, der deutschen Literatur und der Geschichte zu; die Musik, vor allem Richard Wagners, gab seiner Freizeit den Inhalt.
Wenige mögen in solchem Maße in unserem Jahrhundert noch „Bildung“ in jenem Sinne besessen haben, der nun in Frage gestellt, aber durch nichts ersetzt ist, Bildung als die platonische Idee der Welt schlechthin, die den Menschen zur Einheit seiner Persönlichkeit bringt, vom Religiösen ihren Ausgangspunkt nimmt, um als dessen Erneuerung wieder in ihm zu münden (H. Broch). Veröffentlicht hat Bernays wenig, hierin dem Vater nicht unähnlich, aber wie er selbst geprägt war, verstand er es, junge Menschen zu prägen; wer vermöchte die Wirkung abzuschätzen?
Die Vita erregt Anteilnahme: Der durch höchste Kurzsichtigkeit unbeholfene Mann, Linkshänder, hatte im Schuldienst mit der lieben Jugend zunächst seine liebe Not. Die Vorgesetzten bedauern, er sei „in seinem Wesen gar nicht veranlagt, sein Ansehen aufrecht zu erhalten und Zucht zu üben“; es unterliefen ihm „unglaubliche Unvorsichtigkeiten“, in der Klasse herrschten teils „tumultuarische“ Zustände. Andererseits wird ihm bescheinigt, er sei „der geistvollste Lehrer der Anstalt“. Das war in seinen Anfängen als Lehrer. Wie er sich in den folgenden Jahren entwickelte, zeigt ein fast unglaublicher Vorgang des Jahres 1933: Unterm 7. April hatte der nationalsozialistische Kultusminister den „Judenstämmling“ (Bernays war „3/4-Jude“) mit sofortiger Wirkung suspendiert. Vom 8. April datiert ein Brief, unterschrieben von etwa 50 Schülern der Goethe-Schule, worin der Minister gebeten wird, seine Maßnahme zurückzuziehen; es wird ausdrücklich festgestellt, der verehrte Lehrer wisse von diesem Schreiben nichts, und nur wegen der Kürze der Zeit habe man nicht noch mehr Unterschriften sammeln können. Am 11. Mai setzte der Kultusminister Bernays wieder in sein Amt ein; von der Eingabe der Schüler ist nicht die Rede, man argumentiert rein formal. – 1935 wird die Rassenfrage erneut aufgegriffen, und nun kommt es zu Zwangspensionierung, Schikanen und Verfolgungen mannigfacher Art; den „Judenstern“ brauchte Bernays nur mit Rücksicht auf Frau und Kind nicht zu tragen ... Als er 1945/46 reaktiviert wurde, war die Jugend infolge der Zeitereignisse verwahrlost und außer Übung, eine denkbar schwere Aufgabe für jeden Lehrer. Was dieser schlichte, gütige Mann damals an ungesuchter Autorität ausstrahlte, ist so unvergeßlich, wie seine Fähigkeit, die Schüler für den Humanismus der deutschen Klassik zu begeistern. Von seinen schweren Jahren sprach er zu den Schülern nie; er war zu letzter menschlicher Reife gelangt und wußte, wo sich Schweigen gebot. Als am Tage vor Weihnachten 1948 zur gewohnten Unterrichtsstunde statt seiner die Todesnachricht eintraf, war die Bestürzung der Klasse unbeschreiblich.
Viele deutsche Juden haben mehr erdulden müssen. Es wäre zu hoch gegriffen, Bernays stellvertretend für die anderen hier vorzuführen. Sein Schicksal ist ein winziger Punkt in einem düsteren Riesengemälde; Gewicht hat es weniger im Ganzen, als in der eigenen Biographie des Mannes.
Im Geistesleben Karlsruhes spielte Bernays lange Jahre eine bedeutende Rolle. Jugend- und Volkshochschulbewegung nach dem ersten Weltkrieg gehören längst der Geschichte an und können übergangen werden. Dagegen lohnt es, einen nachdenklichen Blick zu werfen auf die sechs Vortragsreihen der Karlsruher Volkshochschule, die Bernays von Anbeginn bis 1949 mitgeplant und durch eigene Vorlesungen bereichert hat (der letzten kam sein Tod zuvor). Bei der Eröffnungsfeier am 1. März 1947 sprach er über die „Sinngebung der Volkshochschule“. Das Manuskript ist wohl verloren, aber das durchgeführte Programm spricht für sich: Jahrelang trug A. v. Grolman „Deutsche Literatur und ihre Geschichte“ vor, C. Hessemer dozierte über „Philosophie als Form-Erleben“ und „Von Goethe zu Kierkegaard“, andere über Rilke oder „Große Denker der Antike“. Bernays selbst las „Griechische Kulturgeschichte“, „Geschichtliche Entwicklung der Demokratie“, „Dante“, „Geistige Strömungen und politische Ereignisse in den Jahren 1848/49“, „Römische Dichter und Römisches Weltreich“; eine Vorlesung „Richard Wagner“ hatte er noch für 1949 angekündigt. All dies keine Einzelvorträge, sondern Zyklen von durchweg 6 Stunden. Im Vergleich mit Programmen heutiger Volkshochschulen, die sich um die Vermittlung nützlichen Wissens oder Hilfe zur Freizeitgestaltung bemühen, fällt das geradezu altväterliche, bildungsbürgerliche Konzept auf: Keine zufälligen Vorträge, sondern ein betonter Lehrcharakter humanistischer Prägung. Die Veranstaltungen waren sämtlich gut besucht. Ich glaube, daß wir hier auf einem Teilgebiet einem allgemeineren Phänomen begegnen, das für die Jahre des Wiederaufbaus nach den Katastrophen von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg Beachtung verdient: Oft sehr alte Männer – man denke an den späteren Bundeskanzler Dr. Adenauer! – ergriffen die Initiative und versuchten abgerissene Traditionsstränge neu zu knüpfen. Man rekurrierte nicht nur bis zur Weimarer Republik – die Geschichtsklitterung von den „Goldenen Zwanziger Jahren“ war noch lange nicht erfunden –, sondern griff letztlich auf die Zeit vor dem „Wilhelminismus“, auf die besten Traditionen des bürgerlichen 19. Jahrhunderts zurück: Hier sah man das Deutschland, mit dem man sich in Selbstachtung identifizieren konnte. Bei aller verwirrenden Vielfalt des Vordergrundes herrschte im Geistigen ein eigentümlicher Konservativismus, eine Retrospektive, zwar nur wenige Jahre, aber doch lange genug, um viele Menschen zu formen. Moderne Tendenzen konnten sich zunächst nur schwer durchsetzen – der folgende Umbruch war denn auch heftig genug.
Das gesprochene Wort ist verweht. Wer sich in das geistige Klima jener Trümmerjahre zurückversetzen will, lese die von A. v. Grolman herausgegebenen „Texte Europäischer Literatur“ mit ihren Einleitungen, Stifters „Vorrede zu 'Bunte Steine'“, Goethes „West-östlichen Divan“, Hölderlins „Hyperion“, Lessings „Nathan“, Shakespeares „Sturm“, usw. Die Einleitung zum „Divan“ schrieb Bernays, ein ausgewogenes Stück Prosa, fast unberührt von der Trostlosigkeit ringsum.
Nachweis: Bildnachweise: Vgl. Lit.

Literatur: K. Broßmer, Dr. Ulrich Bernays (1881-1948), Altphilologe und Vorkämpfer der Volkshochschule (o. O. und J.; mit Bild).
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