Tschenscher, Kurt 

Geburtsdatum/-ort: 05.10.1928; Szymiszow/Oberschlesien (1936–1945 Heuerstein)
Sterbedatum/-ort: 13.08.2014;  Schwetzingen
Beruf/Funktion:
  • Fußball-Schiedsrichter
Kurzbiografie:

1935 Volks- und Mittelschule in Hindenburg (heute: Zabrze) bis Mittlere Reife, 1944 im letzten Schuljahr Luftwaffenhelfer

1937–1943 Fußballspieler beim SC Preußen 1910 in Hindenburg

1945 X 1 Flakartellerie, 28. April 1945 amerikanische Gefangenschaft

1947 Maurergesellenprüfung in Mannheim

1948–1977 Fußball-Schiedsrichter, 1958 bis 1975 FIFA-Schiedsrichter

1956 Leiter der Versicherungsbranche einer Bank

1970–1989 Stellvertretender Vorsitzender des Fußballkreises Mannheim

1971 Sachbearbeiter im Sport- und Bäderamt der Stadt Mannheim, dann Abteilungsleiter und stellvertretender Amtsleiter

1979–1995 Stellvertretender Vorsitzender im DFB-Schiedsrichter-Ausschuss und Vorsitzender im Schiedsrichter-Wesen des Süddeutschen Fußballverbands

Weitere Angaben zur Person: Religion: evangelisch
Auszeichnungen: Ehrungen: Besonders verdiente Persönlichkeit der Stadt Mannheim (1960); Goldene Ehrenplakette des Badischen Fußballverbands (1968); Goldene Ehrennadel des Badischen Fußballverbands, Kreis Mannheim (1970); FIFA-Special-Award (1978); Bundesverdienstkreuz am Bande (1975); Ehrenmitglied des VfL Neckarau (1984); Goldene Ehrennadel des Landes Baden-Württemberg (1985); Goldene Ehrennadel des Süddeutschen Fußballverbands (1987); Goldene Ehrennadel des DFB und Dr.-Bauwens-Medaille (1992); Ehrenmitglied des Süddt. Fußballverbands (1996) und des SC 08 Reilingen (1998).
Verheiratet:

1950 (Holzschwang, Bayern) Frieda, geb. Fischer (1923–2018)


Eltern:

Vater: Wilhelm Martin (1902–1945, gefallen), Kaufm. Angestellter

Mutter: Emmy, geb. Mainka (1898–1962), Hausfrau


Geschwister:

Margot, verh. Gnibl, (geb. 1934)


Kinder:

Brigitte, verh. Klein (geb. 1953)

GND-ID: GND/1117981444

Biografie: Klaus Schlütter (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 7 (2019), 533-536

Tschenscher spielte in der Jugend Fußball beim SC Preußen 1910 Hindenburg. Knapp 15-jährig wurde er im II. Weltkrieg Luftwaffenhelfer und geriet im April 1945 in Imst in Österreich in amerikanische Gefangenschaft, die er bis 1. Oktober 1945 bei Heilbronn verbüßen musste. Nach der Entlassung verschlug es ihn nach Mannheim, wo er beim VfL Neckarau wieder Fußball spielte. Bei einem Spiel der U 16, bei dem kein Schiedsrichter anwesend war, sprang er als Unparteiischer ein. Zufällig schaute Sepp Herberger zu, war von der Leistung des jungen Aushilfsschiedsrichters sehr angetan und riet ihm nach dem Spiel, Schiedsrichter zu werden. Die Worte des Bundestrainers hatten natürlich besonderes Gewicht; im August 1948 legte Tschenscher im Fußballkreis Mannheim die Schiedsrichter-Prüfung ab. Sein erster Ausweis wurde am 6. September 1948 vom Badischen Fußballverband ausgestellt.

Tschenscher diente sich dank natürlicher Begabung als Schiedsrichter Stufe um Stufe nach oben, war resolut, bestimmend und besaß Durchsetzungsvermögen. Er bot konstant gute Leistungen mit geringer Fehlerquote, verhielt sich clever gegenüber Sündern, denen er bei passender Gelegenheit diskret, aber wirkungsvoll seine Meinung sagte. Bei den meisten Spielen agierte er unauffällig, ein Kennzeichen von Klasse für einen Unparteiischen. Spieler zu duzen kam ihm nie in den Sinn. Mit einer Ausnahme, die er berichtete: „In einer Strafraumsituation mit Gerd Müller habe ich mal keinen Elfmeter gegeben. Es war ein Pressschlag. Da kam von hinten der Ruf „He, du, dös war a Elfer!“ (Schiedsrichter-Zeitung des DFB von Nov. 2008) Diesen Kommentar Franz Beckenbauers habe er erst mal ignoriert. […] Als sie vom Platz gingen, sagte Tschenscher: „Du, Herr Beckenbauer! Wenn Sie noch mal über den Platz brüllen, dann bitte per Sie!“ (ebd.) Danach waren beide die besten Freunde – immer per Sie, bis zum Ende seiner Laufbahn.

