Achelis, Johann Daniel 

Geburtsdatum/-ort: 07.06.1898; Göttingen
Sterbedatum/-ort: 12.09.1963; auf See bei einer Reise in die USA, bestattet in Heidelberg
Beruf/Funktion:
  • Physiologe und Medizinhistoriker
Kurzbiografie:

19041915 VI Schule in Königsberg bis 1907, dann in Halle. Notabitur im Juni 1915

1915 VI1918 XII Kriegs- und Militärdienst bei der Feldartillerie, zunächst beim 55. Reg. in Naumburg, ab Juni 1916 beim 208. Regiment in Frankreich; Verwundung 1917; EK II und EK I, Verwundetenabzeichen in Schwarz

19151922 Studium der Naturwissenschaften an den Universitäten Halle, WS 1915/1916, und Bonn, SS 1917, WS 1918/1919, dann der Medizin an der Universität Leipzig, SS 1919 bis WS 1921/22

1922 VI 16 Promotion zum Dr. med.: „Pflanzt sich der Erregungsvorgang in einer gleichmäßig narkotisierten Nervenstrecke mit einer konstanten Geschwindigkeit fort?“

1922 VI1933 III Assistent am Physiologischen Institut der Universität Leipzig

1926 XII Habilitation für das Fach Physiologie: „Geruchsstudien“; Probevortrag: „Sympathicus und Zentralnervensystem“

1932 I Ernennung zum ausserplanmäßigen außerordentlichen Professor

1933 V Eintritt in die NSDAP, Mitglieds Nr. 3 078 794

1933 III1934 IX Ministerialrat im Reichs- und Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung in Berlin

1934 X1945 IX ordentlicher Professor für Physiologie und Direktor des Physiologischen Instituts an der Universität Heidelberg

19371945 Sekretär der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, 1941 bis 1945 Vizepräsident

1939 IX1945 III Kriegsdienst, zunächst als Assistenzarzt, April 1940 als Oberarzt, August 1941 Stabsarzt, November 1944 Oberfeldarzt beim Stellvertretenden Generalkommando des XII. Armee-Korps in Wiesbaden, ab Februar 1943 in Heidelberg; Kriegsverdienstkreuz II. und I. Klasse

1942 VII1945 IV Dekan der medizinischen Fakultät

1950 I1963 IX Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Boehringer & Soehne GmbH, Mannheim; ab 1953 Prokurist und Leiter der Abteilung für Medizinische Forschung

 

Weitere Angaben zur Person: Religion: evangelisch
Mitgliedschaften: Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften (1935); korrespondierendes Mitglied der Societas Medicorum Fennica Duodecim (1936); Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina, Halle (1941).
Verheiratet:

1934 (Wurzen bei Leipzig) Luise Ulla Renate, geb. Jässing (1906–1994), med.-techn. Assistentin


Eltern:

Vater: Hans (1865–1937), Dr. phil., Professor für evangelische Kirchengeschichte 

Mutter: Johanna, geb. Noltenius (1872–1953)


Geschwister:

2; Gustav Adolf (geb. 1901), Kaufmann, und Elisabeth (geb. 1912)


Kinder:

4; Anna Karin (geb. 1935), verh. Wollert, Christine (geb. 1936), Dr. med., Akka (geb. 1939), verh. von Lucius, und Andrea (geb. 1942)

GND-ID: GND/116005025

Biografie: Alexander Kipnis (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 7 (2019), 1-7

Wohl durch das Elternhaus geprägt war Achelis ein leidenschaftlicher, rastlos schaffender Wissenschaftler, dem bedeutende Beiträge zu Physiologie, Geschichte der Medizin und Pharmakologie gelangen, und ein ebenso überzeugter Nationalist, der dem „Dritten Reich“ besonders eifrig diente.

Er wurde als erster Sohn eines evangelischen Kirchenhistorikers geboren, der ab 1901 als Professor zunächst in Königsberg, dann in Halle, von 1916 bis 1918 in Bonn und dann bis 1935 in Leipzig lehrte. Diese Städte wurden frühe Lebensstationen des jungen Achelis Seine Schulbildung begann in Königsberg. In Halle besuchte er das Stadtgymnasium und erwarb als 17-jähriger im Juni 1915 das „Kriegsreifezeugnis“. Danach meldete er sich sofort freiwillig zum Heer. Da sein Regiment unweit von Halle stationiert war, konnte Achelis noch sein Studium der Naturwissenschaften beginnen. Es gelang ihm, wenigstens formal, ein Semester dort abzuschließen.

