Nallinger, Friedrich (genannt Fritz) Karl Hugo 

Geburtsdatum/-ort: 06.08.1898;  Esslingen
Sterbedatum/-ort: 04.06.1984;  Stuttgart
Beruf/Funktion:
  • Automobilingenieur
Kurzbiografie: 1912-1916 Realgymnasium in Mannheim, dort Abitur
1916-1919 Militärdienst bei der Fliegertruppe, Flugzeugführerabzeichen
1919-1922 Studium an der TH Karlsruhe, Hauptfach Maschinenbau
1922 Diplom-Hauptprüfung im Maschineningenieurswesen mit Note „sehr gut“; Anstellung als Dipl.-Ing. im Konstruktionsbüro von Benz&Cie, Mannheim, Rheinische Automobil- und Motorenfabrik
1928 Übernahme der Leitung des gesamten Versuchsgebietes im Daimler-Benz-Werk Untertürkheim, Assistent der Technischen Direktion
1929 Stellvertretendes technisches Vorstandsmitglied von Daimler-Benz
1935 Übernahme der gesamten Leitung des Großmotoren-Entwicklungswerkes in Untertürkheim, Ernennung zum Technischen Direktor
1938 Ernennung zum Wehrwirtschaftsführer durch die Wehrmacht; Verleihung des VDJ-Ehrenrings
1940 Beiratsmitglied der Daimler-Motoren-GmbH Genshagen, Übertragung der Gesamtleitung von Konstruktion, Versuch und Entwicklung als stellvertretendes Vorstandsmitglied der Daimler-Benz AG
1941-Oktober 1945 Vorstandsmitglied der Daimler-Benz AG
1948-1965 Vorstandsmitglied, Chefingenieur der Daimler Benz AG, Ressort Forschung und Entwicklung
1952 Dr.-Ing. E. H. der TH Karlsruhe
1954 Großes Bundesverdienstkreuz mit Stern
1955 Professorentitel des Landes Baden-Württemberg „in Würdigung seiner großen Verdienste um die deutsche Wirtschaft“
1956 Coupe des Constructeurs durch die FJH, Diesel-Medaille in Gold des Deutschen Erfinderverbandes
1962 Ehrenmitglied der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Luft- und Raumfahrt
Weitere Angaben zur Person: Religion: evangelisch
Verheiratet: 1925 Frohmut, geb. Panther
Eltern: Vater: Friedrich Nallinger (1863-1937), Königlich Württembergischer Baurat
Mutter: Marie, geb. Koetzle
Geschwister: Hedwig, Martha, Walter
Kinder: 4
GND-ID: GND/138674590

Biografie: Willi A. Boelcke (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 1 (1994), 250-253

Als 14jähriger Schüler des Realgymnasiums in Mannheim erhielt Nallinger im Jahre 1912 sein erstes Patent. Es bezog sich auf einen Reflektor für einen Automobilscheinwerfer. Für die Patentbenutzung zahlte ihm die Firma Zeiss/Jena den damals stolzen Betrag von 2.000 Goldmark. Weitere 390 Patent- und Gebrauchsmusteranmeldungen unter seinem Namen folgten während seiner langjährigen beruflichen Tätigkeit für die Firmen Benz&Cie, Daimler-Benz und Daimler-Benz AG. Insgesamt 391 Anmeldungen wurden unter dem Namen Fritz Nallinger geführt, eine selten ungewöhnlich hohe Zahl für einen einzelnen Menschen. Unermüdlicher Leistungswille verbarg sich dahinter, aber zugleich ein Mensch, den das Schicksal von Kindheit an sichtlich begünstigte.
