Adickes, Erich 

Geburtsdatum/-ort: 29.06.1866; Lesum
Sterbedatum/-ort: 08.07.1928;  Tübingen
Beruf/Funktion:
  • Philosoph
Kurzbiografie:

1872–1884 Schulzeit in Lesum und Altona
1884–1885 Studium der Theologie u.nd Philosophie in Tübingen
1885–1887 Philosophie in Berlin bei Friedrich Paulsen; Abschluss Promotion bei Friedrich Paulsen (1846–1908): „Kants Systematik als systembildender Faktor“; Lehramtsprüfung
1888/89 Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger in Altona
1889–1890 Probekandidat an der Oberrealschule in Kiel
1890/91 6 Monate Hilfslehrer an d. Realschule Barmen-Wupperfeld
ab 1891 Oberlehrer in Kiel
1895 Habilitation an der Universität Kiel
1896 Beginn der Arbeit an der Kant-Edition
1898 außerordentlicher Professor an der Universität Kiel
1902–1904 ordentlicher Professor in Münster
1904–1928 ordentlicher Professor in Tübingen

Weitere Angaben zur Person: Religion: evangelisch
Verheiratet:

1892 (Osnabrück) Elisabeth, geb. Waldmann (1868-1950)


Eltern:

Vater: Wilhelm Diederich (1817-1896), Amtsrichter

Mutter: Theodore, geb. Chappuzeau (1822-1898)


Geschwister:

3; Franz (1846-1915), Magdalena (1849-1917) und Ernst Eduard (1850-1897)


Kinder:

3; Margarete (Gretel), verh. Hauser (1893-1977), Elisabeth (Lisa, 1894-1922) und Franz (1897-1973)

GND-ID: GND/11600780X

Biografie: Renate Liessem-Breinlinger/Harald Seubert (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 7 (2019), 7-12

Adickes wurde geboren als seine friesische Heimat, Lesum bei Bremen, preußisch wurde. Der Vater war seit 1852 Amtsrichter und entstammte einem alten Bauerngeschlecht aus dem Marschland an der Wesermündung, die Mutter einer gebildeten Hugenottenfamilie. „Meine Eltern waren tief religiöse Naturen. Sie […] hielten an der religiösen Vorstellungswelt des Pietismus auf altlutherischer-orthodoxer Grundlage [...] fest.“ (Selbstdarstellung, in: Schmidt, 1921, S. 2.) Das spätgeborene vierte Kind wuchs wie ein Einzelkind auf und hatte im 20 Jahre älteren Bruder Franz einen zweiten Vater. Wie dieser besuchte er zunächst eine koedukative Schule am Ort und wechselte nach einem dreiviertel Jahr Privatunterricht auf das altsprachliche Gymnasium „Christianeum“ in Altona. Hier war Franz seit 1876 Bürgermeister, dann Oberbürgermeister, so dass Adickes Familienanschluss hatte.

Als Kind wollte Adickes wie sein Bruder Ernst Pfarrer werden, was die Eltern förderten. In seinem ersten Studienort Tübingen ließ er sich in der theologischen Fakultät einschreiben, belegte aber ein breites Fächerspektrum und strebte bald die wissenschaftliche Laufbahn an. Den historisch-kritischen Zugang lernte er in den Vorlesungen des Alttestamentlers Emil Kautzsch (1841–1910) kennen, was ihm eine neue Welt auftat, aber auch Furcht, das innige Verhältnis zu den Eltern zu verlieren. Offen für Geselligkeit schloss Adickes sich der 1877 gegründeten, von Studenten aus Norddeutschland gerne gewählten Verbindung „Derendingia“ an.

