Döblin, Bruno Alfred 

Geburtsdatum/-ort: 10.08.1878; Stettin
Sterbedatum/-ort: 26.06.1957;  Emmendingen (Baden)
Beruf/Funktion:
  • Arzt und Schriftsteller
Kurzbiografie: 1888 nach Scheitern der elterlichen Ehe Umzug von Stettin nach Berlin (kurzfristig 1890 Hamburg), dort als einziger von seinen Geschwistern höherer Schulbesuch (Abitur 1900)
1900-1905 Studium der Medizin in Berlin und Freiburg i. Br. (ab 1904); dort Promotion zum Dr. med. bei Alfred Hoche über „Gedächtnisstörungen bei der Korsakoffschen Psychose“ (1905)
1905 (Nov.)-(Aug.) 1906 Assistenzarzt an der Kreisirrenanstalt Karthaus-Prüll in Regensburg
1906 (Okt.)-1911 Assistenzarzt an der Irrenanstalt Buch in Berlin
1911 (Okt.) Eröffnung einer Kassenarztpraxis in Berlin (bis 1931) zunächst als praktischer Arzt und Geburtshelfer, später als Internist und Nervenarzt
1915 (Jan.)-1918 (Nov.) Militärarzt in Saargemünd (bis Juli 1917) und Hagenau (Elsaß)
1932 (Jan.) Privatärztliche Praxis im Berliner Westen bis zur Emigration
1933 (2. 3.) Exilbeginn mit den Stationen Zürich (bis Sept. 1933), Paris (bis Mai 1940), dann Flucht über Marseille, Spanien, Lissabon nach den USA, dort Okt. 1940-Sept. 1945 in Los Angeles; Erwerb der französischen Staatsbürgerschaft Okt. 1936
1945 (Okt.) Rückkehr nach Europa, ab Nov. 1945 als „Chargé de Mission“ der „Direction de l'Éducation Publique“ im Dienst der französischen Besatzungsmacht in Baden-Baden. Seine Aufgaben sind: Zensur vorgelegter Druckmanuskripte, Vorbereitung (später die Herausgabe) einer literarischen Monatsschrift („Das goldene Tor“ bis 1951) und Reorganisation des literarischen Lebens
1946 freie Mitarbeit beim Südwestfunk Baden-Baden mit der Sendereihe „Kritik der Zeit“ (bis 1952)
1947 Begründer des „Verbandes südwestdeutscher Autoren“
1949 (Okt.) Umzug mit den französischen Kulturbehörden nach Mainz, dort Tätigkeit bis zu deren Auflösung im Sommer 1951
1953 (April) „zweite Emigration“ nach Paris, ab Februar 1954 durch fortschreitende Krankheit (Parkinsonismus) mehr und mehr notwendige Klinikaufenthalte in Freiburg i. Br., Baden-Baden, Neustadt im Schwarzwald, Wiesneck (bei Freiburg) und Emmendingen, wo er verstarb
Weitere Angaben zur Person: Religion: isr., 30.11.1941 rk.
Verheiratet: 23. 1. 1912 Erna, geb. Reiss (1888-1957), Tochter des begüterten jüdischen Fabrikanten Julius Reiss und seiner Frau Henriette Reiss-Calm in Berlin
Eltern: Vater: Max Döblin (1846-1921) jüdischer Schneidermeister in Stettin
Mutter: Sophie, geb. Freudenheim (1844-1920) Tochter eines jüdischen Materialwarenhändlers in Samster (Posen)
Geschwister: 4, darunter der Schauspieler, Bühnenautor und Lyriker Hugo Döblin (1876-1960)
Kinder: 5 (Söhne), davon 4 eheliche mit Erna Reiss; 1 unehelicher Sohn 1911 mit der Krankenschwester Frieda Kunke (1891-1918)
GND-ID: GND/118526200

Biografie: Erich Kleinschmidt (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 2 (1987), 67-70

Die schriftstellerische Entwicklung Döblins hängt eng mit dem literarischen Leben der Großstadt Berlin zusammen. Der Entschluß zu schreiben wird zunächst eher zögernd verwirklicht. Familiäre Vorbehalte artikulieren sich, und die Loslösung aus den schwierigen Verhältnissen der Familie nach der Trennung vom Vater belastet den Autor nicht nur ökonomisch, sondern auch seelisch stark. Das neben dem Medizinstudium geschriebene Jugendwerk ist düster und von einer Faszination durch psychopathologische Phänomene geprägt. Den Durchbruch bringen erste Kontakte mit der Avantgarde im „Sturm“-Kreis um Herwarth Waiden (1878-nach 1941). Der groteske Einakter „Lydia und Mäxchen“ (1906) markiert eine neue Einstellung, die den Bruch mit einer traditionellen Poetik bedeutet, was auch in der Form kunsttheoretischer Überlegungen („Gespräche im Kalypso“ 1910) vorgetragen wurde. Daneben entstehen aber auch eine Reihe