Hirsch, Otto 

Geburtsdatum/-ort: 09.01.1885;  Stuttgart
Sterbedatum/-ort: 19.06.1941; KZ Mauthausen
Beruf/Funktion:
  • Verwaltungsjurist, Vorsitzender der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland
Kurzbiografie: 1902 Abitur am Eberhard-Ludwigs-Gymnasium, Stuttgart
1902/03, 1904-1907 Studium der Rechtswissenschaft in Heidelberg, Leipzig, Berlin und Tübingen
1903/04 Einjährig-Freiwilliger beim 1. Grenadier-Regiment Königin Olga No. 119
1907 Erste juristische Staatsprüfung
1907-1911 Referendariat
1911 Zweite juristische Staatsprüfung, Zulassung als Rechtsanwalt
1912 1. Mär. Ratsassessor Stadt Stuttgart
1919 1. Mär. Wechsel in das württembergische Innenministerium (1. Apr. 1920 Ministerialrat)
1921 31. Mär. Ausscheiden aus dem Dienst der Stadt Stuttgart
1921 17. Sep. Wahl zum Ersten Vorstandsmitglied der Neckar AG
1926 22. Jun. Ausscheiden aus dem württembergischen Staatsdienst
1930 Wahl zum Vorsitzenden des Oberrats der israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs
1933 Entlassung aus dem Vorstandsamt der Neckar AG, seit September Geschäftsführer der Reichsvertretung der deutschen Juden
1938 Jul. Teilnahme an der internationalen Flüchtlingskonferenz in Evian
1941 Verhaftung, Inhaftierung in Berlin, Deportation in das KZ Mauthausen
Weitere Angaben zur Person: Religion: isr.
Verheiratet: 1914 Martha, geb. Loeb (1891-1942)
Eltern: Vater: Louis Hirsch (1858-1941), Kaufmann
Mutter: Helene, geb. Reis (1860-1939)
Geschwister: Theodor (1888-1965)
Kinder: Hans Georg (geb. 1916)
Grete (geb. 1922)
Ursula (geb. 1925)
GND-ID: GND/118800442

Biografie: Angela Borgstedt (Autor)
Aus: Württembergische Biographien 1 (2006), 113-114

