Husserl, Edmund 

Geburtsdatum/-ort: 08.04.1859; Proßnitz (Mähren)
Sterbedatum/-ort: 27.04.1938;  Freiburg i. Br.
Beruf/Funktion:
  • Philosoph, Begründer der Phänomenologie
Kurzbiografie: 1868/69 am Leopoldstädter Realgymnasium in Wien
1869-76 am deutschen Gymnasium in Olmütz
1876-86 Studium der Mathematik, Psychologie und Philosophie in Leipzig, Berlin und Wien
1887 Habilitation in Halle
1887-1901 Privatdozent in Halle
1901-16 in Göttingen
1916-28 Ordinarius in Freiburg i. Br.
Weitere Angaben zur Person: Religion: isr., dann ev.
Verheiratet: Malvine, geb. Steinschneider aus Klausenburg (Siebenbürgen)
Eltern: Vater: Adolf Abraham Husserl, Modewarenhändler
Mutter: Julie, geb. Selinger
Geschwister: Heinrich (geb. 1857)
Helene (geb. 1863)
Emil (geb. 1869)
Kinder: Elisabeth, verheiratet mit Prof. Jakob Rosenberg (Kunsthistoriker)
Gerhart, Prof. für Rechtsphilosophie
Wolfgang (gest. 1916 vor Verdun)
GND-ID: GND/118555006

Biografie: Walter Biemel (Autor)
Aus: Badische Biographien NF 3 (1990), 135-138

Husserl entstammt einer alteingesessenen jüdischen Familie aus Proßnitz. Er studierte zuerst an der Leipziger Universität Mathematik, Physik, Astronomie und Philosophie, wechselte 1878 nach Berlin zum Mathematiker Weierstraß und weilte 1881-83 in Wien, wo er mit einer Arbeit zur Theorie der Variationsrechnung promovierte. Durch den Einfluß von Franz Brentano entscheidet er sich für die Philosophie. Aus seinen Vorlesungen, stellte er rückblickend fest, „... schöpfte ich die Überzeugung, die mir den Mut gab, die Philosophie als Lebensberuf zu wählen, nämlich, daß auch Philosophie ein Feld ernster Arbeit sei, daß auch sie im Geist strengster Wissenschaft behandelt werden könne.“
Was Husserl an Brentano, den er sehr verehrte, hervorhebt, läßt sich auch auf ihn selbst übertragen – eine seltene Mischung von Bescheidenheit, ja Demut, und ein missionarisches Sendungsbewußtsein, der Philosophie unseres Jahrhunderts die entscheidenden Impulse geben zu können, um sie aus der Sackgasse, durch die sie mit den positivistischen und postidealistischen Strömungen geraten war, zu befreien. Husserls Charakteristik von Brentano, Leitbild für ihn selbst, lautete: „Sein Selbstvertrauen war vollkommen. Die innere Gewißheit, auf dem rechten Wege zu sein und die allein wissenschaftliche Philosophie zu begründen, war ohne jedes Schwanken.“ Unter dem Einfluß seines Siebenbürger Freundes Gustav Albrecht ließ er sich während der Wiener Studienzeit taufen (evangelisch Augsburger Bekenntnis). Husserls Briefe an Albrecht, die das Husserl-Archiv Leuven verwahrt, sind eine wichtige Quelle von persönlichen Äußerungen, mit denen Husserl sonst, von seinen Denkproblemen leidenschaftlich fasziniert, sehr sparsam ist. In der Leipziger Zeit schließt er auch Freundschaft mit dem tschechischen Philosophen und späteren Staatsmann Masaryk.
Im Jahr seiner Verehelichung habilitiert er sich „Über den Begriff der Zahl“ in Halle, bei Stumpf, mit dem ihn auch eine lebenslange Freundschaft verbinden wird. Die Habilitationsschrift erscheint in erweiterter Fassung 1891 unter dem Titel „Philosophie der Arithmetik“. Unter dem Einfluß der Kritik Freges wird er später seine Position als psychologistische aufgeben.