Im Dezember 1915 wurde er Gefreiter, im März 1916 Unteroffizier und im Juni 1916 in einem neugebildeten Regiment in Frankreich eingesetzt. Hier war Achelis anfangs Unteroffizier des Beobachtungswagens, in den Schlachten vor Verdun im Juli/August 1916 und Januar/Februar 1917 Batterieoffizier. Nach einer schweren Verwundung im Februar 1917 hatte Achelis einen halbjährigen Lazarettaufenthalt in der Chirurgischen Universitätsklinik Bonn, wo er erneut sein Studium aufnahm. Ab September 1917 diente er im Abteilungsstab seines Regiments und wurde Ende 1918 als Leutnant der Reserve aus dem Militär entlassen.

Im Eindruck seiner Kriegserlebnisse begann Achelis 1919 in Leipzig Medizin zu studieren, bestand im Mai 1920 mit besten Noten das Physikum und erhielt im Januar 1922 mit „sehr gut“ die ärztliche Approbation. Gleichzeitig arbeitete er als Volontär am Physiologischen Institut über eine Preisaufgabe des Direktors des Medizinischen Instituts Siegfried Garten (1871–1923): „Pflanzt sich der Erregungsvorgang in einer gleichmäßig narkotisierten Nervenstrecke mit einer konstanten Geschwindigkeit fort?“

Diese Aufgabe löste Achelis „in ganz ausgezeichneter Weise“ (UA Leipzig, PA 1242, Bl. 7). Es gelang ihm unter großen experimentellen Schwierigkeiten zu beweisen, dass die Erregung nicht mit einer konstanten, sondern mit abnehmender Geschwindigkeit abläuft. Dieses Ergebnis legte er als Doktorarbeit vor und wurde im Juni 1922 „summa cum laude“ promoviert und als besoldeter Assistent am Physiologischen Institut eingestellt.

Bereits nach seiner Promotion fällt die Erweiterung seiner Interessen in Richtung Medizingeschichte auf. Vermutlich im väterlichen Haus war Achelis auf Karl Sudhof (1853–1938) getroffen, vielleicht der bedeutendste Historiker der Medizin seiner Zeit, der 1925 emeritiert das „Archiv für Geschichte der Medizin“ herausgab und sämtliche Werke von Paracelsus edierte, dessen Schriften er seit Jahrzehnten gesammelt hatte. Ihm verdankte Achelis seinen Einstieg in die Paracelsus-Studien, denen er lebenslang treu blieb. Achelis kontaktierte auch Henry Ernest Sigerist (1891–1957), den Nachfolger Sudhofs, der Achelis im Juli 1926 als selten anzutreffenden „universell gebildeten Menschen“ charakterisierte, der „redlich bestrebt […], das Gesamtgebiet der Medizin zu überblicken, der die Mühe nicht scheut, sich mit den Grundfragen der Heilkunde auseinanderzusetzen und […] auch in den Geisteswissenschaften bewandert ist“ (UA Leipzig, PA 1242, Bl. 14 f.). Historischer Hintergrund kennzeichnet übrigens auch Achelis’ physiologische Arbeiten.

1923 starb Achelis’ Doktorvater Garten. Dessen Nachfolger, Martin Gildemeister (1876–1943), bearbeitete hauptsächlich die Sinnesphysiologie. So kam auch Achelis auf dieses Gebiet. Er wandte sich als selbständig denkender Forscher auch neuen Problemen zu. Ende 1924 publizierte er die theoretische Arbeit „Der Schmerz“, die einen neuen Ansatz zur Sinnesphysiologie darstellte. Zum ersten Mal verließ er die traditionellen Grenzen der Reiz – Reaktion – Physiologie und bewies, dass es keinen besonderen „Schmerzsinn“ gibt, sondern dass es sich eher um komplexe Empfindung handele, wobei das Zentralnervensystem eine große Rolle spiele. Mit dieser Arbeit gelangte Achelis zu einer neuen physiologischen Betrachtungsweise, die er viele Jahre weiterentwickelte. Sie basierte auf der Grundidee des Zusammenwirkens von vegetativen Abläufen mit Prozessen im Gehirn.