Nach einem Jahr wechselte Adickes nach Berlin, wo ihn das Thema Kant erfasste und lebenslang beschäftigte. Er war gerade 21 Jahre alt, als seine Doktorarbeit zu Kant gedruckt vorlag. Nach nur dreijähriger Studienzeit legte er zur wirtschaftlichen Absicherung die Lehramtsprüfung ab. Dann stand der Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger in Altona bei der Infanterie an, wobei er wieder bei seinem Bruder lebte. Bald begann er eine Laufbahn im Schuldienst, zunächst als Probekandidat an der Oberrealschule in Kiel, dann einige Monate als Hilfslehrer in Barmen/Wupperfeld. Nach zwei Ergänzungsprüfungen zur Erweiterung seines Fächerspektrums erhielt er eine Anstellung als akademisch gebildeter Oberlehrer in Kiel. So abgesichert konnte er heiraten. An der Hochzeit nahmen beide Eltern teil und des Vaters Schwester Erneste, die Witwe des preußischen Abgeordneten Carl Hugenberg, die Mutter von Alfred, der später Cousine Gertrud Adickes heiratete. Adickes Kontakt zur Hugenberg-Verwandtschaft war besonders intensiv während Alfreds Zeit als Generaldirektor der Krupp AG, da sich Franz Adickes in seinen letzten Lebensjahren zwischen 1912 und 1915 oft in Essen aufhielt.

1892 auf der Hochzeitsreise in Lugano traf Adickes den Harvard-Professor Jacob G. Schurman (1854–1942), der ihn für die „Philosophical Review“ um eine Kant-Bibliographie bat. Er sagte zu. Das 1896 gedruckte Werk war nicht nur bloße Auflistung, sondern „eine kritische Inhaltsangabe der Schriften und Aufsätze und eine Darstellung der ganzen Systeme“ (Selbstdarstellung, S. 26) gegeben. Auffällig daran ist Adickes Gewandtheit im Englischen, die er im Elternhaus erworben hatte, wo es, dem Plattdeutschen verwandt, intensiv gepflegt worden war. Im Frühjahr 1896 nahm er von Wilhelm Dilthey (1833–1911), dem Vorsitzenden der Kantkommission der Berliner Akademie der Wissenschaften, den zeitaufwändigen Auftrag an, im Rahmen der Edition von Kants gesammelten Werken den handschriftlichen Nachlass zu bearbeiten. Adickes war damit nicht nur als Kant-Kenner und Philologe gefordert, er musste auch Kenntnisse in der Geschichte der Physik, Chemie, Geographie und Geologie erarbeiten. Im Rückblick spricht er von „Zwangsarbeit“. Eigentlich hatte er Kant ruhen lassen und sich erkenntnistheoretischen, metaphysischen, wertpsychologischen und ethischen Problemen zuwenden wollen.

Mit seiner akademischen Laufbahn war er nicht zufrieden. Das unbezahlte Extraordinariat in Kiel war ein Trostpflaster. Die „Stellung des deutschen Professors, […] eine der schönsten und erstrebenswertesten“ (Franz Adickes, 1929, S. 133), erreichte er 1902 durch den Ruf an die neugegründete katholisch geprägte Universität Münster. Seine Lehrveranstaltungen fanden Beachtung, auch bei Theologiestudenten. Zwei Jahre später folgte er dem Ruf nach Tübingen, einer Stadt, wo er in seiner Verbindung daheim war. Er brachte Kant-Handschriften mit, die zum großen Teil aus der Universitätsbibliothek Königsberg stammten. „Häusliche Benutzung, größtenteils für lange Jahre“ (Vorwort Bd. XIV) war ihm gewährt. So wurde er damit „ganz heimisch“ (ebd.).

In das Kollegium fügte er sich harmonisch ein. Adickes nennt etliche Naturwissenschaftler wie Robert Gradmann, die ihn bei der Kantedition unterstützten. In einem fachlichen, aber nicht persönlichen Spannungsverhältnis stand er zu dem in Tübingen geborenen Philosophen Hans Vaihinger (1852–1933), Ordinarius in Halle und renommierter Kant-Forscher. Vaihinger hatte 1896 die „Kant-Studien“, bis heute die für die Kant-Forschung maßgebliche Zeitschrift der Kant-Gesellschaft, gegründet, zu der Adickes regelmäßig Beiträge lieferte. Vaihingers „Philosophie des Als Ob“, die Gott und Seele für nützliche Fiktionen hält, lehnte Adickes aus tiefstem Innern ab. Bei seinem kritischen Denken blieb immer Platz für die Religion. Adickes selbst bezeichnet sich als metaphysischen Realisten, begründet sein Realitätsbedürfnis mit seiner Naturliebe und folgert: „So blieb für mich nur eine Möglichkeit: ein Pantheismus der Entwicklung, des Fortschritts. Gott und die Welt eins“. (Selbstdarstellung, 1921, S. 19). Dies war nicht nur eine philosophische, sondern auch eine existenziell-biographische Erfahrung: Natur erlebte er intensiv bei Wanderungen in den Alpen und auf der Alb.

