Bergius, Friedrich Carl Rudolf 

Geburtsdatum/-ort: 11.10.1884; Goldschmieden bei Breslau
Sterbedatum/-ort: 29.03.1949; Buenos Aires (Datum laut Auskunft der Witwe)
Beruf/Funktion:
  • Chemiker, Unternehmer, Nobelpreisträger
Kurzbiografie: 1903 Abschluss des Realgymnasiums in Breslau, dann Arbeit in der „Friedrich-Wilhelms-Hütte“ Mülheim an der Ruhr
1903-1904 Studien in Breslau
1904-1905 Einjährig-Freiwilliger bei der Feldartillerie Breslau
1905-1907 Studien in Breslau und Leipzig
1907 Dr. phil., Leipzig
1909 Arbeit bei Fr. Haber an der Technischen Hochschule Karlsruhe
1909-1912 Arbeit bei M. Bodenstein an der Technischen Hochschule Hannover
1912 Habilitation, Privatdozent für physikalische Chemie an der Technischen Hochschule Hannover
1913 19. Mär. Patentanmeldung über Kohleverflüssigung
1914 Leiter des wissenschaftlichen Laboratoriums der Th. Goldschmidt AG in Essen, ab 1916 stellvertretendes Vorstandsmitglied
1916 Einrichtung der Versuchsanstalt in Mannheim-Rheinau
1918 Umzug nach Berlin
1920 Generaldirektor der Deutschen Bergin AG für Kohle und Erdölchemie in Heidelberg
1925 Vertrag mit der BASF über Übertragung der Patentrechte für die Kohlehydrierung
1927 Dr. phil. nat. h. c., Heidelberg
1928 Vorsitzender des Aufsichtsrats der Holzhydrolyse AG in Heidelberg
1931 Dr. Ing. E. h., Technische Hochschule Hannover
1931 10. Dez. Nobelpreis für Chemie
1932 21. Mai Nobelvortrag „Chemische Reaktionen unter hohem Druck“
1942 Umzug nach Berlin
1945 (?) Erwerb der österreichischen Staatsangehörigkeit
1947 Umzug nach Buenos Aires
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Verheiratet: 1. 1908 (Hannover) Margarete Therese, geb. Sachs (1885-1961), geschieden 1922
2. 1923 [?] (Heidelberg) Ottilie Lilian, geb. Kratzert (1896-1972)
Eltern: Vater: Heinrich Franz Albert (1848-1906), Besitzer und Direktor der chemischen Fabrik in Goldschmieden
Mutter: Marie, geb. Haase
Geschwister: 4:
Johanna, verheiratete Suckow
Frieda, verheiratete Suckow
Julie, verheiratete Kraushaar
Margarete, verheiratete Stoltzenberg
Kinder: 3:
Renate Ruth Adelheid, verheiratete Burgess (1910-1988)
Johannes (1916-1988)
Joachim Wolfgang (1925-1975)
GND-ID: GND/118509500

Biografie: Alexander Kipnis (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 5 (2005), 11-14

Bergius entstammt einer wohlhabenden Fabrikantenfamilie. Sein Vater betrieb eine kleine Fabrik für Tonerdeherstellung. Erste Jugendeindrücke von chemischen Verfahren, aber auch von patriarchalischen Verhältnissen mögen haften geblieben sein. Nach einer Zeit des Hausunterrichts besuchte Bergius das Realgymnasium am Zwinger in Breslau, woran er sich später gerne zurückerinnerte. Nach dem Abschluss arbeitete Bergius in einem Hüttenwerk an der Ruhr, hauptsächlich im Laboratorium, wo er einen guten Überblick über das ganze Werk gewann.
Im Herbst 1903 begann er sein Universitätsstudium in Breslau mit Hauptfach Chemie. Seine Lehrer waren der Organiker A. Ladenburg und besonders der Physiko-Chemiker R. Abegg. Nachdem er sein Verbandsexamen bestanden hatte, bezog er im Wintersemester 1905/06 die Universität Leipzig, wo er bei dem Physiko-Chemiker A. Hantzsch seine Doktorarbeit „Über absolute Schwefelsäure als Lösungsmittel“ begann. Der Tod seines Vaters zwang ihn, nach Breslau zurückzukehren. Hier beendete er unter Abegg seine Dissertation, promovierte aber zum Dr. phil. in Leipzig. Das außerordentlich rege wissenschaftliche Leben in den Laboratorien von Hantzsch und Abegg veranlasste Bergius, einen wissenschaftlichen Weg einzuschlagen. Nach seiner Promotion arbeitete er bei zwei weiteren Physiko-Chemikern: bei W. Nernst in Berlin zwei Semester und eines bei F. Haber in Karlsruhe. Während dieser anderthalb Jahre wuchs Bergius' Interesse an einem neuen Gebiet der Hochdruckchemie, das sowohl Nernst als auch Haber theoretisch und experimentell aufgenommen hatten. Im Herbst 1909 ging Bergius nach Hannover als M. Bodensteins Assistent an dessen Institut für physikalische Chemie der Technischen Hochschule Hannover.
