Bodenheimer, Wilhelm Lion
Andere Namensformen: |
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Geburtsdatum/-ort: | 1890-01-27; Darmstadt |
Sterbedatum/-ort: | 1980-05-06; Tel Aviv |
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Kurzbiografie: | bis 1908 Humanist. Neues Gymnasium Darmstadt bis Abitur 1909–1913 Studium d. Medizin in Heidelberg, 8 Semester, Zürich u. München, je ein Semester, Abschluss Staatsexamen in Heidelberg ab 1914 Assistenzarzt im Städt. Krankenhaus Mannheim bis 1918, daneben im Mannheimer Lazarett tätig 1917 IV. 23 Promotion zum Dr. med. in Heidelberg beim Pharmakologen Rudolf Gottlieb: „Über die Beziehung zwischen Sauerstoffverbrauch u. Tätigkeit des Froschherzens“ 1918–1933 Niedergelassener Arzt in Mannheim-Waldhof, erster Arzt d. neuen Gartenstadt, zuerst im Obergeschoss seines Wohnhauses im Westring 19, ab 1923 Alte Frankfurter Str. 32, ab 1931 Waldstr. 46 1933 IV. 6–VII. 1 im Rahmen einer NS-Aktion gegen jüd. Ärzte Entzug d. kassenärztl. Zulassung als „Kassenlöwe“, ab Juli Verbot jeglicher ärztl. Tätigkeit durch die Gesellschaft d. Ärzte Mannheims. Nach Selbstmordversuch u. Behandlung im Israelit. Krankenhaus in Mannheim ab 15. Mai alleine, ab 20. Mai bis 20. Juni wieder mit d. Ehefrau in d. Innenstadt wohnhaft, dann Auswanderung über Triest nach Haifa, Israel 1935 nach erfolglosen Versuchen als Privatarzt Managing Director u. Leiter eines Sanatoriums auf dem Carmel in Haifa 1937 VI. 27 Einbürgerung in Israel 1952–1963 Verfahren beim Landesamt für Wiedergutmachung in Karlsruhe 1955 Verkauf des Sanatoriums an ein Altenheim; seit März ohne Beschäftigung ab 1956 wohnhaft in Tel Aviv 1957 VI. 18 formale Wiedereinbürgerung in Deutschland |
Weitere Angaben zur Person: | Religion: isr. Verheiratet: I. 1914 (Berlin) Else, geb. Birand (geboren 1883 in Bischofswerda), Dr. phil., Soziologin, gesch. 1949 II. 1949 (Haifa) Nadja Nechama, geb. Kayser (geboren 1909 in Bendzin, Oberschlesien) Eltern: Vater: Berthold (1859–1910), Großkaufmann in Darmstadt Mutter: Klementine, geb. Fulda (1866–1929) aus Mainz, Tochter des Kaufmanns Josef Fulda Geschwister: 5; Hannette (geboren 1891), Eva (geboren 1892), Friedrich Isaak (geboren 1893), Bertha (geboren 1897) u. Heinz Herz (geboren 1902) Kinder: 3 aus I.; Ricka (geboren 1915), Adolf Rudolf (geboren 1917), Peter Josef (geboren 1920) |
GND-ID: | GND/136363415 |
Biografie
Biografie: | Fred Ludwig Sepaintner (Autor) Aus: Baden-Württembergische Biographien 5 (2013), 38-40 Bewegend in seiner Zerrissenheit und darin auch exemplarisch stellt sich das Schicksal des deutschjüdischen Arztes Bodenheimer dar. Es ragt aber auch heraus angesichts des Erfolges, den der Flüchtling im Gelobten Land der Väter erzielte. Das Spannungsfeld dieses Lebens deutet sich bereits im Namen an: Seines Geburtstages wegen, den er mit dem Deutschen Kaiser teilte, wurde er zeitlebens Wilhelm genannt. Lion war Traditionsname in der Familie, in Israel fügte er den Namen Jehuda hinzu. Diese Vornamen werfen ein Schlaglicht auf die Familie, lassen erkennen, dass man dazugehören wollte, ohne den Ursprung zu verwischen. Der wirtschaftliche Erfolg, die erreichte Position mag das ermöglicht, zumindest erleichtert haben, handelte es sich doch um eine der wohlhabendsten Familien Darmstadts, die durch den Handel mit Kolonialwaren, landwirtschaftlichen Gütern, Getreide zumal, und Spezereien formaliter in die „Ehrbarkeit“ der Stadt aufgerückt und wohlintegriert war in der Zeit des kaiserlichen Deutschland. Über zwei Generationen waren Angehörige der Familie auch im Direktorium der Darmstädter Handelskammer vertreten. Innerhalb der jüdischen Gemeinde dieser Stadt war der Name geradezu Synonym für die orthodoxe Glaubensrichtung, deren Herausbildung als eigene Gemeinde die Familie großzügig mitfinanzierte, als es um den Bau einer eigenen Synagoge ging. Entsprechend bürgerlich verlief die Jugend Bodenheimers. Er galt als begabter Schüler, war sportlich, ein hervorragender Geiger, legte im 18. Lebensjahr das Abitur ab und