1911 erschien Band XIV der Akademie-Ausgabe von Kants Werken, der erste der von Adickes bearbeiteten Bände der Abteilung Handschriftlicher Nachlass: „Mathematik – Physik und Chemie – Physische Geographie“. 1913 und 1914 folgten die Bände XV und XVI, alle drei erlebten in den frühen 1920er Jahren eine Neuauflage und wurden 1969 nachgedruckt. Adickes’ solide sorgfältige und akribische Arbeit hatte Bestand, auch von nachfolgenden Forschergenerationen. Er hatte 1914 ein Zwischenziel erreicht und ging das Thema „Kant als Naturwissenschaftler“ auf der Grundlage des „Opus postumum“ neu an. Mit der Zuwendung zu Kants letztem unvollendetem Manuskript setzte sich Adickes zugleich dem Kantischen Systemanspruch aus. Das Werk nahm ihn während der Kriegsjahre in Anspruch, erschien 1920 und umfasst 855 Seiten. Adickes erwähnt im Vorwort, dass er die Autographe 1916 hatte einsehen dürfen, als sie sich noch im Besitz des Pastors und Kantforschers Albrecht Krause in Hamburg befanden; seit 1999 sind sie in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz in Berlin. Er nahm bei dem vierwöchigen Aufenthalt in Hamburg die „erste und im Wesentlichen immer noch zuverlässige Datierung“ vor (Basile, 2013, S. 501).

Erfüllt von der Begegnung mit dem Alterswerk Kants und überzeugt von dessen Wert schlug Adickes der Kant-Kommission vor, das „Opus postumum“ wie ursprünglich geplant, in seinem Vertrag aber nicht vorgesehen, in die Abteilung 3 der gesammelten Werke aufzunehmen. Benno Erdmann (1851–1921), der 1911 den Vorsitz übernommen hatte und Adickes wenig gewogen war, lehnte ab. Unter Erdmanns Nachfolger sprach sich die Kommission für die Aufnahme des Opus postumum aus. Inzwischen hatte aber der Gryter-Verlag die Editionsrechte erworben und drängte darauf, dass die Arbeiten anhand von Fotographien bei ihm im Hause erledigt werden. Adickes trat daraufhin 1926 von seiner Aufgabe zurück.

Diese zermürbenden Querelen spielten sich in den wirtschaftlich schwierigen Nachkriegsjahren ab, die auch privat nicht einfach waren. 1922 starb Tochter Lisa an Leukämie. 1920 erschien sein großes Werk. Dankbar vermerkt er im Vorwort, dass 850 Mitglieder der Kantgesellschaft zur Subskription bereit waren. Der Förderer, der ungenannt bleiben wollte, könnte Alfred Hugenberg gewesen sein, der noch im Krieg als Generaldirektor bei Krupp begonnen hatte, sein Medienimperium aufzubauen. 62jährig erlag Adickes einem Krebsleiden. Sein Grab auf dem Tübinger Friedhof ist erhalten. In den Berichten von der großen akademischen Trauerfeier wurde das ehrende Gedenken auch durch Vertreter der evangelischen Landeskirche hervorgehoben.

Adickes ist eine wichtige Figur in der Kant-Forschung und Edition. Erhellende Quellen über seine Zusammenarbeit mit der Kant-Kommission verdankt die Forschung Werner Stark, der 1982 bei Adickes’ Nachfahren in Ingelheim die einschlägige Korrespondenz fand, wo Adickes’ Sohn, ein promovierter Chemiker, ab den 1930er Jahren bei Böhringer tätig war. Die von Hand klein und eng beschriebenen Dokumente befinden sich seither in der Universität in Marburg und werden als „Ingelheimer Papiere“ zitiert.