Bergius stellte sich die Aufgabe zu erforschen, „wie man den hohen Druck in ganz verschiedener Weise zur Durchführung chemischer Reaktionen vorteilhaft benutzen kann.“ Sein erstes Forschungsobjekt war die Dissoziation von Calciumperoxid. Danach folgten Experimente zur Herstellung des komprimierten Wasserstoffs durch Wechselwirkung zwischen Wasser und Eisen, aber auch zwischen Wasser und Kohle unter hohem Druck. Die dabei beobachtete Umwandlung führte zum Versuch, den Entstehungsprozess der natürlichen Steinkohle nachzubilden.
Die ersten Ergebnisse stellte Bergius im September 1911 in seiner Habilitationsschrift dar. Die Gutachter waren M. Bodenstein und der Professor der chemischen Technologie H. Ost. Dieser hatte Zweifel, weshalb Bergius im Februar 1912 eine verbesserte Version seiner Schrift vorstellte. Dieses Mal waren beide Urteile positiv, wobei Bodenstein schrieb, dass er Bergius „als ernsten, wissenschaftlich denkenden und tüchtig arbeitenden Menschen“ schätze. Mit dem Probevortrag „Die Bindung des atmosphärischen Stickstoffs; ein Vergleich neuerer Verfahren vom technischen und vom wirtschaftlichen Standpunkte“ wurde die Habilitation am 19. März 1912 abgeschlossen. Als Privatdozent las Bergius über „Die Bedeutung der physikalischen Chemie für die chemische und metallurgische Technik“, über technische Gasreaktionen, Gleichgewichtslehre und Hüttenkunde.
Da der Umfang der hochdrucktechnischen Arbeiten Einrichtungen erforderte, welche in der Technischen Hochschule Hannover nicht vorhanden waren, hatte Bergius schon 1910 ein Privatlaboratorium eingerichtet, wo er mit einigen Mitarbeitern zuerst die apparative Methodik für Hochdruckreaktionen ausarbeitete. Alle Untersuchungen in diesem Laboratorium verfolgten praktische Ziele, und dies bedeutete, dass Bergius seinen „Verrat“ an der reinen Wissenschaft beging. Dem Breslauer Wahlspruch „Suche die Wahrheit und frage nicht, was sie nützt“ folgte er nicht mehr. Wie er selbst später zugab, „war eine Umkehr unmöglich. Denn die einmal angefassten Probleme reißen den, der von ihnen besessen ist, ... verstricken ihn in ihre Bande ..., bis die Probleme gelöst sind oder ihr Adept besiegt am Boden liegt“. Schon 1913 hatte Bergius seine Lehrtätigkeit aufgegeben. Fortan galt der Kohlehydrierung unter hohem Druck zum erdölähnlichen Produkt sein Hauptinteresse. Für die Entwicklung der Erfindung trat Bergius in die Th. Goldschmidt AG in Essen ein, wurde Leiter der Forschungslaboratorien mit einem Jahresgehalt von 20 000 Goldmark und überführte dorthin sein Labor aus Hannover. Im Kriegsjahr 1916 wurde die industrielle Erarbeitung des Kohleverflüssigungs-Verfahrens mit der Errichtung einer großen Versuchsstation in Mannheim-Rheinau begonnen. Die Anstalt mit einer Belegschaft bis etwa 40 Personen umfasste ein Grundstück von ca. 33000 qm und schloss 47 Gebäude ein. Hier wurde das „Bergius-Verfahren“ verwirklicht.
Um sich ganz der Kohleverflüssigung widmen zu können, zog Bergius nach Heidelberg um, schon in der Eigenschaft des Generaldirektors eines Konsortiums für Kohlechemie. Seine Heidelberger Periode dauerte mehr als zwei Jahrzehnte. Hier begann er einen neuen Lebensabschnitt mit seiner zweiten Gattin und baute ein luxuriöses Haus, das zu einem Mittelpunkt kultureller Geselligkeit wurde. Als vollendeter Gentleman hatte Bergius eine starke Ausstrahlung, die viele Menschen anzog. Damals fand er auch Zeit für Aktivitäten in der Gesellschaft der Freunde der Universität Heidelberg, der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft und der Deutschen Akademie zur wissenschaftlichen Erforschung und zur Pflege des Deutschtums in München.