Sein nächstes Werk auf dem Gebiet der Sinnesphysiologie, „Geruchsstudien“, legte Achelis im Juli 1926 als Habilitationsschrift vor und zeigte, dass die klassische Reiz-Empfindung-Analyse hier unbrauchbar ist und dass „ein Geruch und eine ganze Anzahl von organisch bedingten und psychischen Verhaltungsweisen des Menschen […] in jedem Geruchserlebnis in unlösbarer Verschmelzung enthalten sind.“ (1929, Geruchsstudien, S. 337) In dieser Arbeit demonstrierte Achelis, dass „der psychologische Ansatz geeignet ist, physiologische Grundfragen in neuer Weise zu betrachten und damit wesentlich zu fördern“ (ebd.), womit er „Grenzland zwischen Natur- und Geisteswissenschaften“ (UA Leipzig, PA 1242, Bl. 7) betrat, wie Gildemeister in seinem sehr positiven Gutachten betonte. Der zweite Gutachter, der Psychologe Felix Krueger (1874–1948), schloss mit den Worten: „Der Verfasser denkt in hohem Maße unabhängig von Autoritäten und herrschenden Gewohnheiten. […] Seine ganze Persönlichkeit verspricht entschieden einen tüchtigen, erfolgreichen Forscher und Lehrer“ (ebd., Bl. 11).

Mit der Habilitation tat er den nächsten Schritt in der akademischen Karriere. Achelis erweiterte dann seine Tätigkeit auf das Gebiet der Geschichte der Medizin. Im SS 1927 las Achelis als Assistent bei Sigerist über „Die Physiologie und Psychologie von C. G. Carus“ (UA Leipzig, PA 1242, Bl. 20). 1928 gab er Paracelsus’ Werk „Über Krankheit und gesundes Leben“ heraus, wofür er den Einführungsartikel und ausführliche Kommentare verfasst hatte. Zugleich arbeitete Achelis intensiv im Physiologischen Institut. In die Leipziger Zeit fällt als bedeutendes Ergebnis seiner experimentellen Forschungen die Erkenntnis, dass die Messwerte der Erregbarkeit von Nerven sich durch Prozesse im zentralen Nervensystem verändern lassen. Diese Erscheinung, von Achelis als „Umstimmung“ bezeichnet, bildete den Ausgangspunkt zum physiologischen Ansatz der psychosomatischen Medizin.

Institutsdirektor Gildemeister veranlasste Ende

1931 die vorzeitige Verleihung des Professorentitels an Achelis, und im Januar 1932 ernannte ihn das sächsische Kultusministerium zum außerplanmäßigen außerordentlichen Professor für Physiologie, dessen Antrittsvorlesung am 11. Mai „Über Pathologische Physiologie“ handelte. Anschließend übernahm Achelis vertretungsweise die Direktion des Instituts für Geschichte der Medizin.

Seit seinen Studienjahren engagierte sich Achelis neben seiner wissenschaftlichen Arbeit bei den konservativen Deutschnationalen. Während des Kapp-Putsches im März 1920 nahm er sogar an Straßenkämpfen in Leipzig teil und trat Ende 1920 der sogenannten Organisation Escherich, Abteilung Sachsen-West bei, einer rechtsradikalen Organisation, der Achelis bis zu deren Auflösung Ende 1921 angehörte. Bezeichnenderweise wechselte er 1922 seinen Rufnamen Daniel. Nun nannte er sich Johann Daniel. Später war Achelis von der NS-„Bewegung“ begeistert und beteiligte sich 1931 und 1932 im NS-Studentenbund. Dass er ab Mai 1933 Mitglied der NSDAP wurde, geschah wohl aus demonstrativer Überzeugung.

Im März 1933 vereinbarte der Parteianwärter Achelis seine Einstellung ins Reichserziehungsministerium. Offiziell ab 1. April wurde er Personalreferent der Universitäten. Obwohl die Universität die Abwesenheit Achelis’ als Beurlaubung deklariert hatte, verließ Achelis Leipzig endgültig und leitete von November 1933 bis April 1934 die Hochschulabteilung, ab 1934 „Amt für Wissenschaft“ genannt. Bis September 1934 war er eifrig mit Entlassungen „nichtarischer“ und „politisch verdächtiger“ Dozenten aus preußischen Universitäten befasst. Die Zeit der „Gleichschaltung“ hatte begonnen, das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ konnte umgesetzt werden und mit guten Gründen wurde Achelis später als „der Architekt der ‚Säuberung‘ der deutschen Hochschulen“ bezeichnet (Heiber, 1991, S. 392). Ein Artikel über Achelis behauptet zwar, dass er in Berlin der Parteilinie nicht konsequent gefolgt sei und „in die Universität Heidelberg abgeschoben wurde“ (Kramer, 1973, S. 1355); dies zu überprüfen ist jedoch kaum möglich. Achelis selbst nannte in einem Personalbogen vom Oktober 1935 den Vorgang schlicht „akademische Ferien“ (UA Heidelberg, PA 3098).