Seine Art der Spielleitung beschrieb Tschenscher folgendermaßen: „Wenn es hieß, der Tschenscher kommt, dann sagten die Profis: ‚Oh Männer, aufgepasst!‘. Man muss den Spielern Einhalt gebieten. Mich konnte keiner anmotzen.“ (Augsburger Allgemeine vom 5.10.2013). Darum wurde Tschenscher „General an der Pfeife“ genannt.

1958 wurde er zum FIFA-Schiedsrichter ernannt. Am 8. Dezember 1958 leitete Tschenscher in Genua sein erstes von 41 Länderspielen, eine unentschieden endende Partie zwischen Italien und der Tschechoslowakei. Der Kapitän der Azzurri, Giampiero Boniperti, äußerte sich nach dem Match lobend über den deutschen Unparteiischen. Nach seiner Teilnahme am FIFA-Jugendturnier 1961 in Portugal wurde Tschenscher am 5. September 1962 mit der Leitung der Final-Wiederholung zwischen Atletico Madrid und dem AC Florenz im Pokal der Pokalsieger betraut. Der erste Vergleich hatte keine Entscheidung gebracht. Die Spanier gewannen im Stuttgarter Neckarstadion mit 3:0. Tschenscher war auch der 23. Mann am 29. Juni 1963 beim letzten Endspiel um die Deutsche Meisterschaft vor Einführung der Bundesliga zwischen Borussia Dortmund und dem 1. FC Köln, wieder in Stuttgart vor 75 000 Zuschauern.

Tschenschers guter Ruf brachte ihn auch nach Griechenland. Weil die Hellenen nach diversen Skandalen ihren eigenen Schiedsrichtern nicht mehr trauten, baten sie den DFB um Hilfestellung. 1964 und 1965 entsandte der Verband Tschenscher viermal nach Athen, um dort Meisterschaftsspiele der griechischen Liga zu pfeifen. Ein weiterer Höhepunkt seiner Karriere war das Endspiel um den Europapokal der Landesmeister zwischen Celtic Glasgow und Inter Mailand am 25. Mai 1967 in Lissabon. Die Schotten besiegten die favorisierten Italiener mit 2:1. Am 3. April 1968 war Tschenscher Unparteiischer des Viertelfinal-Entscheidungsspiels im Europacup der Pokalsieger, einem 1:0 zwischen Cardiff City und Torpedo Moskau im Augsburger Rosenaustadion. Weil er den Russen ein Tor verweigerte, wetterte UdSSR-Nationaltrainer Nikolai Morosow nach der 0:1–Niederlage durch ein Eigentor in der „Komsomolskaja Prawda“, Tschenscher sei parteiisch gewesen.

Bei der Europameisterschaft 1968 ging das Nachspiel des Semifinales zwischen Italien und Russland in die Fußballgeschichte ein. Der DFB hatte sich nicht für die Endrunde qualifiziert; Deutschland war nur durch Tschenscher vertreten. Der pfiffige Wahl-Mannheimer repräsentierte den Verband mit tadellosen Leistungen und schaffte es bis ins Halbfinale. Die Partie am 5. Juni in Neapel unter seiner Leitung endete 0:0 und der Endspielgegner von Jugoslawien musste per Münzwurf entschieden werden. Tschenscher bat die beiden Kapitäne Giacinto Facchetti und Juri Istomin zum Mittelkreis in der Annahme, dass die Sache unter freiem Himmel stattfinden sollte. Er zog eine Münze aus der Hose. Doch bevor Tschenscher das Schicksal in seine Hand nehmen konnte, legten die beiden Verbandspräsidenten ihr Veto ein. Sie bestimmten, dass der Münzwurf nur in ihrem Beisein unter Ausschluss der Öffentlichkeit in einem geschlossen Raum stattzufinden habe, in der Schiedsrichterkabine. Beide Linienrichter waren als neutrale Zeugen dabei; die beiden Mannschaftskapitäne mussten vor der Kabinentür warten.