Der entscheidende Durchbruch gelang mit den „Logischen Untersuchungen“ 1900/1, die mit Heideggers „Sein und Zeit“ zu den wichtigsten philosophischen Werken des 20. Jahrhunderts zählen. Husserl stellte in der Rückschau fest: „Es handelte sich in den einzelnen Untersuchungen des zweiten Bandes um eine Rückwendung der Intuition auf die logischen Erlebnisse, die sich in uns, wenn wir denken, abspielen, die wir aber gerade dann nicht sehen ... wenn wir die Denktätigkeit in natürlich ursprünglicher Weise vollziehen. Es galt dieses verborgen sich abspielende Denkleben durch nachkommende Reflexion in den Griff zu bringen und sie in getreuen deskriptiven Begriffen zu fixieren.“ ... „Wie sehen die verborgenen psychischen Erlebnisse aus, die zu den jeweiligen Idealitäten in Korrelation stehen und die in der Art von ganz bestimmt zugehörigen Erzeugungen ablaufen müssen, damit das Subjekt Bewußtsein und evident erkennendes Bewußtsein von diesen Idealitäten als Gegenständen haben kann.“ (Husserliana, Bd. IX, 20 f.)
Seit dem Wintersemester 1901/2 ist Husserl außerordentlicher, außerplanmäßiger Professor an der Universität Göttingen. Im Dezember 1902 erhält er ein planmäßiges Extraordinariat. Der Vorschlag des preußischen Unterrichtsministeriums, Husserl im Jahre 1905 zum Ordinarius zu ernennen, wird von der Fakultät abgelehnt, mit der Begründung: Mangel an wissenschaftlicher Bedeutung. Diese kollegiale Mißachtung stürzte Husserl in eine schwere Krise. Am 28. 6. wird er zum ordentlichen Professor ernannt. In einer Tagebucheintragung vom September 1906 heißt es, nach der Durchsicht seiner früheren Manuskripte „Mit Staunen habe ich gesehen, wieviel in diesen enthalten, wieviel angefangen und leider nicht vollendet ist: Es sind lauter Zeugnisse dafür, wie mächtig ich von tiefen und tiefsten Problemen ergriffen war. Das ist sicher; nie und nimmer darf ich diese Forschungsgebiete aufgeben, diese angefangenen Bohrungen und Fundamentierungen unvollendet lassen. Das hieße mich selbst aufgeben ... Wieviel Zeit, Leben, Geistesarbeit und Geistesansätze ... habe ich vergeudet! Seit der Veröffentlichung der 'Logischen Untersuchungen' hat mein Leben innere Festigkeit gewonnen. Und innere Einheit soll und muß es von nun ab zeigen. Ein Volles und Ganzes kann meine Persönlichkeit leider nicht mehr werden. Einheit der Weltanschauung, Einheit frei gewachsener, schöner und natürlicher organischer Bildung kann sie nicht mehr gewinnen.“ In einer anderen Eintragung vom 4. 11. 1907 ist Husserl von Stolz erfüllt über die Wirkung, die die „Logischen Untersuchungen“ auf die neue Generation ausgeübt haben.
Die Konstitutionsthematik, die sich zunächst auf das Reich der idealen Gegenstände bezog, wird in den folgenden Jahren auf andere Gegenstandsbereiche erweitert. Zudem ist Husserl von dem Methodenproblem fasziniert, das sich bei ihm unter dem Leitwort „Reduktion“ entfaltet. Um die Leistungen des Subjekts bei der Sinnstiftung besser zu fassen, muß die Existenz der Welt eingeklammert werden. In der phänomenologischen Reduktion erscheinen die Dinge als Phänomene für das Subjekt. In der transzendentalen Reduktion geschieht die Blickwendung auf das sinnstiftende transzendentale Ich, mit dem Phänomen der Zeitigung als Urphänomen. Wichtig ist für Husserl auch die Bedeutung der Anschauung als ursprünglich gebender Akt. Damit wendet er sich gegen eine spekulative Metaphysik, die deduktiv vorgeht. Die phänomenologisch geübte Anschauung wird zur Wesensschau.
Nach der Veröffentlichung des Logos-Aufsatzes „Philosophie als strenge Wissenschaft“ (1910) kommt es zu einem Briefwechsel mit Dilthey, der sich angegriffen fühlt, während er gerade einer der wenigen war, die die Bedeutung der „Logischen Untersuchungen“ früh erkannt hatte. Husserl wollte eine Berichtigung veröffentlichen, nach dem Tod Diltheys 1911 kam es nicht mehr dazu.
In den „Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie“ (1913) präsentiert Husserl die Phänomenologie systematisch als transzendentale Philosophie.