So kam Achelis im Oktober 1934 nach Heidelberg auf das frei gewordene Ordinariat für Physiologie. In der Vorschlagsliste der Medizinischen Fakultät für die Neubesetzung des Lehrstuhls vom 28. Juni 1934 stand Achelis „vor allen anderen Physiologen an 1. Stelle, weil er der einzige Physiologe ist, der ausschließlich Physiologie des Menschen getrieben hat […]. Seine wissenschaftlichen und menschlichen Fähigkeiten stehen so außer Zweifel […]. Seine Berufung bedeutet eine besonders wertvolle Bereicherung der Heidelberger Fakultät“ (UA Heidelberg, H-III-584/1).

Am 10. Oktober 1934 ernannte das badische Kultusministerium Achelis mit Wirkung vom 1. September als Beamter auf Widerruf zum ordentlichen Professor und Direktor des Physiologischen Instituts der Universität. Beamter auf Lebenszeit wurde er im Juli 1944. Sogleich wurde er bis 1942 stellvertretender Dekan der medizinischen Fakultät, dann deren Dekan.

Er las über „Physiologie des Menschen“, leitete Übungen und Laborarbeiten. Über die Lehre hatte Achelis eigenen Vorstellungen, wobei seine Hauptidee war, dass zukünftige Ärzte klinische Erfahrungen bereits im ersten Semester machen sollten, nicht erst nach dem Physikum. In der NS-Zeitschrift „Volk im Werden“ veröffentlichte Achelis 1935 einen Artikel über die medizinische Ausbildung und erklärte: „dass durch die nationalsozialistische Revolution für die Erziehungsaufgabe eine neue Lage geschaffen“ (1935, S. 409) sei. Neben vielen sachlich vernünftigen Ansichten und Fragestellungen schließt Achelis allerdings höchst ideologiegeprägt: „man [will] nicht gute Ärzte schlechthin erziehen, sondern nationalsozialistische Ärzte. […] Das Politische muss die Berufsausbildung durchdringen und darf nicht nur außerhalb des Hörsaals existieren“ (ebd., S. 421). Die Fakultätskommission für Entnazifizierung wertete die Tätigkeit Achelis’ 1946 so: „Wir verkennen nicht, dass er bei seiner Amtstätigkeit vielfach die Interessen der Fakultät und Universität mit Erfolg vertreten hat, doch ist nicht zu bezweifeln, dass er dem sogenannten nationalsozialistischen Führerkreis der Fakultät angehörte.“ (UA Heidelberg, PA 805)

Im Februar 1935 wählte die Heidelberger Akademie der Wissenschaften Achelis zum ordentlichen Mitglied der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse. Seine wissenschaftliche Qualifikation war dabei unbestritten, dennoch wirkte hier wie auch in mehreren anderen Fällen entscheidend mit, dass die Akademie Fühlung mit den Machthabern aufzunehmen versuchte. Bald rückte Achelis in die führende Position der Akademie: 1937 bis 1943 als Sekretär der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse und 1941 als Vizepräsident. „Achelis sollte zum Motor der Selbstgleichschaltung in der Klasse und in der Akademie werden.“ (Wennemuth, 1995, S. 115) In seinem Bericht vom Mai 1938 über die Geschäftsjahre 1936 bis 1938 betonte Achelis „eine besondere Bedeutung“ dieser Jahre, weil „sich in ihnen die Stellung der Akademie im Staat und in der Öffentlichkeit grundsätzlich geändert hat.“ (1938, Bericht, S. 19) Mag sein, dass Achelis nicht der fanatische Nationalsozialist wie sein Fakultätskollege Carl Schneider (" V 350) war, seine Nähe und Treue zum NS-Regime aber steht außer Zweifel, auch in der „Judenfrage“. Vermutlich war er bereits im Elternhaus antisemitisch geprägt worden, in der Heidelberger Akademie der Wissenschaften jedenfalls wollte er „nichtarische“ Mitglieder ausschließen und erklärte am Vorabend der akademischen Gesamtsitzung vom 22. Februar 1936 zusammen mit den anderen NS-Mitgliedern, „dass sie der heutigen Sitzung nicht beiwohnen wollten, weil sie als Angehörige der NSDAP sich nicht der Möglichkeit aussetzen könnten, hier mit Juden zusammenzutreffen.“ (Wennemuth, 1994, S. 406)