Nallinger entstammte einem wohlhabenden bürgerlich-schwäbischen Elternhaus, das schon frühzeitig auf die Zukunft des Automobils und der jungen Automobilindustrie setzte. Als Sechsjähriger erlebte er das Auto, kam mit ihm in Berührung und verbrachte fortan seine Freizeit als Schüler lieber mit den Daimler-Versuchsfahrern als mit der Familie oder mit Schulkameraden. Die Verbundenheit mit der modernen Technik prägte ihn daher von Kindheit an, und tat aber nicht dem Besuch der Elementarschule und des Realgymnasiums Abbruch, die er gern besuchte und mit besten Noten namentlich in naturwissenschaftlich-mathematischen Fächern absolvierte. Der Faszination für die frühe Motorfliegerei, auf dem Canstatter Wasen aus unmittelbarer Nähe erlebt, folgte wohl zwangsläufig Nallingers Meldung zum Kriegsdienst bei der Fliegertruppe. Er war Flugzeugführer im Ersten Weltkrieg. Dadurch stellten sich wiederum Weichen und öffneten sich Türen in der Zwischenkriegszeit. Auch gab es für Nallinger sicherlich keine Zweifel, welches Studien- und Berufsziel anzustreben sei. Er studierte das Maschinenwesen in Karlsruhe mit Bestnote und wurde mit Begeisterung Ingenieur. Als er später, Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, bei der Daimler-Benz AG mit der Fertigung von Sechszylinder-Pkw mit obengesteuertem Hochleistungsmotor eine neue Epoche im Pkw-Motorenbau in Untertürkheim einleitete, verwirklichte er zugleich Ideen seiner Karlsruher Diplomarbeit. Um die gleiche Zeit verlieh die TH Karlsruhe ihrem überaus erfolgreichen ehemaligen Diplomanden den Dr. Ing. ehrenhalber.
Vieles im Werdegang und Lebenswerk Nallingers erweckte den Eindruck, als hätte alles nur so verlaufen können, wie es verlief und nicht anders. Dr. Friedrich Nallinger, der Vater, war als Vorstandsmitglied der Benz&Cie in Mannheim tätig, als Sohn Fritz im November 1922 als Dipl.-Ing. im Konstruktionsbüro der Firma angestellt wurde. Der Aufstieg zum 1. Versuchsingenieur bei der Interessengemeinschaft Daimler-Benz folgte und sodann nach einigen Jahren unter dem berühmten Ferdinand Porsche der zum Versuchsleiter im Werk Untertürkheim. Noch begleitete im Hintergrund der Vater als Vorstandsmitglied der Daimler-Benz AG wohl mit einigem Stolz die Karriere des Sohnes und von 1929 bis 1937 als Aufsichtsratsmitglied. Über Jahre gehörte Baurat Nallinger in Vorstand und Aufsichtsrat zu den Verfechtern der Fertigung eines billigeren Mercedes-Benz-Wagens, „um in weitere Käuferschichten eindringen zu können“. Realisiert wurde die Idee vom Sohn, zunächst im Typ 170 von Ende 1931 mit der vieldiskutierten Schwingachse und Einzelradaufhängung und danach mit der Fertigstellung der Konstruktion des Typ 170 V (V = vorn), der vor dem Zweiten Weltkrieg und im Jahrzehnt danach das meistverkaufte Mercedes-Benz-Modell war. Mit dem 2,6-Liter-Dieselmotor unterstrich Daimler-Benz seine führende Position bei Fahrzeug-Dieselmotoren in der Welt.