Mit der Berufung nach Freiburg (1916) erweitert sich das Wirkungsfeld Husserls gerade auch durch die Publikation des von ihm 1913-1930 herausgegebenen „Jahrbuchs für Philosophie und phänomenologische Forschung“. An ihm arbeiten – neben namhaften deutschen und ausländischen Philosophen – die Münchener-Göttinger Phänomenologen um Pfänder und Scheler mit (so genannt, weil sie nach 1900 unter Husserls Einfluß und in engem Kontakt mit ihm von München und später von Göttingen aus die phänomenologische Bewegung begründeten). In diesem Jahr, 1916, fällt der Sohn Wolfgang vor Verdun, ein schwerer Schock für die Familie.
Der Ruf Husserls zieht viele Studenten, auch aus dem Ausland, nach Freiburg. Von seinen zahlreichen deutschen Schülern seien hier besonders Edith Stein, Ludwig Landgrebe und Eugen Fink genannt, sowie Herbert Spiegelberg, Fritz Kaufmann, Aron Gurwitsch, Alfred Schütz – die letzteren emigrierten später in die USA und begründeten da die Phänomenologie.
Husserl arbeitete mit einer unglaublichen Intensität 10 Stunden täglich. Seine Frau Malvine sorgte dafür, daß ihm Störungen möglichst erspart blieben. 1922 hielt er vier Vorträge in London. 1923 erhielt er einen Ruf an die Universität Berlin, den er ablehnte. Zwei Vorträgen in Amsterdam 1928 folgten 1929 zwei Vorträge an der Sorbonne, 1931 Vorträge in Frankfurt a. M., Berlin und Halle, 1935 Vorträge in Wien und Prag; sie bilden das Kernstück seiner letzten Arbeit „Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie“, die 1936 als Fragment in der Zeitschrift „Philosophia“ in Belgrad erschien, dann in der Ausgabe „Husserliana“ als Band VI eine besondere Wirkung ausübte. In diesem Alterswerk zeigt Husserl auf, daß durch eine verhängnisvolle Spaltung des Wissens in den physikalistischen Objektivismus und den transzendentalen Subjektivismus die neuzeitliche Wissenschaft in eine Sackgasse geraten ist.
Die neuzeitliche Naturwissenschaft hat zur Entfremdung von der ursprünglichen Naturerfahrung geführt, und zwar durch einen besonderen Prozeß der Idealisierung der Welt, in der wir als immer schon vertrauter leben; Husserl nennt sie die „Lebenswelt“. Durch den Prozeß der Idealisierung wurde zugleich auch die Technisierung in Gang gebracht, der sich der Mensch nicht mehr entziehen kann und die er doch zugleich in ihrer Bedeutung nicht versteht. Daraus folgerte Husserl als Aufgabe für die Phänomenologie eine Ontologie der Lebenswelt zu erarbeiten, die er nur in Ansätzen leistete.
Husserl hatte die außerordentliche Begabung Martin Heideggers sehr früh erkannt, dessen Hauptwerk „Sein und Zeit“ 1927 ihm gewidmet war und den er als Nachfolger in Freiburg vorschlug. Nach Husserls Kritik an Heidegger im „Nachwort zu meinen Ideen“ (1930) setzte eine Entfremdung ein, die nicht mehr überbrückt wurde.
Das intensive Arbeiten hielt auch nach der Emeritierung an, wie aus dem Brief an Albrecht vom 7. Januar 1932 hervorgeht, wo er berichtet „[daß] ich mitten in erfolgreicher Arbeit bin und das unverdiente Glück genieße, meine große Lebensarbeit zu einem letzten harmonischen Abschluß bringen zu dürfen und zu einer vertieften Begründung und Selbstbewährung, die ich in diesem Maße nie erhofft hatte ... Ich bin der absoluten Gewißheit, daß die konstitutive Phänomenologie und sie allein Zukunft hat. Aber große, aufregende Arbeit zur Beseitigung einzelner Lücken, zur Beherrschung und Darstellung der verwirrend vielgestaltigen theoretischen Gedankenreihen, liegt noch vor mir. Ohne meinen unübertrefflichen Dr. Fink und die Anregung der täglichen Aussprache mit ihm käme ich nicht durch“ (K. Schuhmann, „Husserl-Chronik“, Den Haag 1977, 401 f.). Und im Juni des gleichen Jahres schreibt er wieder an Albrecht: „Meine Manuskripte sind ungeheuerlich gewachsen in diesen letzten Jahren – gedanklich sehr fruchtbaren Jahren, die mir viel Licht gegeben haben, mich in Höhen geführt haben, auf denen sich die Zugänge zu den uralten 'metaphysischen' Problemen erschließen, aber so, daß sie im Systemgang meiner methodischen Arbeit und der sich dabei von unten auf erschließenden Problematik zu Arbeitsproblemen werden. Wie gerne würde ich mindest die allgemeinste Umzeichnung des Systems der Problematik geben von unten bis zu dieser höchsten Spitze, aber wieviel konkrete Einzelausführung, subtile langweilige Elementaranalyse gehört dazu“ („Husserl-Chronik“ S. 410). Als die Nazi-Tyrannei finsterste Zeiten zuerst in Deutschland anbrechen ließ und Husserl in ein zurückgezogenes Gelehrtendasein einschnürte, denkt er – unbeirrt – die Geschichte als einen Gang zur Vernunft, die Menschheit „sich als vernünftig verstehende, verstehend, daß sie vernünftig ist im Vernünftigseinwollen, daß dies eine Unendlichkeit des Lebens und Strebens auf Vernunft hin bedeutet, daß Vernunft gerade das besagt, worauf der Mensch als Mensch in seinem Innersten hinaus will, was ihn allein befriedigen, 'selig' machen kann“ („Husserliana“, Band VI, 275). Die Phänomenologie, konzipiert als eine Gruppenarbeit der Philosophen, soll auf dies Ziel hinwirken, ihm dienen.