Inhaltlich knüpfte Achelis in Heidelberg an seine Leipziger physiologischen Forschungen an, erschloss aber auch neue Arbeitsrichtungen, z. B. die Ernährungsphysiologie. Das bedeutendste Ergebnis dieser Zeit aber war ein neuer Ansatz zur Schmerztheorie, der eine Weiterentwicklung der in Leipzig begonnenen Arbeit darstellte. In Vorträgen vor der 61. Wanderversammlung der Südwestdeutschen Neurologen und Psychiater im Juli 1936 in Baden-Baden und vor der 14. Tagung der Deutschen Physiologischen Gesellschaft im September 1936 in Gießen sowie 1936 und 1939 in Artikeln äußerte er sich dazu. Wiederum von seinem Grundgedanken über die Rolle des Gehirns bei der Verarbeitung von Nachrichten und in der Beeinflussung vegetativer Prozesse ausgehend entwickelte er seinen Ansatz von 1925 weiter und kam zu dem „Auslösungshypothese“ genannten Schluss, dass der Schmerz nicht eine Sinnempfindung sei, „sondern das Erlebnis einer Störung, bei dem sich der Organismus nicht mehr konstant rezeptiv verhält, sondern bereits (in einer ungeordneten Form) reagiert und antwortet“ (1936, Die Physiologie d. Schmerzen, S. 568).

Auch in Heidelberg pflegte Achelis die Medizingeschichte. An der Universität nahm er seit 1937 den entsprechenden Lehrauftrag wahr und las eine Wochenstunde über die Geschichte der Medizin. Er erachtete auch die „Errichtung eines Instituts für Geschichte der Medizin“ als „dringend erforderlich“ für den Ausbau der Medizinischen Fakultät (UA Heidelberg, H-III-650/1, Brief an den Dekan vom 14.1.1941). In der Akademie kümmerte er sich um den Aufbau einer medizinhistorischen Bibliothek. Die damalige Sammlung bildet bis heute einen großen Teil des Bestandes der Bibliothek des Instituts der Geschichte der Medizin und Ethik. Achelis bemühte sich auch, „ein Forschungsinstitut für Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften“ im Rahmen der Akademie einzurichten und erhielt eine prinzipielle Genehmigung des badischen Kultusministeriums (UA Heidelberg, HAW, Brief Achelis‘ vom 25.5.1942). Der Kriegsverlauf verhinderte jedoch die Umsetzung; Institut und Lehrstuhl für die Geschichte der Medizin wurden erst 1961 etabliert.

Nach Kriegsausbruch wurde Achelis sofort als Arzt beim Stellvertretenden Generalkommando des XII. Armee-Korps in Wiesbaden einberufen. Der Versuch der Universität, ihn als U.K. zurückzustellen, wurde abgelehnt, da Achelis „als Kriegs-Referent […] beim Korpsarzt unentbehrlich“ (UA Heidelberg, PA 3097) sei. Um Universitätsveranstaltungen zu ermöglichen, erlaubten die Militärbehörden jedoch, dass Achelis pendelte. So führte er sein „doppeltes Leben“ zwischen Wiesbaden und Heidelberg (Brief Achelis‘ vom 23.6.1942, UA Heidelberg, K IV/2–41/2a), bis er im Februar 1943 an eine Heidelberger Dienststelle versetzt wurde. Dass sein Militärdienst erfolgreich verlief, wird in einen stetigen Beförderungen sichtbar, die vom Assistenzarzt zum Oberfeldarzt reichten, und in den Auszeichnungen, dem Kriegsverdienstkreuz II. und I. Klasse. Über seine Arbeit beim Militär gibt es nur fragmentarische Hinweise darauf, dass es sich um Anpassung des Menschen an Extrembedingungen wie große Höhen und Hitze handelte. Das Physiologische Institut jedenfalls erhielt dafür einige Forschungsaufträge der Luftwaffe. Es ist auch bekannt, dass Achelis im April 1944 für eine Woche zum U-Boot-Medizin-Forschungsinstitut in Frankreich abkommandiert war.

Als amerikanische Truppen sich Ende März 1945 Heidelberg näherten, unternahm Achelis als Dekan der medizinischen Fakultät zusammen mit anderen Sanitätsoffizieren eine Parlamentärfahrt zu den Amerikanern, um über die Schonung der mit 8000 Verwundeten belegten Lazarette zu verhandeln. Bei der Rückfahrt wurde seine rechte Hand durch einen Granatsplitter unbekannter Herkunft verletzt.

Noch im April 1945 amtierte Achelis als Dekan, im Mai musste er dann diese Funktion dem unbelasteten Chirurgen K. H. Bauer (Baden-Württembergische Biographien III, S. 23) übergeben. Als Direktor des Physiologischen Instituts beschäftigte er sich einstweilen weiter mit Vorbereitungen zur Wiedereröffnung der Universität und der medizinischen Fakultät, bis er Anfang September wegen seiner Berliner Tätigkeit verhaftet wurde. Er kam bereits im Oktober wieder frei, wurde aber aus der Universität entlassen. In der Heidelberger Akademie der Wissenschaften war er noch bis Ende 1945 im internen Geschäftsbetrieb nicht zu ersetzen; denn nur er besaß „die nötigen Sachund Detailkenntnisse der Interna“ (Wennemuth, 1994, S. 545). Dann wurde Achelis zum „ruhenden Mitglied“ der Akademie, bis er im Dezember 1952 wiedergewählt wurde. An den Aktivitäten der Akademie aber nahm aber kaum mehr teil.