wissenschaftlicher, medizinischer Arbeiten, bis vor allem die Begegnung mit dem Futurismus (1912) die Entwicklung eines eigenen, „döblinistischen“ Schreibstils vorantreibt („Berliner Manifest 1912). Ihr erzählerisches Ergebnis liegt im Novellenband „Die Ermordung einer Butterblume“ (1912) vor; von hier aus findet Döblin zur epischen Großform. Der im China des 18. Jahrhunderts angesiedelte Roman „Die drei Sprünge des Wang-lun“ (geschrieben 1912/13, erschienen erst 1915), der Döblin den Fontane-Preis (1916) eintrug, ist die konsequente Verwirklichung eines rein desriptiven, auf jegliche Psychologisierung verzichtenden „Kinostils“, wie ihn Döblin programmatisch forderte. Sprachliche wie kompositorische Virtuosität der Darstellung – neu insbesondere durch die Gestaltung von Massenszenen – machen das Werk zu einem Schlüsseltext in der Geschichte des modernen dramatischem Romans, wie ihn Döblin dann selbst durch die Aufnahme von Montageelementen noch weiterentwickelte.
Der Erste Weltkrieg bedeutete auch für Döblin eine künstlerische Zäsur, die er mit den Mitteln eines grotesk-satirischen Berliner Industrie-Romans, „Wadzeks Kampf mit der Dampfturbine“ (geschrieben noch 1914, erschienen 1918) zu verarbeiten suchte. Die spröde Artifizialität dieses noch am ehesten expressionistischen “ Textes sucht zwar in der zeitgenössischen Literatur ihresgleichen, doch war ihr beim Erscheinen des Romans keine Relevanz beschieden. Gleiches galt für den 1919 publizierten Jugendroman „Der schwarze Vorhang“ (verfaßt 1902/03). Künstlerisch bedeutsamstes Ergebnis der Weltkriegserfahrung ist demgegenüber der 1916-1919 geschriebene „Wallenstein“ (1920), der alle Konventionen historischer Epik zugunsten einer absoluten, kosmogonischen Prosa über Leid, Macht und Gewalt durchbrach. Erstmals entwickelt Döblin dabei auch eine naturmythische Verwandlungsidee, die leitmotivisch das spätere Werk immer wieder durchziehen wird.
Döblins Hinwendung zu einer eigenwilligen Naturphilosophie, die nicht nur episch, sondern vor allem auch theoretisch von ihm in den 20er Jahren formuliert wird („Das Ich über der Natur“ 1927 und „Unser Dasein“, erschienen 1933), bildet ein Gegengewicht zu intensiver politischer Aktivität als Zeitkritiker („Der deutsche Maskenball“ 1921) und Verteidiger der Weimarer Republik („Wissen und Verändern" 1931). Das überaus reiche publizistische Werk – nicht ohne Bedeutung für den Selbsterkenntnisprozeß des Autors und im Falle der „Reise in Polen“ (1926), die zur Begegnung mit der ostjüdischen Kultur führte, sogar ein Mittel der Selbstfindung – bildet jedoch nur den Hintergrund für die Suche nach einer neuen, zeitgemäßen epischen Form. Den Übergang zwischen den Werken des „Kinostils“ und einer innovativen Epos-Kunst bezeichnet zunächst die großartige wie kritische Kriegs- und Technik-Utopie „Berge Meere und Giganten“ (1924), die totalitäre Verhängnisse wie sehnsüchtige Erlösungsvorstellungen daraus intensiv zu gestalten weiß. Das nächste Werk „Manas“ (1927), ein freirhythmisches Prosaepos, ist ganz Experiment gewesen, und schlägt das Thema vom neuen, durch Leidenserfahrung gewandelten Menschen an. Seine Fortführung und schöpferisch in des Autors Sicht eng mit ihm verbunden ist Döblins Hauptwerk „Berlin Alexanderplatz“ (1929).
Diese „Geschichte vom Franz Biberkopf“, dem vom Schicksal getroffenen „Transportarbeiter“, als „neusachlichen“ Berlin-Roman zu verstehen, wozu die grandiose Montagekunst Döblins verleiten mag, hieße die gestaltete menschliche Problematik übersehen. Sie bezeugt die Betroffenheit ihres Autors vom Leiden der Menschen in dieser Welt. Biberkopf ist die „Sonde“, eine Erfahrungsreise zu machen, die notgedrungen zum aktuellen Diagnosebild der sterbenden Weimarer Republik verdichtet wird. Der Roman ist eine Summe, die zu ihrer ureigensten, ihrer neuen epischen Form gefunden hat.