Die militärische Aufrüstung seit der Machtübernahme Hitlers, den Nallinger ohne Regung von Begeisterung schon vor 1933 kennenlernte, veränderte sehr bald das Aufgabengebiet des Leiters der Entwicklungsabteilung in Untertürkheim. Ein bereits während der letzten Jahre der Weimarer Republik entwickelter Flugmotor wurde als DB 600 zum Grundmuster für die folgenden Triebwerks-Generationen der Daimler-Benz AG, die 1935 den Auftrag für den Großserienbau erhielt. Nallinger begann als Leiter der Flugmotoren-Entwicklung seit 1934 Versuche mit der direkten Benzin-Einspritzung unter strikter Geheimhaltung. Das Ergebnis war der erste erprobte Flugmotor mit Benzin-Einspritzung, der 1937 beim Internationalen Flugmeeting in Zürich als DB 601 vorgestellt wurde und für Nallinger die Auszeichnung mit der Lilienthal-Gedenkmünze bedeutete. Mit dem neuen Flugmotor setzte sich Daimler-Benz an die Spitze unter vergleichbaren Aggregaten. Er erwies sich zudem als eine Konstruktion mit zahlreichen Entwicklungsmöglichkeiten. Mit dem leistungsgesteigerten DB 601 erflog die Heinkel He 100 V8 am 30.3.1939 den absoluten Geschwindigkeitsrekord für Deutschland. Bei Kriegsende 1945 stellten die Leistungen der Dornier Do 335 mit ihren zwei DB 603 E-Triebwerken in Tandem-Anordnung den Höhepunkt der Propeller-Flugzeug-Ära dar. Nallinger war bei Reichsluftfahrtminister Hermann Göring – seit 1937 auch dessen „Beauftragter in automobiltechnischen Fragen“ – „gut angeschrieben und hat dort gewiß für Daimler-Benz Stimmung gemacht“, bemerkte Daimler-Benz-Chronist Lingnau. In seiner Position konnte sich Nallinger nicht länger der NSDAP entziehen. Zum 1. Mai 1937 wurde er Parteimitglied; im September 1938 folgte fast zwangsläufig die Ernennung zum „Wehrwirtschaftsführer“. Zur Fabrikation der neuentwickelten DB-Flugmotoren in Großserie war binnen kürzester Zeit seit 1936 das Werk der Daimler-Benz Motoren GmbH Genshagen (südlich Berlins) errichtet worden, dessen große technischen Erfolge wesentlich Nallinger zuzuschreiben sind, der dem Beirat des Werkes angehörte. Konstruktive und fabrikatorische Schwierigkeiten tauchten erst 1943 beim Ausstoß der in großen Stückzahlen vom Reichsluftfahrtministerium übereilt geforderten, technisch noch nicht ausgereiften DB-Doppelmotoren (zu DB 605 entsprechend Doppelmotor DB 610 usw.) auf.
Damals bestand bereits die Belegschaft des Werkes Genshagen zu 65 % aus ausländischen Arbeitskräften verschiedenster Kategorien. Seit Ende 1944 verrichteten dort auch 1000 weibliche Häftlinge Zwangsarbeit. Nallinger führte später die Motorenbrände bei den nicht einsatzfähigen Heinkel-Fernbombern He 127 auf die Entzündung des Öls in der Hydraulik der Fahrwerksbetätigung durch die nahen, glühenden Auspuffrohre der Motoren zurück. Noch 1945 arbeiteten Nallinger und Prof. Kurt Tank von Focke-Wulf an einem „Schnellstbombenträger“, obwohl Nallinger selber andererseits schon seit 1943 als vorsichtiger Kritiker der NS-Rüstungspolitik hervorgetreten ist und wiederholt auf gravierende technische Mängel von Rüstungsprojekten aufmerksam gemacht hat. Entgegen dem erlassenen strengen Verbot von Friedensplanungen konzipierten Nallinger und Vorstandsvorsitzender Haspel bereits während des Zweiten Weltkrieges die Produktpolitik von Daimler Benz für die Zeit unmittelbar nach dem Kriege. Projektiert wurde der Bau des Mittelklasse-Pkw (170-Modell). Vorentwickelt wurden vor Kriegende ein neuer Omnibus- und Lastwagentyp, dessen Entwicklung 1941 abgebrochen worden war.
Nach etwa zweieinhalbjähriger Zwangspause bei Daimler-Benz, dem erzwungenen Ausscheiden aus der Firma nach Maßgabe der alliierten Entnazifizierungsgebote, wurde Nallinger ab 28.4.1948 erneut in den Vorstand berufen und übernahm als Chefingenieur wiederum die Verantwortung für den Entwicklungsbereich. Für Nallinger begann ein neuer, sehr erfolgreicher, in hohen Auszeichnungen und Ehrungen gipfelnder Lebensabschnitt, der mit der verspäteten Entlassung in den Ruhestand 1965 endete. Um der Technik mehr Gewicht im eigenen Haus zu verschaffen, setzte Nallinger neben den üblichen Vorstandssitzungen die technischen Vorstandssitzungen durch.