begann sein 10-semestriges Medizinstudium, davon je eines, das dritte und vierte, in Zürich und München, die übrigen acht in Heidelberg, wo er auch seine erste Frau kennen lernte, im August 1914 approbiert und drei Jahre später promoviert wurde. Inzwischen, insgesamt wurden es 20 Jahre, lebte er in Mannheim, seit 1914 war er Arzt am Städtischen Krankenhaus. Bis zum Ende des I. Weltkriegs tat er daneben im Mannheimer Lazarett Dienst. Er wohnte in der gerade entstandenen Gartenstadt, wo er die erste und damals einzige Arztpraxis eröffnete. Der 170 cm große, zeitlebens eher schlanke und nie besonders kräftige Mann war ausgesprochen beliebt bei seinen Patienten, zumal die 1920er-Jahre über bis Anfang 1933. Seine Praxis – bemerkenswert für die Arbeitsweise eines praktischen Arztes in der damaligen Zeit, sie war sogar mit einem Röntgengerät ausgestattet! – wuchs mit dem neuen Stadtteil, war schließlich außergewöhnlich groß und mit netto 32000 RM (1932) genauso einträglich. Bodenheimer galt als unkonventionell und außerordentlich hilfsbereit; auch nachts radelte er zu seinen Patienten, wenn der Arzt gebraucht wurde. Dergestalt wohlangesehene „Institution“, was in der Erinnerung lebendig blieb, setzte die NS-„Machtergreifung“, diesem Lebensabschnitt Bodenheimers ein jähes Ende. Instrumentalisiert wurde dazu das Schlagwort „Kassenlöwe“: Bodenheimer habe „dauernd eine abnorm hohe Zahl von ärztlichen Leistungen verrechnet“, lautete der Vorwurf, und daran wurde der Schluss geknüpft: „Er muss also die notwendige Gewissenhaftigkeit bei der Behandlung von Kranken außer Acht gelassen haben.“ Am 6. April 1933, dem Tag, an dem dieses Schreiben formuliert wurde, erfolgte bereits der Entzug der kassenärztlichen Zulassung. Von dieser Maßnahme waren nur jüdische Ärzte in Mannheim betroffen. Das Verbot jeglicher ärztlicher Tätigkeit sprach die Gesellschaft der Ärzte Mannheims zum 1. Juli aus. Die Zeitspanne vom April bis Anfang Juli 1933 stellt sich als die wohl dramatischste im Leben Bodenheimers dar. Noch 25 Jahre später erschien sie ihm als „unvorstellbar grauenvoll“. „Eheleute auf Reisen“ notiert der Abmeldeeintrag aus der Gartenstadt vom 5. Mai 1933. Was sich indessen zutrug, der Beginn von Unterdrückung und Verfolgung, der Zusammenbruch von Bodenheimers Weltbild, lassen seine am 13. März 1958 niedergeschriebenen Worte ahnen: „Aus streng gläubig jüdischen Familien entstammend […] wurde ich im Glauben an Gott und zur Treue an das deutsche Vaterland […]erzogen. Was meinem Leben einen Halt gab, war der Stolz auf die Familie […] und das Bewusstsein, ein deutscher Staatsbürger zu sein. […]Im Januar 1933 wurde mir klar, dass diese Lebensanschauung falsch war.“ Seine Tochter, Oberprimanerin am Realgymnasium, musste damals in die Psychiatrie eingeliefert werden. Als gebessert entlassen schickten die Eltern sie und den zwei Jahre jüngeren Bruder mit dem Zug nach Triest, von wo aus beide das Schiff nach Haifa nahmen, wo der Bruder der Frau lebte. Nachdem sein Reisepass eingezogen war, sah Bodenheimer für sich selbst keinen Ausweg, wähnte sich Hindernis für die Flucht der Familie. Er versuchte den Selbstmord, indem er sich eine Überdosis beruhigender Arzneien injizierte, die über Bewusstlosigkeit in den Tod durch Atemlähmung führen sollten. Bodenheimers Puls sank auf 4 Schläge pro Minute. Er wurde ins Israelitische Krankenhaus eingeliefert. Erst nach etwa einer Woche anhaltender Bewusstlosigkeit konnte er reanimiert werden. Dauernde Schwäche blieb zurück, womöglich ein Herzmuskelschaden. Allein seine erste Frau schien in dieser Zeit besonnener, organisierte die Flucht. Alle Habseligkeiten wurden verpackt und per Spedition über Hamburg verfrachtet. Ende Juni 1933 fuhren die Eheleute und der jüngste Sohn von Mannheim aus über Basel mit dem eigenen Wagen nach Triest und von dort per Schiff nach Haifa. Damit waren sie der aktuellen Bedrohung durch den NS-Staat entgangen. Der Wechsel indes verlief nicht so ganz reibungslos: Erste Versuche, sich als Privatarzt niederzulassen, blieben