Adickes betont, das durchgehende Motiv seines intellektuellen Lebens sei seine Entdeckung von Kants kritischer Philosophie, verbunden mit einem frühen positiv christlichen Weltvertrauen. Die kritische Philosophie Kants und die historisch-kritische Methode in der Exegese erschütterten zunächst diese positive, von Pietismus und Erweckungsbewegung bestimmte Weltsicht. In der Rückschau hält Adickes aber fest, ihm sei in seiner „Lebensachse“ der Blick auf die ewigen Dinge immer wesentlich geblieben. Dazu komme der philosophische Glaube an „Ideen“ und Ideale und schließlich die Verpflichtung der praktischen Existenz auf die Realisierung dieser Ideale (Selbstdarstellung, in: Schmidt (Hg.), Die deutsche Philosophie d. Gegenwart in Selbstdarstellungen, 1921, S. 5 f.). Das Thema seiner Dissertation bei Friedrich Paulsen „Kants Systematik als systembildender Faktor“ hatte Adickes selbst gewählt. Dabei kamen philologisch-historische Forschung und systematisches Interesse noch zusammen, die er später streng voneinander trennte. Seine eigene philosophische Haltung beschreibt Adickes im Rückblick auf seine Dissertation (ebd. S. 11 f.), auch in „Charakter u. Weltanschauung“, seiner Akademischen Antrittsrede in Tübingen 1905 als einen „realistischen Apriorismus“, eine empirische Zugangsweise, die sich mit der Transzendentalphilosophie Kants verbinde. Scharf trennt Adickes deshalb zwischen Ding an sich und Welt in der Erscheinung, wobei er, anders als gängige Richtungen des Neukantianismus nicht bei einer Erkenntnistheorie stehen bleibt

und die Welt der Dinge an sich keinesfalls leugnet. Adickes unterscheidet zwei Formen von objektiver Weltorientierung: die Allgemeingültigkeit des persönlich verbürgten philosophischen Glaubens und die Allgemeingültigkeit der Erkenntnis und bemerkt gelegentlich, dass ihm die Kantischen Gründe für den Apriorismus weniger einleuchteten als für den Idealismus. Die starke Orientierung an der Ideenlehre fällt besonders in seiner Untersuchung „Kant u. das Ding an sich“ (1924, S. 55 ff.) auf. In markanter Abweichung von Kants kritischer Philosophie leitet er die Kategorien nicht aus dem vorgegebenen Begriffsinstrumentarium der Urteilsformen ab. So entgeht er der bis heute strittigen Frage nach Stimmigkeit und Vollständigkeit der Kantischen Deduktionen. Adickes legt vielmehr die beiden Denkvollzüge, Synthesis und Analysis, als ursprüngliche Verstandesfunktionen frei, die sich auf drei Stufen differenzieren und so die verschiedenen Dimensionen der Wirklichkeit erfassen: in der Konstitution der Wahrnehmungswelt, in der Selbstbeziehung des Bewusstseins auf sich und seine Zustände und schließlich in der Beziehung auf die real gegebenen Objekte. Wiederholt betont Adickes, die Welt sei durch Analysis und Synthesis in einem „System der Epigenesis“ zu erkennen und nicht im Sinn einer letztlich unwandelbaren synthetischen Funktion der Logik. Mag sein, dass dieser Weg zu einem „metaphysischen Realismus“ Adickes zu einer besonderen Affinität zu Kants Studien zur physischen Geographie und Naturgeschichte führte, wie er in den „Untersuchungen zu Kants physischer Geographie, 1911, und den zwei Bänden „Kant als Naturforscher (1924/1925) beschritten wurde. Goethes Lehre von Gestaltung und Umgestaltung der Natur und eine immer wieder bei Adickes aufbrechende tiefe Naturfrömmigkeit gewinnen so eine immer stärkere Rolle und wirken teilweise stärker als der Kantianismus.