Automobiltechnik und Automobilbau wurden seit den 1950er Jahren von Zäsuren, Kontinuitäten und Neuerungen bestimmt. Die Entwicklung des Großserienbaus mit den Möglichkeiten der Kosteneinsparung wurde angestrebt. Neu war auch, fortan die Marktforschung in die Unternehmenspolitik einzubeziehen. Auch die Umstellung der bisher empirisch betriebenen Entwicklungen zur rechnerischen Konstruktion von Motor und Karosserie war zu bewältigen. Erst 1953 vollzog Daimler-Benz in der Produktpolitik des Mittelklassewagen-Bereichs die Zäsur zwischen Tradition und Moderne. Als Nachfolger der 170-Reihe kam der Typ 180 in neuer Pontonform heraus. Noch von Nallinger wurden die die Heckflossen-Modelle 220 und 300 ablösenden Nachfolger konzipiert – hausintern Baureihe W 114 / W 115 –, die dann seit Ende der 1960er Jahre die Märkte im Sturm eroberten. Nach 1950 hat sich das Mannheimer Werk zum größten und erfolgreichsten Nutzfahrzeughersteller des Kontinents entwickelt. Unter Nallingers Leitung ging 1949 der Diesel-Personenwagen in Serie und begann Daimler-Benz 1955 mit der Neuentwicklung von Flugtriebwerken. Bereits 1958 setzte Daimler-Benz ein weiteres markantes Datum in der Automobilgeschichte, indem erstmals bei 220er Modellen die seit den 1930er Jahren gemachten Erfahrungen mit der Benzineinspritzung bei Flugmotoren für das Automobil nutzbar gemacht wurden. Bei den Siegesserien in internationalen Rennen glänzte bis 1955 der schon legendäre 300 SL. Das Verhältnis von Rennwagen- und Serienwagenbau brachte Nallinger auf die Formel: „Rennen waren für den Fortschritt beim Serienwagen nicht unbedingt notwendig, aber sie haben seine Entwicklung beschleunigt“. Ein wesentliches Anliegen Nallingers beim Serienbau war schon seit den 1950er Jahren die Verbesserung der Unfallsicherheit des Autos. („Knautschzonen-Patent“ von 1951). In seiner Autobiographie erinnerte er sich: „Unser oberstes Prinzip sollte die Sicherheit bleiben. Hierzu begannen wir im Jahre 1963 auch daran zu arbeiten, für das Bremssystem einen Blockierungsschutz zu entwickeln“. Nallinger gilt mit Recht als einer der großen Automobilingenieure seit der Mitte des 20. Jahrhunderts.
Werke: Gottlieb Daimler 1834-1900, Karl Benz 1844-1929. In: Die Großen Deutschen. DB V Bd. Berlin 1957, 380-389; Autobiographie, im Typoskript im Mercedes-Benz-Firmenarchiv, Stuttgart-Untertürkheim
Nachweis: Bildnachweise: Fotos im Mercedes-Benz-Firmenarchiv, Stuttgart-Untertürkheim

Literatur: Hans Pohl, Stephanie Habeth, Beate Brüninghaus, Die Daimler-Benz AG in den Jahren 1933 bis 1945. Stuttgart 1986; Karl Heinz Roth, Michael Schmid, Die Daimler-Benz AG 1916-1948. Schlüsseldokumente zur Konzerngeschichte. Nördlingen 1987; Max Kruk, Gerold Lingnau, 100 Jahre Daimler-Benz. Das Unternehmen. Mainz 1986; Manfred Barthel, Gerold Lingnau, 100 Jahre Daimler-Benz. Die Technik. Mainz 1986
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