Der Gang ins Exil blieb dem echter Demokratie verpflichteten Döblin nicht erspart. Die tiefe existentielle Verunsicherung, vor allem aber der Verlust seines Schreibmilieus, seiner heimischen Sprachwelt, wurde zunächst von ihm durch ironische Produktivität zu überspielen versucht („Babylonische Wanderung“ 1934), ohne dadurch bewältigt zu werden. Ein autobiographisch unterlegtes Buch Familiengeschichte, „Pardon wird nicht gegeben“ (1935), legt in seiner konventionellen Erzählstruktur die produktive Krise offen. Ein neuer Ansatz, der philosophische und religiöse Erfahrungen des Exils reflektiert, war erst die große „Amazonas“-Trilogie (1937-38), die im Gewand eines weitgespannten historischen Romans zwischen indianischer Urwelt, Conquistadorentum und der neuen, deutschen Herrschaftssphäre dem Exildasein eine Deutung abzuzwingen sucht. Die intensive Beschäftigung mit Kierkegaard leitete bei Döblin dann eine religiöse Wende ein, die unter den geistigen Erschütterungen der Flucht aus Frankreich vor den einmarschierenden Deutschen 1940 nach den USA – dargestellt in „Schicksalsreise“ (1949) – zur katholischen Konversion führte. Ihr Niederschlag dokumentiert sich auch im Schreibprozeß der „November 1918“-Tetralogie (geschrieben 1937-1943, Bd. 1 gedruckt 1939, in dreibändiger Fassung mit einer Zusammenfassung von Bd. 1 dann erst 1948-1950). Das Werk reflektiert eigene politische Erfahrungswege Döblins, zeichnet aber auch im religiösen Entwicklungsprozeß des Protagonisten Friedrich Becker eigene Klärungsprozesse auf spirituellem Gebiet nach. „November 1918“, infolge unglücklicher Publikationsumstände im Nachkriegsdeutschland kaum gekannt und beachtet, zählt zu den zentralen Leistungen der deutschen Exilliteratur. Döblin zieht darin seine zwar subjektive, aber doch relevante Summe deutscher Geschichte, gespiegelt in einem weiten, erzählerisch entfalteten Raum. Ein neuer epischer Gestaltungsansatz Döblins liegt dann in seinem letzten Roman „Hamlet“ (geschrieben 1944-1946, gedruckt erst 1956) vor, der formal eine psychologische Rahmenhandlung mit eingeschobenen Erzählkomplexen darstellt, deren Darbietung einer kathartischen Funktion der Romanfiguren dient. Religiöse Bezüge, denen das Spätwerk verpflichtet ist und die es sogar direkt thematisiert („Der unsterbliche Mensch“ 1946, „Der Kampf mit dem Engel“ entstanden 1950/52, gedruckt erst 1980 aus dem Nachlaß), sind im „Hamlet“ eher zurückgedrängt.
Döblin zählt mit seinem vielschichtigen Gesamtwerk, das neben Romanen, Erzählungen, Dramen, einem Hörspiel und Filmentwürfen auch ein sehr umfangreiches publizistisches und philosophisches Ouevre umfaßt, zu den bedeutendsten deutschen Autoren des 20. Jahrhunderts. Als Neuerer auf epischem Gebiet prägt er entscheidend die Geschichte des modernen. Romans auch in weltliterarischem Zusammenhang. Gleichermaßen eigenwillig wie sensibel gegenüber den Problemen seiner Lebenswelt läßt er sich in gängige literarische Strömungen kaum einordnen. Sein Werk ist eine stete Auseinandersetzung um die Existenz der Menschen, denen er mit der „Parteilichkeit des Tätigen“ aufklärerisch einen künstlerischen Gestaltungsweg zu zeigen versuchte. Geistige Unabhängigkeit und Kompromißlosigkeit bestimmen auch seine politischen Aktivitäten nicht zuletzt als Mitglied der Preußischen Dichterakademie (seit Januar 1928). Döblin verstand sich als „öffentlicher“ Schriftsteller, wenn er sich auch (trotz zeitweiliger Mitgliedschaft in der USPD und SPD) nie parteipolitisch vereinnahmen ließ. Exil und Nachkriegszeit bedeuteten für ihn Epochen der Enttäuschung, beraubten sie ihn doch einer breiteren Wirkung. Die Neuentdeckung des Döblinschen Werks und die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihm begann erst wieder in den siebziger Jahren. Voraussetzung dazu war die editorische Erschließung über „Berlin Alexanderplatz“ hinaus, der zwar ein Hauptwerk des „Geistesrevolutionärs“ Döblin ist, mit dem er „Fragezeichen hinter alles und Ausrufungszeichen nur hinter das Unbekannte“ setzen wollte, aber die künstlerische Leistung und Bedeutung ist weitaus vielschichtiger als dieser Roman. Das Gesamtwerk Döblins in seiner Komplexität und Widersprüchlichkeit muß erst noch voll entdeckt werden.