Sehr mild geriet das Urteil der Heidelberger Spruchkammer vom April 1947: Achelis wurde als „Mitläufer“ eingestuft und im August desselben Jahrs wurde diese Entscheidung sogar aufgehoben, da Achelis aufgrund seiner Kriegsbeschädigung unter die Amnestie-Verordnung fiel. Trotzdem weigerten sich Universität und Kultusministerium, die Professur für Achelis wieder herzustellen, worauf er in einem Brief an das Kultusministerium klagte: „Meine wirtschaftliche Lage ist sehr schwierig“ (22.6.1949, UA Heidelberg, PA 3099).

Letztendlich gab er die Hoffnung aber bald auf, an die Universität zurückzukehren und bewarb sich Mitte 1950 erfolgreich bei der Firma Boehringer in Mannheim, wo er mit der Leitung der damaligen „Medizinischen Entwicklungsabteilung“ betraut wurde. Diese baute er dann zu einer wirklichen „Medizinischen Forschungsabteilung“ aus, indem er ein Pharmakologisches Laboratorium einrichtete und eine bisher nicht gekannte enge Kooperation von Chemikern, Pharmakologen und Klinikern organisierte.

Damit leitete Achelis eine neue Phase der Entwicklung moderner Arzneimittel bei Boehringer ein: Arbeiten an einem neuen Mittel zur peroralen Anwendung bei Diabetes und an Alkaloiden aus Rauwolfia wurden aufgenommen, die gegen Hypertonie wie in der Psychiatrie einsetzbar waren. Die 13 Jahre Achelis’ bei Boehringer waren durch beachtliche organisatorische und wissenschaftliche Leistungen gekennzeichnet. Seine Tätigkeit „hat entscheidend dazu beigetragen, dass die […] Firma nach den schweren Jahren der Kriegs- und Nachkriegszeit erneut hohes Ansehen als Herstellerin fortschriftlicher […] Arzneimittel gewann.“ (Anonym, 1963, Zum 65. Geburtstag, S. 514) Ein ungewöhnliches Unternehmen Achelis’ war von 1960 bis 1962 die Organisation und Durchführung der „Sternbacher Gespräche“, interner Symposien mit nur etwa einem Dutzend Teilnehmern, durchweg bedeutende Psychiater, Psychologen, Verhaltensforscher und Pharmakologen, die Grundlagenprobleme der Pharmakologie in der Psychiatrie diskutierten. Dank geschickter Diskussionsführung gelang es Achelis, den Gegensatz der beiden konträren Standpunkte, des psychiatrisch-anthropologischen und des rein naturwissenschaftlich-physiologischen Ansatzes, zu neutralisieren. Sein Ziel war die Annäherung beider Fraktionen, weil „man hier mit absoluter Anerkennung und absoluter Verdammung der einen oder anderen Position nicht weiter kommt“ (1963, S. 81).

Die weitere Entwicklung der Psychopharmakologie rechtfertigte diese Einstellung. Die ersten beiden Bände der „Sternbacher Gespräche“ gab Achelis selbst heraus, der dritte Band erschien postum. Achelis starb unerwartet während seiner Dienstreise auf dem Schiff in die USA. Nach vier Wochen wurde er in Heidelberg bestattet.

Das literarische Erbe Achelis‘, insgesamt etwa 40 Publikationen, scheint nicht umfangreich, sein Lebenswerk aber ist vielseitig. Das bedeutendste Ergebnis seiner Forschungen als Physiologe war die Entwicklung des physiologischen Ansatzes der psychosomatischen Medizin und damit ein bedeutender Beitrag zu deren Etablierung. Weiter lieferte Achelis wichtige Beiträge zur Geschichte der Medizin, worunter seine Paracelsus-Studien ihren Wert bis heute behielten. Dazu kommt, dass es Achelis gelungen ist, entscheidende Impulse zur Etablierung der Medizingeschichte als selbständiges Unterrichts- und Forschungsfach in Heidelberg zu geben. Schließlich gebührt ihm das Verdienst der Neuentwicklung der Forschung bei der pharmakologischen Firma Boehringer Mannheim.