erfolglos. Es dauerte fast zwei Jahre, bis der neue Lebensabschnitt seinen Anfang nahm. Tief in einem Pinienwald auf dem Carmel in Haifa baute Bodenheimer zusammen mit seinem Schwager Dr. Max Birand und Dr. Beno Levy, einem offiziellen Vertreter der örtlichen Gesundheitsbehörde, das „Carmel-Sanatorium“; Bodenheimer wurde sein ärztlicher Leiter. Das als „prachtvoll“ geschilderte Haus, ein damals ungemein modernes, im „Bauhaus“-Stil gehaltenes dreistöckiges Gebäude, Werk des bekannten deutsch-jüdischen Architekten Richard Kauffmann, bot das klassische Erholungsprogramm: Hydro- und Elektrotherapien, Massagen, Gymnastik und eine bald weithin gerühmte Küche. Auch auf medizinischem Gebiet war es für seine Zeit bestens ausgestattet und wurde rasch in ganz Palästina bekannt. Ab 1939 war noch ein zweiter Arzt beschäftigt. Dort Erholung Suchende werden als durchweg wohlbegütert beschrieben: „Pilgerstätte der Oberschicht des Landes, […] Politiker, Staatsmänner, die Reichen“ – alles Stichworte aus einer Kurzbeschreibung des Stadtarchivs Haifa. Und diese Tendenz vertiefte sich noch, als der Kriegsausbruch europäische Erholungsziele bald unerreichbar machte, für Juden zumal. Bodenheimer indessen litt zusehends unter Herzproblemen. 1951 ließ er sich in Zürich behandeln. Wiederum genau zwei Jahrzehnte hatte sein Wirken als Leiter des Sanatoriums gedauert, dann endete dieser Lebensabschnitt. 65-jährig legte er die Arbeit nieder; das Gebäude wurde verkauft und in ein Altersheim der Organisation Histadrut verwandelt. Inzwischen war in Karlsruhe längst der zähe, sich über elf Jahre hinziehende Kampf um Ausgleich für erlittenen Schaden aufgenommen, in dessen Verlauf Bodenheimer sich 1957 formaliter sogar wieder in Deutschland einbürgern ließ. Der Lebensmittelpunkt des wiederverheirateten Pensionärs war inzwischen Tel Aviv, wo er im 91. Lebensjahr verstarb. Bodenheimer weilte seit den 1950er-Jahren mehrfach in Europa, nach Mannheim, wohl auch nach Deutschland, scheint er aber nie wieder zurückgekehrt zu sein. Er hatte Deutschland als seine Heimat geliebt, vergeben aber konnte er offensichtlich nicht, was das NS-Regime ihm angetan hatte. Sein Sohn Adolf hingegen absolvierte erst in der Schweiz eine Hotelfachschule und lebte später wieder in der alten Heimat der Familie Bodenheimer. Er betrieb in Frankfurt-Sachsenhausen ein Hotel. |
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Quellen: | StadtA Mannheim, Melderegister u. Judendokumentation; Archives of the City of Haifa, Nachlass Bodenheimer (1926–1955); GLA Karlsruhe 480 Nr. 20338 (1–6), Wiedergutmachungsakten, Zitate aus 1, 38: Mitteilung des kommissarischen Ehrengerichts [d. Ärzte] des Kommissariatsbezirks Mannheim u. 166: Eidesstattliche Versicherung Bodenheimers vom 13.3.1958; Mitteilungen d. Friedrich-Naumann-Stiftung Jerusalem vom Januar 2007 u. von Asaf Ashkenazi, Haifa, vom Dezember 2008; Auskünfte des StadtA Darmstadt, d. UB u. des UA Heidelberg vom November u. Dezember 2007; Gespräch mit Heinrich Schäfer, Mannheim-Gartenstadt, Heidestraße 21, am 14.11.2007. |
Werke: | Über die Beziehung zwischen Sauerstoffverbrauch u. Tätigkeit des Froschherzens, Diss. med. Heidelberg 1917, gedr. in: Archiv für Experimentelle Pathologie u. Pharmakologie 80, Heft 2, 1916 (Sonderdruck, 16 S.). |
Nachweis: | Bildnachweise: StadtA Mannheim, Digit. Fotoalbum 01679 (22 Fotos). |
Literatur + Links
Literatur: | StadtA Haifa, Lebenslauf – Dr. Wilhelm Jehuda Bodenheimer (undatierte Übersetzung aus dem Hebräischen, MS im Besitz des Verfassers dank freundl. Unterstützung d. Friedrich-Naumann-Stiftung, Jerusalem); H. Gilbert/S. Sosnovsky, Bauhaus on the Carmel and the crossroads of Empire: architecture and planning in Haifa during the British mandate, Jerusalem 1993, bes. 256-260 (Fotos des Sanatoriums); Ruth Brandt, History of the Carmel Sanatory, Haifa, in: Ariel 15, 1994, 101-192; Der erste Arzt d. Gartenstadt, in: Gartenstadtjournal vom 1.1.2005–1, 11. |
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