Die Grenze zum Neukantianismus der Marburger Schule markiert Adickes präzise: „Der Begriff des Dinges an sich ist für mich geradeso unentbehrlich wie er es für Kant war. Ohne ihn ist die Frage nach der Herkunft der Empfindungen wissenschaftlich unklärbar“ (Selbstdarstellung, 1921, S. 15). Adickes formuliert von hier aus den notwendigen Fortgang zu einem „metaphysischen Realismus“. „Warum sollten Bergesriesen, Wälder, wogende Kornfelder und das unendliche Meer weniger wirklich sein als wir?“ (ebd. S. 16) Er räumt zwar ein, dass die Erfahrungswelt uns nur als Erscheinung begegnet, doch ihre Erkenntnis beziehe sich auf die „Rekonstruktion“ einer an sich vorhandenen Einheit und Ordnung der Welt. Das an sich Sein der Dinge entwickelt sich nach Adickes selbst in Raum und Zeit, womit eine Position bezeichnet ist, die die massive sachliche Gegnerschaft von Adickes gegenüber Vaihingers „Philosophie des Als Ob“, einem fiktionalen Denken, erklärt, die Adickes in einer fast 300 Seiten umfassenden Widerlegung von Vaihingers Ansatz begründete. Ebenso scharf grenzte sich Adickes schon sehr früh von dem evolutionsbiologischen Monismus Ernst Haeckels ab: Er betonte in „Kant contra Haeckel“ (1901) die Differenz zwischen Kantischer Erkenntnistheorie und einem Naturwissenschaftlichen Dogmatismus, der zwar das Weltbild des 20. Jahrhunderts prägte, nach Adickes‘ Überzeugung aber weit unter dem Niveau der Kantischen kritischen Philosophie bleibt.

Adickes charakterisiert seine eigene Weltsicht in seinen reifen Jahren als einen „Pantheismus“ der Entwicklung. Dabei bezieht er sich auf die frühgriechische Formel des „hen kai pan“: Eins und Alles bei Heraklit, die aber in Adickes’ Sinn Freiheit und die Wirksamkeit des Gewissens zulässt. In diesem Ansatz liegt eine Aktualität auch im heutigen philosophischen Denken: Gesprächsfähig wäre diese metaphysische Position mit der Prozessphilosophie, wie sie Adickes N. Whitehead in „Prozess und Realität. Entwurf einer Kosmologie.“ erstmals 1929 entwickelte, aber auch mit einem neuen philosophischen Realismus, wie er ausgehend von der Phänomenologie in der Philosophie des 20. Jahrhunderts wieder eine größere Rolle spielt.

Adickes trennte methodisch scharf zwischen seinen philologisch-historischen Arbeiten zur Philosophiegeschichte und seinen systematisch-metaphysischen Interessen. Mit programmatischer Klarheit formuliert er, dass es ihm als Interpreten und Exegeten darum gegangen sei, Kants „Denkantriebe, seine Entwicklung so zu erkennen und darzulegen, wie sie wirklich waren, ganz einerlei, wie ich sie etwa hätte haben mögen oder womit sie mir in der Gegenwart am besten verwertbar schienen“ (Selbstdarstellung, 1921, S. 28.)

Wie immer man die Chancen zu einer solchen objektiven Hermeneutik philosophischer Texte beurteilen mag, Adickes spricht sich, ähnlich einer bedeutenden Linie der Kant-Interpretation heute, für die strikte Trennung zwischen historischer Perspektive auf Texte und systematischer Sicht auf Sachprobleme aus. Dass kein geringerer als Wilhelm Dilthey, der Adickes‘ Arbeit an Kants bis dahin noch unentziffertem handschriftlichem Nachlass anregte, erweist sich nachträglich als Glücksfall und als eine List der Vernunft.

Zur Erforschung von Kants nachgelassenem, eindrucksvollem ‚Opus postumum‘, mit dem Adickes‘ Name bis heute verbunden ist, war er freilich durch seine eigenen systematischen philosophischen Neigungen besonders disponiert, da es ihm nach eigenem Zeugnis immer um die Aufsuchung der Einheit im Vielen ging. Das ‚Opus postumum‘ ist zunächst Kants Versuch, neben der Transzendentalphilosophie auch die Naturphilosophie weiter auszuformulieren, was zu einer verstärkten Berücksichtigung der sinnlichen Erfahrung führte und zur Explikation des ‚Äthers‘ als Grundstoff der Materie, der dessen Kontinuität sichert. In diesem großen Fragment zielte Kant auf ein „System“ der Transzendentalphilosophie und damit einer systematischen Einheit, zu der die Vernunftkritik nicht gekommen war. Adickes‘ großes Verdienst ist es, dieses Kantische Spätwerk in einer ersten gültigen Edition vorgelegt zu haben, Die Erforschung des ‚Opus postumum‘, die bis heute im Schatten anderer Kantischer Werke steht, kann mit den Systemanstrengungen in der nachkantischen Philosophie, bei Fichte, Hegel oder Schelling verglichen werden. Dass der alte Kant, bei allen physischen Beeinträchtigungen, zu einem solchen Weiterdenken noch in der Lage war, nötigt heute größeren Respekt vor dem ‚Opus postumum‘ ab, als ihn die Zeitgenossen aufbrachten. Den Rang des Nachlasswerkes erkannt und es grundsätzlich erschlossen zu haben, überdauerte als philosophisches Verdienst von Adickes.

