Neter, Eugen Isaak
Geburtsdatum/-ort: | 1876-10-29; Gernsbach/Murgtal |
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Sterbedatum/-ort: | 1966-10-08; Degánia, Israel |
Beruf/Funktion: |
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Kurzbiografie: | 1894 Abitur am Gymnasium Rastatt 1894-1899 Studium der Medizin in München und Heidelberg 1900 Promotion an der Universität Heidelberg: „Die Behandlung der Rachitis mit Nebennierensubstanz“ 1900-1903 Assistenzarzt an einem Berliner Krankenhaus 1903-1938 Kinderarzt in Mannheim 1914-1918 Stabs- und Bataillonsarzt in den Infanterie-Regimentern 98 und 135 1908-1933 Mitgründer und Dozent am seit 1920 Städtischen Fröbelseminar in Mannheim 1933-1940 Leiter der Jüdischen Akademiker-Hilfe Mannheim 1938-1940 als „Krankenbehandler“ jüdischer Patienten tätig 1938-1940 Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Mannheim 1940-1945 Internierungslager Gurs und Séreilhac in Frankreich 1946-1966 Auswanderung nach Palästina, Kibbuz Degánia |
Weitere Angaben zur Person: | Religion: isr. Verheiratet: 1909 (Mannheim) Luise, geb. Janson (1876-1950) Eltern: Vater: Eli (1837-1908), Kaufmann Mutter: Augusta, geb. Sinnauer (1843-1896) Geschwister: 11: Klementine (geb. wohl vor 1870) Ferdinand (geb. wohl vor 1870) Sigmund (1870-1870) Frieda (geb. 1871) Joseph (geb. 1872) Amalie, verheiratete Behr (1873-1940) Julius (geb. 1874) Moritz (geb. 1878) Emil (geb. 1879) Richard (1881-1953) Elisabeth (geb. 1883) Kinder: Schaul (1911-1948) |
GND-ID: | GND/117550582 |
Biografie
Biografie: | Andrea Hoffend (Autor) Aus: Baden-Württembergische Biographien 4 (2007), 245-248 Der Mannheimer Pädiater Neter hat zahlreiche Impulse praktischer wie theoretischer Art im Bereich der Kinderpflege gegeben. Durch die NS-„Rassenpolitik“ zunächst erst seiner breiteren Wirkungsmöglichkeiten, dann auch seiner Freiheit beraubt, hat er mit seinen „Erinnerungen an das Lager Gurs in Frankreich“ eine der eindrücklichsten Schilderungen des Grauens geliefert, welches die Opfer jener Verschleppungsaktion zu erleiden hatten, bei der im Herbst 1940 Baden, die Pfalz und das Saarland „judenfrei“ gemacht wurden. Als siebtes von elf das Kleinkindalter überlebenden Kindern eines angesehenen jüdischen Kaufmanns 1876 in der kleinen Schwarzwaldgemeinde Gernsbach geboren, ließ Neter sich nach Medizinstudium und dreijähriger Assistenzarztzeit kurz nach der Jahrhundertwende im Alter von nicht einmal 27 Jahren als Kinderarzt in Mannheim nieder. Seine empathische Art und sein profundes Wissen sicherten seiner in Q 1, 9 gelegenen Praxis rasch einen großen und treuen Patientenstamm. Nicht nur in seinem tätigen Wirken, sondern auch in seinen zahlreichen Veröffentlichungen setzte Neter sich vehement für die Rechte der Jüngsten ein; seine national-konservative Gesinnung ließ ihn die Verantwortung für das Kindeswohl allerdings nahezu ausschließlich der Mutter zuschreiben. Dennoch hat Neter auch einen wichtigen Beitrag zur Professionalisierung des Berufs der Kindergärtnerin geleistet: Tatkräftig begann er schon bald nach der Eröffnung seiner Mannheimer Praxis Rosa Grünbaum und deren Schwester Viktoria („Dora“) zu unterstützen, die im Begriff waren, in der Stadt ein Netz von Kindergärten für vernachlässigte Arbeiterkinder aufzubauen. Mehr und mehr ergab sich dabei auch die Aufgabe, die Kindergärtnerinnen professionell auszubilden. In dem von den Schwestern Grünbaum unter seiner Mithilfe gegründeten Kindergärtnerinnenseminar betätigte Neter sich als Dozent für „Gesundheitspflege“. In der Zeit der Weimarer Republik übernahm die Stadt Mannheim die von den Grünbaums eingerichteten Kindergärten sowie das Kindergärtnerinnenseminar in ihre Verantwortung; 1926/27 wurde für dieses „Fröbelseminar“ im Mannheimer Schlossgarten ein attraktiver Neubau errichtet. Neter war auch in diesen Jahren weiterhin aktiv an dem Unternehmen beteiligt. Im I. Weltkrieg als Stabs- und Bataillonsarzt bei der Infanterie eingesetzt, fungierte Neter nach Kriegsende als Vorsitzender der Mannheimer Ortsgruppe des „Reichsbunds Jüdischer Frontsoldaten“, der vergebens gegen die wachsende antisemitische Hetze ankämpfte. Neters politische Grundhaltung jedoch blieb vom Anschwellen des Rechtsextremismus zunächst unbeeinflusst; noch in seinen 1925 erschienenen „Betrachtungen eines Frontarztes“ machte er sozialistisches Ideengut für den Zusammenbruch der Front im Jahr 1918 verantwortlich. Als im Zuge der NS-„Machtergreifung“ jüdische und jüdischstämmige Menschen seit 1933 mehr und mehr aus dem öffentlichen Leben verdrängt wurden, übernahm Neter die Leitung der „Akademiker-Hilfe“, die die Jüdische Gemeinde Mannheim eingerichtet hatte, um den durch das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, durch das faktische Betätigungsverbot für jüdische Künstler sowie durch andere antisemitische Maßnahmen betroffenen Ärzten, Juristen, Lehrern, Journalisten und Künstlern Unterstützung zu bieten und sie auf Arbeitsstellen im Ausland zu vermitteln. Vom Dekret vom 25. Juli 1938 betroffen, das jüdischen Ärzten die Approbation entzog, durfte auch Neter als „Krankenbehandler“ in seiner Praxis fortan nur noch jüdische Patienten kurieren. Unter den massiven Drohungen der Gestapo trat der bisherige Vorsitzende der durch Emigration bereits stark dezimierten und überalterten Jüdischen Gemeinde im November 1938 von seinem Amt zurück. Obzwar im Rahmen der Pogrome ebenfalls kurz verhaftet, übernahm Neter notgedrungen ohne jegliche formelle Wahl für zwei Jahre dessen schweres Erbe. Mittels eines Gutscheinsystems richtete der neue Gemeindevorsitzende eine Art Tauschbörse für Dienstleistungen ein, um so die durch die Verfolgungsmaßnahmen auferlegten Beschränkungen wenigstens ein Stück weit zu kompensieren. In einem unzerstört gebliebenen Teil einer der Mannheimer Synagogen fanden weiterhin Gottesdienste und Schulunterricht statt, und auch für die demolierte Anlernwerkstätte der Gemeinde wurde provisorischer Ersatz geschaffen, um den Jugendlichen für ihre Auswanderung nach Palästina wenigstens eine handwerkliche Grundlage zu bieten. Die Kapitulation Frankreichs im Juni 1940 schuf für die NS-Verfolgungspolitik neue Bedingungen: In einer bis zum Schluss streng geheim gehaltenen Aktion wurden am 22./23. Oktober 1940 alle „transportfähigen“ badischen, pfälzischen und saarländischen Juden zusammengetrieben und per Zug in den unbesetzt gebliebenen südlichen Teil Frankreichs abgeschoben. Ausgenommen von der für die Opfer völlig überraschenden Maßnahme blieb nur, wer in „privilegierter Mischehe“ lebte oder eine fremde Staatsangehörigkeit besaß. Neter, der mit einer „Arierin“ verheiratet war, begleitete die rund 2 000 verbliebenen Mitglieder seiner Gemeinde – überwiegend Menschen über 60 wie er selbst, wie seine Schwester Amalie Behr oder wie die ältere der Schwestern Grünbaum – freiwillig in ihr ungewisses Schicksal, das sie zunächst in das Internierungslager Gurs am Fuße der Pyrenäen führte – und die allermeisten von dort aus in den Tod. Ursprünglich nur notdürftig für eine kurzfristige Beherbergung von Spanienkämpfern während der Sommermonate errichtet, war dieses Lager weder auf die Versorgung der dort nach Kriegsbeginn zusammengepferchten deutschen Zivilinternierten noch auf die der rund 7 000 jüdischen Neuankömmlinge in irgendeiner Weise vorbereitet. Eklatanter Nahrungsmangel und katastrophale hygienische Bedingungen verursachten unter den Deportierten gleich eingangs eine schwere Ruhrepidemie, der