Vielseitig begabt, auch als wissenschaftlicher Schriftsteller, wusste Bergius seine Arbeit in verschiedenen Artikeln, Vorträgen und Interviews zu propagieren. Um die Mittel für sein Unternehmen zu erhalten, organisierte er verschiedene internationale Konsortien und ersann komplizierte kaufmännische Konstruktionen, war aber 1925 gezwungen, alle seine Patente über Kohleverflüssigung an die IG Farben-Industrie (hier BASF) zu verkaufen. Der Hauptvertrag, gültig für zehn Jahre, sah vor, dass Bergius als „Mitarbeiter“ der BASF „seine gesamten bisherigen und künftigen Erfahrungen ... auf dem Gebiet der Kohleverflüssigung ... zur Verfügung stellt“ für 75 000 Reichsmark jährlich. Nachdem mehrere zusätzliche Verträge gefolgt waren, der wichtigste davon 1931, wurde Bergius aber tatsächlich durch die BASF, die ihre eigene Version (Bergius-Pier-Verfahren) ausarbeitete, nie gefordert.
Die Gelder für diese Verträge benutzte Bergius für sein zweites großes Unternehmen: Bereits 1916, veranlasst durch den Nahrungsmittelmangel, begann Bergius Forschungsarbeiten über die Umwandlung von Holz in Kohlehydratfuttermittel; ab 1924 nahm er diese Arbeiten in Rheinau wieder auf und konnte 1927 eine halbtechnische Versuchsanlage einrichten. Im „Bergius-Rheinau-Verfahren“ wird das zerkleinerte Holz mit hochkonzentrierter Salzsäure in Lignin und Zellulose getrennt und der Zuckergehalt der Zelluloselösung auf 300 Gramm in 1 Liter angereichert. Bergius' grundlegende Erfindung war hier nicht eigentlich die Holzverzuckerung durch Salzsäure, sondern ein Verfahren, in welchem die Trennung von Salzsäure und Zucker durch Verdampfung der Säure mit Hilfe heißen Mineralöls durchgeführt wird. So wurde die Salzsäure wiedergewonnen, was für das industrielle Verfahren entscheidend war.
Auch dieses Unternehmen geriet in finanzielle Schwierigkeiten, selbst der Nobelpreis 1931 verbesserte die Lage nicht. Die Verhältnisse entspannten sich etwas ab 1933. Bergiuss Einstellung gegenüber dem Dritten Reich war sehr positiv. Dazu trugen seine nationalistisch-konservativen Anschauungen bei, aber auch das Interesse des NS-Staats an der weiteren Entwicklung der Bergius-Verfahren im Rahmen der Autarkiepolitik, so dass er Staatsgelder für sein Unternehmen bekommen konnte. Bergius wurde Mitglied der NSDAP und lernte deren führende Repräsentanten persönlich kennen. Am 10. April 1935, so eine Zeitung, wurde z. B. Hermann Göring von der Firma Bergin AG durch Dr. Bergius eine Marzipantorte überreicht, die unter Verwendung von Holzzucker, welcher in den Bergin-Werken aus Holz gewonnen wurde, hergestellt war. Im März 1939 hielt Bergius einen zusammenfassenden Vortrag über Holzverzuckerung vor dem X. Internationalen Chemischen Congress in Rom, den er als seinen letzten wissenschaftlichen Aufsatz veröffentlichte.
Der II. Weltkrieg und der Zusammenbruch des Dritten Reiches wurden auch für Bergius fatal. Nach dem Krieg versuchte er sein Verfahren als Mittel zur Lösung des Nahrungsproblems im Ausland anzubieten, zuerst in Österreich, zuletzt 1947 in Argentinien. Aber er hatte keine Zeit mehr, sein letztes Projekt zu verwirklichen: An einer schweren Diabetes starb er in Buenos Aires.