Was Achelis Zeit seines Lebens angriff, machte er gründlich und mit voller Hingabe, ob Wissenschaft, Militärdienst, Unterricht oder organisatorische Tätigkeit. Bedauerlich ist nur, dass ein Großteil seiner Energie und Fähigkeiten fehlorientiert war. Dennoch haben ihm seine Leistungen in der Physiologie, der Medizingeschichte und der Pharma-Industrie einen bleibenden Ort in der Geschichte der Medizin Deutschlands eingebracht.

Quellen:

UA Leipzig, PA 1242, Personalakte Achelis, Rep. 01/08/199, Bd. 09, Anstellung und Entlassung außerordentlicher Professoren, 1932; UA Heidelberg, PA 805, PA 3097, PA 3098, PA 3099 (Personalakten Achelis), Rep 27, Nr. 6, Akademische Quästur Achelis, B-7397, Lehrstuhl d. Physiologie, K-IV/2–41, Nr. 1–5, Korrespondenz der medizinischen Fakultät, H-III-650/1, Physiologisches Institut 1935–1955, H-III-584/1, Professur für Physiologie, HAW- 52, Akte Achelis in der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, HAW-545, Korrespondenz Achelis – Panzer, 1937–1945, HAW-667, -807, -886–888 und -906, Verschiedene Angelegenheiten, und Achelis Vorträge und Publikationen; Friedrich Engelhorn-Archiv, Mannheim, S 11/08, Chronik d. C. F. Boehringer & Söhne GmbH, Mannheim-Waldhof [1959] (Typoskript), (ohne Signatur) 130 Jahre Boehringer Mannheim. Chronik 1859–1989 (Typoskript); Auskünfte des UA Bonn vom 18.4.2017 und UA Halle vom 24.4.2017.

Werke: Pflanzt sich der Erregungsvorgang in einer gleichmäßig narkotisierten Nervenstrecke mit einer konstanten Geschwindigkeit fort?, in: Zs. für Biologie 76, 1922, 315–347; Der Schmerz, in: Zs. für Sinnesphysiologie 56, 1925, 31–68; Bemerkungen zu Aschners Paracelsusübersetzung, in: Archiv für Geschichte d. Medizin 19, 1927, 187–196; (mit H. Rothe) Über den Einfluss der Hautbestrahlung mit ultraviolettem Licht auf den sensiblen Nerven, in: Archiv für die gesamte Physiologie 218, 1928, 427–436; Über die Umstimmung des peripheren motorischen Nerven, ebd. 219, 1928, 411–425; Hg. und Autor des Einführungsartikels und des Kommentars von: Paracelsus Volumen Paramirum (Von Krankheit und gesundem Leben), 1928; Geruchsstudien, Habilitationsschrift, in: Archiv für die gesamte Psychologie 71, 1929, 273–338; Der ärztliche Begriff des Organismus, in: Philosophische Grenzfragen der Medizin, 1930, Vorträge des Instituts für Geschichte der Medizin an der Universität Leipzig, Bd. 3, 51–63; Schwellenbestimmung an Froschnerven mit Wechselströmen niedriger Frequenz, in: Archiv für die gesamte Physiologie 224, 1930, 217–229; (mit J. Merkulow) Die elektrische Erregbarkeit des menschlichen Auges während der Dunkeladaptation, in: Zs. für Sinnesphysiologie 60, 1930, 95–125; Über sensible Umstimmung, in: Berr. über die Verhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, mathematischphysische Klasse, 28, 1930, 145–149; Über Umstimmung der Sensibilität, in: Archiv für die gesamte Physiologie 226, 1931, 212–238; Zur Physiologie d. Chronaxie, in: Zentralbl. für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 60, 1931, 536–549; Über Umstimmungen des Nervensystems, in: Verhandlungen. der Deutschen Gesellschaft für innere Medizin 43, 1931, 39–42; Über die Polarisationskapazität („Permeabilität“) des Skelettmuskels bei indirekter Reizung, in: Archiv für die gesamte Physiologie 230, 1932, 412–422; Klinische Bemerkungen zur Chronaxiebestimmung am Menschen, in: Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde 130, 1933, 227–247; (mit H. Büssow) Über die elektrische Erregbarkeit dystrophischer Muskeln, in: Dutsches Archiv für klinische Medizin 174, 1933, 518–526; Zur medizinischen Ausbildung, in: Volk im Werden 3, 1935, 409–421; Über den medizinischen Unterricht, in: Volksgemeinschaft 6, 1936, Nr. 176, Festausgabe; Die Physiologie der Schmerzen, in: Nervenarzt 9, 1936, 559–568; Die Ernährungsphysiologie des 17. Jahrhunderts, in: Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Math.-naturwiss. Klasse, Jg. 1938, 3. Abh., 1–22; Über die Syphilisschriften Teophrasts von Hohenheim, ebd., 9. Abh., 1–42; Bericht über die Geschäftsjahre 1936/38, in: Jahresheft der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 1936/1940, 19–32; Zur Physiologie des Zentralnervensystems, in: Hippokrates 10, 1939, 483–486; (mit H. Nothdurft) Über Ernährung und motorische Aktivität, in: Archiv für die gesamte Physiologie 241, 1939, 651–673; Untersuchungen über die Hautsensibilität. Zur Theorie des Schmerzens, ebd. 242, 1939, 644–664; Die Überwindung der Alchemie in der paracelsischen Medizin, in: Sitzungsbericht der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Math.-naturwiss. Klasse, Jg. 1942, 3. Abh., 1–34; Stoffwechselprobleme, in: Klinische Wochenschr. 23, 1944, 215–221; (mit G. Kroneberg) Raupin, ein neues Alkaloid aus Rauwolfia serpentina. Pharmakologische Prüfung, in: Naturwissenschaften 40, 1953, 342; (mit G. Kroneberg), Neue Alkaloide aus Rauwolfia Serpentina. Pharmakologische Wirkungen, ebd., 625; (mit K. Hardebeck) Über eine neue blutzuckersenkende Substanz, in: Deutsche medizinische Wochenschrift 80, 1955, 1452–1455; (mit E. Haack und K. Hardebeck) Über neue blutzuckersenkende Substanzen, in: Archiv für experimentelle Pathologie und Pharmakologie 228, 1956, 163–165; (mit G. Kroneberg) Kumulation und Wirkungsdauer von Digitalis-Glykosiden, ebd. 236, 1959, 234–236. (Hg. zusammen mit H. v. Ditfurth), Befinden und Verhalten. Verhaltensphysiologische und anthropologische Grundlagen der Psychopharmakologie, 1961; (Hg. zusammen mit H. v. Ditfurth), Anthropologische und naturwissenschaftliche Grundlagen der Pharmako-Psychiatrie, 1963; (mit Th. Scholibo) Probleme der Pharmakopsychiatrie, 1966.
Nachweis: Bildnachweise: Foto (um 1938?), S. 5, UA Heidelberg, Pos I, Nr 00009. – Weitere Fotos ebd. Nr. 00010 f. und 00759 (vgl. Literatur).