bereits in den ersten Wochen Hunderte erlagen, darunter Neters Schwester und Dora Grünbaum. Unermüdlich suchten die Ärzte um Neter und die Krankenschwestern um Pauline Maier unter primitivsten Bedingungen und ohne einfachste Hilfsmittel und Medikamente die Not zu lindern; vielfach aber konnten sie nur seelischen Zuspruch geben. Wie Tausende andere in die „Hölle von Gurs“ Verschleppte wurden auch Pauline Maier und Rosa Grünbaum im Sommer 1942 nach Auschwitz deportiert, wo sich ihre Spuren verlieren. Neter hingegen überlebte Hunger und Seuchen. Er hatte alle Angebote abgelehnt und wies es weiterhin zurück, das Lager zu verlassen, war freilich auch durch seine Ehe vor dem Transport ins Vernichtungslager geschützt. Im Sommer 1943 verlegte man ihn ins Lager Séreilhac bei Limoges, wo etwas bessere Bedingungen herrschten. Unmittelbar nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes wanderten Neter und seine Frau Luise mit Hilfe ihres in der Jüdischen Brigade der britischen Armee dienenden Sohns Schaul nach Palästina aus und ließen sich dort im legendären Kibbuz Degánia nieder, wo Schaul mit seiner Familie lebte. Hier am See Genezareth blieben Neter – „Saba“, „Großvater“, wie man ihn liebevoll nannte – noch zwei Lebensjahrzehnte vergönnt, in denen er sich der Hühnerzucht widmete. Das stille, friedliche und harmonische Leben im Kibbuz war freilich getrübt durch den Tod Schauls im Israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948, in dem die Front unmittelbar bei Degánia verlief und in dem deshalb auch Neter notgedrungen wieder ärztlich aktiv werden musste, sowie durch Luises Ableben zwei Jahre später. Neter starb drei Wochen vor seinem 90. Geburtstag. Noch im selben Jahr setzte die Stadt Mannheim dem einst so unermüdlichen „Anwalt des Kindes“ mit der Benennung einer neu gegründeten Schule für geistig Behinderte ein Denkmal. |
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Quellen: | Landesamt für Wiedergutmachung Karlsruhe, Entschädigungsakte; StadtA Mannheim, „Judendokumentation“ u. Kleine Erwerbungen. |
Werke: | Die Behandlung d. Rachitis mit Nebennierensubstanz, Diss. med. Heidelberg 1900; Mutterpflicht u. Kindesrecht, 1905; Das einzige Kind u. seine Erziehung, 1906; Muttersorgen u. Mutterfreuden, 1907; Die Behandlung d. straffälligen Jugend, 1908; Der Selbstmord im kindlichen u. jugendlichen Alter, 1910; Elternbriefe über Kinderpflege u. Erziehung, 1911; Das einzige Kind u. d. Kindergarten, 1912; Arzt u. Kinderstube, 1913; Die Pflege des Kleinkindes, 1921; Des Säuglings Pflege u. Ernährung, 1925; Der seelische Zusammenbruch d. deutschen Kampffront, 1925; Haltung u. seelische Verfassung des Frontsoldaten, in: Wilhelm Andermann (Hg.), Was wir vom Weltkrieg nicht wissen, o. J. [ca. 1930]; Erinnerungen an das Lager Gurs in Frankreich, o. J. [wohl 1943], in: American Federation of Jews from Central Europe (ed.), Twenty Years. 1940-1960, 1961, 105-133, auch in: Erhard Roy Wiehn (Hg.), Oktoberdeportation 1940, 1990, 375-400, sowie u. d. T. Camp de Gurs in: ders. (Hg.), Camp de Gurs 1940, 2000, 105-123. |
Nachweis: | Bildnachweise: StadtA Mannheim, Bildsammlung. |
Literatur + Links
Literatur: | Dr. E. Neter zum achtzigsten Geburtstag, 1956; Joseph Baratz, Siedler am Jordan. Die Geschichte vom ersten Kibbuz, 1963; Karl Otto Watzinger, Neter, E. Isaak, in: ders., Geschichte d. Juden in Mannheim 1650-1945, ²1987, 131 f.; Friederike Sick, E. Neter (1876-1966), Diss. med. Freiburg 1989; Schlomo Marcus, Dr. med. E. Jizchak Neter in Gurs u. Israel, in: Erhard Roy Wiehn (Hg.), Oktoberdeportation 1940, 1990, 401-407; Hans-Joachim Fliedner, Die Judenverfolgung in Mannheim 1933-1945, ²1991. |
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