Werke: Über das Gesamtwerk informiert bibiographisch vollständig (bis 1970) L. Huguet, Bibliographie A. Döblin, Berlin/Weimar 1972. Die von W. Muschg 1960 begonnene (editorisch unterschiedlich qualitätvolle) Werkausgabe in Einzelbänden, die (nach H. Graber) jetzt von A. W. Riley betreut wird und derzeit auf 25 Bände angewachsen ist, soll faktisch unter Einschluß des Nachlasses eine Gesamtausgabe werden; die „November 1918“-Tetralogie ist bisher nur außerhalb dieser Ausgabe neu zugänglich, München 1978 und (Ost-) Berlin 1981.
Nachlaß: Als Depot der Erbengemeinschaft Alfred Döblin im Deutschen LiteraturA Marbach a. N.
Nachweis: Bildnachweise: Umfangreiches Material in: Alfred Döblin 1878/1978, Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach a. N. 1978.

Literatur: Bis 1970 vgl. die Bibliographie von L. Huguet (s. o.); danach (in Auswahl): M. Weyemberg-Boussart, A. Döblin, Bonn 1970; E. Ribbat, Die Wahrheit des Lebens im frühen Werk A. Döblins, Münster 1970; L. Kreutzer, A. Döblin. Sein Werk bis 1933, Stuttgart 1970; K. Müller-Salget, A. Döblin. Werk und Entwicklung, Bonn 1972; D. Mayer, A. Döblin. Wallenstein. Zur Geschichtsauffassung und Struktur, München 1972; K. H. Blessing, Die Problematik des „modernen Epos“ im Frühwerk A. Döblins, Meisenheim 1972; M. Prangel, A. Döblin, Stuttgart 1973; I. Schuster/I. Bode (Hg.), A. Döblin im Spiegel der zeitgenössischen Kritik, Bern/München 1973; E. Jacob, A. Döblin. Amazonas-Trilogie, Worms 1974; G. Jules, Projektionen in A. Döblins Roman „Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende“; Bern/München 1974; P. O'Neill, A. Döblin. Babylonische Wanderung, Bern/Frankfurt 1974; W. Kort, A. Döblin, New York 1974; M. Prangel (Hg.), Materialien zu A. Döblins „Berlin Alexanderplatz“, Frankfurt/M. 1975; G. B. Sperber, Wegweiser im „Amazonas“, München 1975; A. Denlinger, A. Döblin. „Berge Meere und Giganten", Amsterdam 1977; M. Auer, Das Exil vor der Vertreibung, Bonn 1977; A. Wiehert, A. Döblins historisches Denken, Stuttgart 1978; H. Stegemann, Studien zu A. Döblins Bildlichkeit, Bern/Frankfurt/M. 1978; K. Schröter, A. Döblin. In Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1978; L. Huguet, L'oeuvre d'A. Döblin ou la dialectique de l'exode 1878-1918, Paris 1978; H. Th. Tewarson, A. Döblin. Grundlagen seiner Ästhetik und Entwicklung 1900-1933, Bern/Frankfurt/M. 1979; O. Keller, Döblins Montageroman als Epos der Moderne, München 1980; I. Schuster (Hg.), Zu A. Döblin, Stuttgart 1980; W. G. Sebald, Der Mythos der Zerstörung im Werk A. Döblins, Stuttgart 1980; G. Zaubska, Döblins Reflexionen zur Epik im Spiegel ausgewählter Romane, Poznan 1980; W. Roth, „Döblinismus“, Diss. phil. Zürich 1980; R. Links, A. Döblin, München 1981; E. Kobel, A. Döblin. Erzählkunst im Umbruch, Berlin/New York 1985.
Biographie: Eine umfassende, fundierte Biographie fehlt. Als zuverlässiger Daten-Überblick kann zum Leben Döblins aber dienen: J. Meyer, Döblin-Chronik, in: I. Schuster (Hg.), Zu A. Döblin, Stuttgart 1980, 7-40.
Suche
Durchschnitt (0 Stimmen)