Literatur:

Dt. Biogr. Enzyklopädie Bd. 1, 22005, 23; Anonym, Zum 65. Geburtstag von Professor Dr. Johann Achelis, in: Arzneimittel-Forschung 13, 1963, 514 (mit Bildnachweis); Anonym, In memoriam Professor Dr. Johann Achelis, ebd, 1018 (mit Bildnachweis); H. Schäfer, Daniel Achelis †, in: Jahrb. d. Heidelberger Akad. d. Wissenschaften für 1963/1964, 51–53; K. Krämer, In memoriam Johann Daniel Achelis (1898–1963), in: Arzneimittel-Forschung 23, 1973, 1355–1357; Birgit Vezina, Die „Gleichschaltung“ der Universität Heidelberg im Zuge der NS-„Machtergreifung“, 1982, 160; Chronik der Ärzte Heidelbergs, 1985, 120, (mit Bildnachweis, 149); E. P. Fischer, Wissenschaft für den Markt: Die Geschichte des forschenden Unternehmens Boehringer Mannheim, 1991, 184–187, 236–239, 253–255, 462; Helmut Heiber, Universität unterm Hakenkreuz, Teil I, 1991, 53, 392; Teil II, Bd. 1, 1992, 444 f., 456 f., Bd.2, 1994, 303; Udo Wennemuth, Wissenschaftsorganisation und Wissenschaftsförderung in Baden: Die Heidelberger Akademie der Wissenschaften 1909–1949, 1994, 374–380, 402–406, 418–425, 544 f.; ders., Die Heidelberger Akademie der Wissenschaften im Dritten Reich, in: Acta historica Leopoldina Nr. 22, 1995, 113–132; Rüdiger vom Bruch, Brigitte Kaderas (Hgg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik … im Deutschland des 20. Jahrhunderts, 2002, 207 f.; Ernst Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich, 2003, 10; Michael Grüttner, Biographisches Lexikon zur NS-Wissenschaftspolitik, 2004, 13; W. U. Eckart, V. Sellin, E. Wolgast (Hgg.), Die Universität Heidelberg im Nationalsozialismus, 2006, 647–649, 673–693; D. Drüll, Heidelberger Gelehrtenlexikon, 1933–1986, 2009, 73 f.; Matthis Krischel u.a. (Hgg.), Medizinische Fachgesellschaften im Nationalsozialismus, 2016, 58.

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