Das dramatische Schicksal Bergius' und die Misserfolge seiner kühnen Unternehmungen ist einerseits mit den äußerst ungünstigen Verhältnissen seiner Zeit, andererseits mit seinem eigenwilligen Streben nach absoluter Selbständigkeit verbunden, wozu die Leistungsfähigkeit einer großen Industriegruppe erforderlich gewesen wäre. Es ist aber auch eine tiefere Ursache seines Misslingens zu erkennen. Seine autarkische Zielsetzung war auch ökologisch falsch ausgerichtet: Beide Bergius-Verfahren sind ökologisch unverträglich; dies wird aus der Rückschau geradezu zum Lehrstück. Dennoch bleibt Bergius' Bedeutung als einer der Schöpfer der Hochdruckchemie und -technologie, genauso wie ihm in besonderem Maße zuzuschreiben ist, dass die chemische Technologie zur Wissenschaft entwickelt wurde, was ihm gleichermaßen seinen Platz in der Geschichte von Naturwissenschaft und Technik sichert.
Quellen: Unternehmens A d. BASF W 1-B (intus: Kop. d. Personalakten Bergius' d. TH Hannover); StadtA Mannheim 37/1971, Nr. 298; UA Heidelberg B-1523/1, 1918–1928; UB Heidelberg Hs. 3888, 3695; Auskünfte des A d. Heidelberger Akad. d. Wissenschaften, von Bergius' Neffen D. Stoltzenberg vom 28. 10. 1996 u. 25. 1. 1997 und des StadtA Heidelberg.
Werke: Über absolute Schwefelsäure als Lösungsmittel, (Diss. Leipzig) 1907; Die Anwendung hoher Drucke bei chem. Vorgängen u. eine Nachbildung des Entstehungsprozesses d. Steinkohle. (Habil. Halle), 1913; Neue Methoden zur Verarbeitung von Mineralöl u. Kohle, in: Zs. für angew. Chem. Bd. 34, 1921, 341-347; Ludwig Landsberg, 1. c., ebd. Bd. 36, 1923, 477; Beiträge zur Theorie d. Kohleentstehung, in: Naturwiss. Bd. 16, 1928, 1-10; Holz u. Kohle, chem. u. wirtschaftl. Betrachtungen, in: Zs. für angew. Chem. Bd. 41, 1928, 707-711; Chem. Reaktionen unter hohem Druck, Nobelvortrag, in: Les Prix Nobel en 1931, 1933, 1-37; The Utilization of Wood for the Production of Foodstuffs, Alcohol and Glucose, Chemistry and Industry, 1933, 1045-1052; Chemischer Aufschluss des Holzes durch Hydrolyse d. Kohlehydrate, Atti X. Congr. int. Chim. Roma, Bd. 1, 1939, 116-125.
Nachweis: Bildnachweise: u. a. in: Les Prix Nobel en 1931, 1933; A. N. Stranges, 1988 (vgl. Lit.).

Literatur: I. C. Poggendorff, Biograph.-literar. Handwörterb. Bde II-VII b, 1863-1992: Bd. VI, 183-184, Bd. VII a, 149 f. (mit Bibliographie); Les Prix Nobel en 1931, 1933 (mit B); Edgar v. Schmidt-Pauli, F. Bergius Ein dt. Erfinder kämpft gegen die englische Blockade, 1943 (mit B); K. Schoenemann, F. Bergius' Lebenswerk, Brennstoffchemie Bd. 30, 1949, 177-181; P. A. Thiessen, F. Bergius zum 60. Geburtstage, in: Zs. für Elektrochem. Bd. 50, 1944, 241 f.; L. Rheinfelder, F. Bergius, in: R. Erckmann (Hg.), Via Regia, Nobelpreisträger auf dem Weg ins Atomzeitalter, 1955, 110-122; Harald Beck, F. Bergius, ein Erfinderschicksal, Deutsches Museum, Abh., Jg. 50, H. 1, 1982, 1-137; A. N. Stranges, F. Bergius and the Rise of the German Synthetic Fuel Industry, vol. 75, 1984, 643-667; R. Haul, Das Portrait: F. Bergius (1884-1949), Chemie in unserer Zeit Jg. 19, 1985, 59-67; F. Bergius u. die Kohleverflüssigung. Stationen einer Entwicklung, 1985 (mit B); M. Rasch, F. Bergius, A d. Gesch. d. Wissenschaften (Wien), H. 14/15, 1985, 709-715; A. N. Stranges, F. Bergius and the Transformation of Coal Liquefaction from Empirism to a Science-based Technology, J. Chem. Education, vol. 65, 1988, 749-751 (mit B); K. Krug u. K.-P. Meinnicke, F. Bergius in: Biographien bedeutender Unternehmer, hg. v. G. Buchheim u. W. D. Hartmann, 1991, 166-172; W.-D. Müller-Jahncke, F. Bergius, – Naturwissenschaftler u. Mäzen, in: Zwischen Tradition u. Moderne – Heidelberg in den 1920er Jahren, 1994, 265-273.
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