Otto Hirsch wurde am 9. Januar 1885 als Sohn des Weingroßhändlers Louis Hirsch und seiner Ehefrau Helene in Stuttgart geboren. Die Familie gehörte zum liberalen Judentum der Stadt, der Vater war lange Jahre Mitglied des israelitischen Oberkirchenrats respektive Oberrats. Die religiöse Prägung sollte für Hirsch zeitlebens ebenso bedeutsam sein wie die emotionale Bindung an die württembergische, die patriotische Bindung an die deutsche Heimat. Als Hirsch 1902 am renommierten Stuttgarter Eberhard-Ludwigs-Gymnasium die Reifeprüfung mit so gutem Resultat bestand, dass er die Abschlussrede halten durfte, wählte er „Das Deutschtum im Ausland“ als Vortragsthema. Ebenso wie Hirsch patriotischer Deutscher war, so war und blieb er Jude. Keinesfalls konnte und wollte er die religiöse Bindung dem Berufsziel opfern. Deshalb entschied er sich gegen den ursprünglichen Berufswunsch des Gymnasiallehrers, der ohne Konversion schwerlich zu realisieren war. Stattdessen begann er zum Wintersemester 1902/03 ein Studium der Rechtswissenschaft, das ihm zumindest die berufliche Perspektive der Anwaltstätigkeit eröffnete. Hirsch studierte zunächst in Heidelberg, wechselte nach Ableisten der Dienstzeit als Einjährig-Freiwilliger beim Infanterie-Regiment 119 zunächst nach Leipzig, dann Berlin, um schließlich nach abschließenden Semestern 1906 und 1907 an der „württembergischen Kaderschmiede“ Tübingen (Michael Ruck) das erste juristische Staatsexamen abzulegen. In Tübingen promovierte der vielseitig interessierte Student, der stets auch kultur- und geistesgeschichtliche Vorlesungen gehört hatte, schließlich 1912 über „Die Baulasten im Sinne des Artikels 99 Absatz 3 der württembergischen Bauordnung vom 28. Juli 1910“. Zu diesem Zeitpunkt hatte Hirsch bereits das dreijährige Referendariat absolviert, 1911 die zweite „große“ Staatsprüfung bestanden und konnte auf ein Jahr Berufspraxis als Rechtsanwalt in der Kanzlei seines mütterlichen Verwandten Dr. Richard Reis zurückblicken. Zum 1. März 1912 wechselte er als Ratsassessor in den Dienst der Stadt Stuttgart und stieg binnen Zweijahresfrist zum Rechtsrat auf. In seinem Aufgabenbereich bau- und wasserrechtlicher sowie Angelegenheiten der Elektrizitätswirtschaft profilierte sich der junge Jurist bald zum gefragten Experten, der 1914 als unverzichtbarer Stadtbediensteter vom Frontdienst freigestellt wurde. 1919 wechselte Hirsch in das württembergische Innenministerium, das den noch jungen Berichterstatter für Schifffahrtsfragen, Elektrizitätsversorgung und Wasserkraftnutzung alsbald zum Ministerialrat beförderte. Hirsch wirkte 1919 an der Ausarbeitung der die Schifffahrtswege betreffenden Artikel 97 bis 100 der Weimarer Reichsverfassung, 1920 an den Pariser Verhandlungen über die Internationalisierung der Donau mit. In sein Ressort fiel auch der geplante Bau des Neckarkanals von Mannheim nach Plochingen, das wohl bedeutendste Wirtschaftsprojekt im Südwestdeutschland der Weimarer Republik. 1921 wurde er zum Ersten Vorstandsmitglied der eigens gegründeten Neckar AG gewählt, der definitive Wechsel und das Ausscheiden aus dem württembergischen Staatsdienst erfolgten allerdings erst 1926. Trotz enormer Probleme während der Weltwirtschaftskrise brachte er das Projekt der Realisierung näher, doch konnte er den Abschluss 1935 nicht mehr im Amt erleben. Gleich 1933 traf ihn der Antisemitismus des „Maßnahmenstaats“ (Ernst Fraenkel).
Hirsch hatte sich in den 1920er Jahren nebenberuflich für die Stärkung jüdischer Identität engagiert und war hier 1926 als Mitbegründer des Stuttgarter Beit Hamidrasch, eines Lehrhauses nach Frankfurter Vorbild hervorgetreten, das neben Vorträgen etwa von Martin Buber und Leo Baeck Hebräischkurse anbot. Hirsch war einerseits Vorstandsmitglied des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, der das liberal assimilierte deutsche Judentum repräsentierte. Andererseits hegte er Verständnis und Sympathien für die zionistische Minderheit unter den deutschen Juden und befürwortete eine Immigration im Rahmen der Jewish Agency for Palestine. 1930 wurde er zum Vorsitzenden des Oberrats der israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs gewählt. Von September 1933 an war Hirsch Geschäftsführer der von ihm mitbegründeten Reichsvertretung der deutschen Juden und Stellvertreter ihres Präsidenten Leo Baeck. Zu diesem Zweck eigens nach Berlin gezogen, hatte Hirsch mit seinen Mitarbeitern ein enormes Aufgabenpensum zu bewältigen – von der Interessenvertretung gegenüber staatlichen Institutionen, über Wohlfahrtspflege, den Aufbau eigener Bildungseinrichtungen, Umschulungen bis hin zur Auswandererbetreuung. Er war Kontaktmann zu jüdischen Hilfsorganisationen im Ausland wie dem Council for German Jewry in Großbritannien und dem Joint Distribution Committee in den Vereinigten Staaten und Delegierter der Reichsvertretung auf der ergebnislosen Konferenz von Evian 1938. Mehrere Reisen zur Erkundung von Emigrationsmöglichkeiten für deutsche Juden führten ihn in die USA, nach Frankreich, Palästina und letztmals im August 1939 nach Großbritannien. Solange er seine Aufgabe nicht als erfüllt sah, wollte er selbst die Möglichkeit zum Verbleib im Ausland nicht nutzen. Über die Repressalien des „Maßnahmenstaats“ hegte Hirsch keinerlei Illusionen. 1935 war er erstmals wegen der Verbreitung einer zum Jom Kippur verfassten und auf die Nürnberger Rassegesetze Bezug nehmenden Predigt Leo Baecks verhaftet worden, nach dem Novemberpogrom 1938 wurde er wie die Mehrheit jüdischer Männer in Deutschland für Wochen in KZ-Haft verbracht.
Hirsch war seit dem 14. Mai 1914 mit Martha Loeb verheiratet. Die drei Kinder Hans Georg, Grete und Ursula waren 1938 respektive 1939 in die USA bzw. nach Großbritannien emigriert, im Sommer 1941 befanden sich Hirschs Vater Louis und der Bruder Theodor auf der Passage nach Übersee. Zu diesem Zeitpunkt lebte der Geschäftsführer der 1939 in Reichsvereinigung der Juden in Deutschland umbenannten und der Gestapo unterstellten Reichsvertretung bereits nicht mehr. Am 26. Februar 1941 war Hirsch in Berlin festgenommen, zunächst im Gefängnis Alexanderplatz inhaftiert und schließlich am 23. Mai 1941 in das österreichische Konzentrationslager Mauthausen verbracht worden. Im Totenbuch des Lagers ist er als Häftling Nr. 559 mit dem Todesdatum 19. Juni 1941 eingetragen, gestorben vorgeblich an Dickdarmentzündung (colitis ulcerosa). Die tatsächlichen Todesumstände sind wohl nicht mehr zu klären. Wie die meisten Vorstandsmitglieder und Beschäftigten der Reichsvereinigung bezahlte Hirsch, bezahlte aber auch seine am 26. Oktober 1942 in den Osten deportierte Ehefrau Martha den Einsatz für die verfolgten deutschen Juden mit dem Leben. An Hirsch erinnern eine im Dezember 1970 im Jüdischen Gemeindehaus in der Berliner Fasanenstraße enthüllte Messingtafel sowie ein anlässlich des 100. Geburtstages an der nach ihm benannten Brücke gestifteter Gedenkstein in seiner Heimatstadt Stuttgart. Seit 1985 wird die von der Stadt Stuttgart und der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit gestiftete Otto-Hirsch-Medaille verliehen, deren erster Preisträger der maßgeblich für die finanzielle Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in Baden-Württemberg verantwortliche Rechtsanwalt Otto Küster war.
Quellen: StA Stuttgart PA Hirsch; HStAS Sachakten.

Literatur: Paul Sauer, Für Recht und Menschenwürde. Lebensbild von O. Hirsch (1885-1941), 1985; ders., O. Hirsch (1885-1941). Director of the Reichsvertretung, in: LBI Yearbook XXXII (1987), 341-368; L. Marx, O. Hirsch, in: Bulletin des Leo Baeck Instituts (1963), 295-312; R. Nebinger, O. Hirsch (1885-1941). Persönliche Erinnerungen eines Freundes, 1957.
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