Zweifellos ist die von Husserl begründete Phänomenologie eine der bedeutendsten philosophischen Strömungen unseres Jahrhunderts. Sie hat von Deutschland aus auf Frankreich (Sartre, Lévinas, Merleau-Ponty, Berger, Ricoeur, Derrida), Belgien (De Waelhens, Taminiaux), Holland (Pos, Buytendijk), Polen (Roman Ingarden), die ČSSR (Patŏcka), die USA (Farber, Spiegelberg, Fritz Kaufmann, Schütz, Gurwitsch) und andere Länder gewirkt. Ihr Einfluß beschränkte sich nicht auf die Philosophie, sondern erstreckte sich auch auf die Psychologie, Psychiatrie, Medizin, Literaturwissenschaft und Kunstwissenschaft.
Anläßlich von Husserls 50. Todestag fanden Gedenkfeiern und Symposien in Freiburg i.Br., Leuven, Wuppertal und in Bochum statt; die gleichzeitig vom Husserl-Archiv Freiburg ausgerichtete Husserl-Ausstellung wurde anschließend als Wanderausstellung in München, Paris, Neapel, Triest, Leuven, Chicago, Pittsburg und New York gezeigt.
Werke: Der gesamte Husserl-Nachlaß befindet sich im Husserl-Archiv der Univ. Leuven, Zweigstellen gibt es in Köln, Freiburg i. Br., Paris und New York. Von Leuven aus wird die kritische Ausgabe („Husserliana“) (zuerst Den Haag, dann Dordrecht, Boston, London) betreut – bis jetzt (1989) 28 Bde. Auch die Reihe „Phaenomenologica“ (ebd.) wird von da geleitet (1989 erschien der 112. Bd.) Husserl-Bibliographien in: Revue Internationale de Philosophie Nr. 2, 1939 von Patocka, Nr. 14, 1950 von Raes, Nr. 71, 1965 von Maschke und Kern und in: Z. f. philos. Forschung, Bd. XIII, Heft 2 u. 3 von Eley, sowie im Bd. „Husserl“ Hg. Noack, Darmstadt 1973.
Nachweis: Bildnachweise: Fotos in den Husserl-A Leuven, Kardinaal Mercierplein 2, und Freiburg i. Br., Werthmannplatz KG I; Ölbild von Rudolf Stumpf (um 1910, Familienbesitz, USA), Oskar Husserl Hagemann (1927) im Husserl-A. Freiburg, Foto davon im STAF, Bildnissammlung und Büste von Arnold Rickert (1920, Husserl-A-Leuven).

Literatur: Die umfassendste Darstellung der phänomenologischen Bewegung in: The Phenomenological Movement („Phaenomenologica“ 5/6), von Spiegelberg. In der Bundesrepublik erscheinen die Phänomenologischen Forschungen, bis jetzt 22 Bde., hg. von Orth, Freiburg i. Br./München (Karl Alber); Ulrich Claesges, E. Husserl, in: NDB 10, 1974, 87-89; E. Husserl Die Phänomenologische Bewegung – Zeugnisse in Text u. Bild, hg. von Hans Rainer Sepp i. A. des Husserl-A Freiburg i. Br., Freiburg/München 1988, 472 S.
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