 

 

Quellen:

HStA Stuttgart Q 1/18 Bü 19, Q 1/18 Bü 20, Nachlass Karl Frh. von Weizsäcker; StA Ludwigsburg E 211 II Bü 355, Doktorenverz. D. phil. Fak. Tübingen 1905–1914; UA Tübingen 40/2,89, Studentenakte, 5/32, Bl. 228–5, Matrikel, 126/2 , Personalakte, 51/4, Hörerlisten seiner Lehrveranstaltungen, 119/143, Lehrstuhlakte des Älteren Kanzleramtes mit Unterlagen zu seiner Berufung; StA Sigmaringen Wü 13 T 2 Nr. 2090/184, Spruchkammerakte [postum im Zusammenhang Engamit Versorgungsantrag der Witwe entstanden]. – Mitteilungen von Werner Stark, Marburg, Burkhard Adickes, Dillenburg, Dietrich Adickes, Ingelheim, beide Enkel von Adickes, Alexander Hugenberg, Lahr, Urenkel von Franz Adickes, setzt Adickes Familienforschungen fort.

Werke: Werner Stark, Werkverz. Adickes in: Kant-Studien 75/1984, 365–374; Kants Systematik als systembildender Faktor, Diss. phil. Berlin 1887; Kant contra Haeckel, Erkenntnistheorie gegen naturwiss. Dogmatismus, 1901; Untersuchungen zu Kants physischer Geographie, 1911; Kants Opus postumum, dargest. u. beurt. von Erich Adickes, 1920; Erich Adickes, in: Raymund Schmidt (Hg.): Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, 1921, 1–30; Kant als Naturforscher, 2 Bde., 1924/25; Kant und die Als-Ob-Philosophie, 1927; Kant contra Haeckel, Erkenntnistheorie gegen naturwissenschaftlichen Dogmatismus, 1929, zuletzt 1987.
Nachweis: Bildnachweise: Von Adickes signierte Zeichnung unbek. Hand (1915) S. 5, Repro in Privatbesitz. – R. Schmidt, 1921, 1.

Literatur:

Kuno Fischer, Kants Leben und. die Grundlagen seiner Lehren, 1860; Raymund Schmidt (Hg.), Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, 1921, 1-30 (mit Bildnachweis); Fritz Lienhard, Die Gottesidee in Kants Opus postumum, 1923, 3, 5, 45; Artur Buchenau und Gerhard Lehmann, Der alte Kant, 1925; Paul Menzer, Nachruf Adickes, in: Kant-Studien 33/1928, 369-372 (mit Bildnachweis); Arthur Liebert, Erich Adickes, in: Dt. Biogr. Jahrbuch 10, 1928 (1931), 3 ff.; Univ. Tübingen, Reden bei der Rektoratsübergabe am 25. April 1929, 5, 7, 40 f., Nachruf, Karl Groos; Werner Kratsch (Hg.), Das Verbindungswesen in Tübingen. Eine Dokumentation im Jahre des Universitätsjubiläums 1977, 1977, 69, 147 ff.; Werner Stark, Mitteilungen in memoriam Erich Adickes (1866-1928), in: Kant-Studien 75, 1984, 345-349; Eckart Förster, Immanuel Kant. Opus postumum, Cambridge, 1993 (zu Ingelheim-Papiere); Werner Stark, Nachforschungen zu Briefen und Handschriften Immanuel Kants, 1993; Stefan Schulze, Kants Verteidigung der Metaphysik. Eine Untersuchung zur Problemgeschichte des Opus Postumum. Marburger Wiss. Beiträge Bd. 7, 1994; Christian Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, 2002; Giovanni Pietro Basile, Kants Opus postumum und seine Rezeption. Kantstudien-Ergänzungshefte Bd. 175, 2013; Manfred Handtke, Geistesdämmerung. Das philosophische Seminar der Universität [Tübingen] 1918-1945, 2015, 108-120, 559 f.

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