Tschenscher schilderte den weiteren Ablauf in einem Interview: „Wir schlossen die Kabinentür […]. Granatkin bat erst um einen Probewurf […und] überließ Franchi die Wahl der Münzseite. Dieser entschied sich für die Torseite. Ich habe die Münze mit rechts hochgeworfen, mit links aufgefangen. Endstation war auf dem rechten Handrücken. Diesmal lag die Torseite oben. Wir informierten die beiden Kapitäne. Der Italiener raste durch den Kabinengang nach draußen und überbrachte die freudige Nachricht“ (Berliner Tagesspiegel vom 5.6.2008). Der EM-Gastgeber war im Finale, das Italien mit 2:0 im Wiederholungsspiel gegen Jugoslawien gewann. Danach wurden Münzwürfe im internationalen Fußball abgeschafft und auf Vorschlag des deutschen Schiedsrichters Karl Wald durch das Elfmeterschießen ersetzt.

In der Bundesliga leitete Tschenscher vom Start 1963/64 bis zu seinem Karriereende zwölf Jahre später 126 Spiele. Nicht immer waren die Protagonisten auf dem Rasen mit seinen Entscheidungen einverstanden. Tschenscher musste sich manche Kritik gefallen lassen, so von Uwe Seeler am 9. November 1965 in Kaiserslautern, wo der HSV mit 1:2 verlor. Der Nationalspieler, verletzungsbedingt auf der Reservebank, monierte, Tschenscher habe zwei elfmeterreife Fouls an HSV-Spielern übersehen und ein korrektes Tor der Hamburger nicht anerkannt und hat Tschenscher grob ausfällig beschimpft. „Der Schiri hat bewusst gegen den HSV gepfiffen und ihn offensichtlich verschoben.“ (Hamburger Abendecho“ vom 10.11.1965) Tschenscher verklagte Seeler vor dem DFB-Sportgericht. Bundestrainer Sepp Herberger war über die Anzeige verärgert; denn in die Zeit einer möglichen Sperre fiel ein Länderspiel. Ohne Seeler? Bei der Verhandlung am 5. Januar 1966 bestritt Seeler seine Aussagen und wurde „aus Mangel an Beweisen“ freigesprochen.

Tschenscher ist bis heute der einzige deutsche Schiedsrichter, der zu drei Weltmeisterschaften berufen wurde. 1966 leitete er in England das Spiel Brasilien – Bulgarien, bei dem er , damals noch mündlich, drei Verwarnungen aussprach. Gelbe und rote Karten gab es erst bei seiner zweiten WM 1970 in Mexiko, gemeinsam „erfunden“ vom deutschen FIFA-Referee Rudolf Kreitlein aus Stuttgart und dem Briten Ken Aston bei der WM 1966.

1970 wurde Tschenscher die Ehre zuteil, das WM-Eröffnungsspiel zu leiten. Als er am 31. Mai die Mannschaften von Mexiko und der Sowjetunion auf den Rasen des Azteken-Stadions in Mexiko City führte, hatte er außer seiner Spielnotizkarte noch zwei Stückchen Pappe in der Tasche. Eins war auf der Vorderseite gelb eingefärbt, das andere rot. Beide waren größer als die heute üblichen und passten weder in die Brust- (gelb) noch in die Hosentasche (rot). Tschenscher halbierte die Karten mit der Schere. Nach einer halben Stunde brachte der sowjetische Verteidiger Ewgeni Lowtschew seinen Gegenspieler rüde zu Fall. Verwarnung! Wie bisher üblich, machte Tschenscher dem Spieler erst mündlich klar, ihn im Wiederholungsfall vom Platz zu stellen. Dann nestelte er das gelbe Stück Karton aus der Tasche und hielt es dem Russen unter die Nase: die allererste Gelbe Karte der Fußballgeschichte! „Ich habe diese Karte gehütet wie meinen Augapfel, denn mir war die historische Bedeutung bewusst“ (Tschenscher in: DFB-Schiri-Zeitung 11, 2008). Aus Tschenschers Nachlass befindet sie sich seit dem 30. April 2015 als Leihgabe im Deutschen Fußballmuseum Dortmund.

Aber diese Weltpremiere gab auch Anlass zur Kritik. Die Russen fühlten sich benachteiligt. Dreimal zeigte ihnen Tschenscher warnendes Gelb, einmal einem Mexikaner. „Er hat für Mexiko und gleichzeitig für die deutsche Mannschaft gepfiffen“ (Der Spiegel vom 8.6.1970), behauptete der englische Trainer Alf Ramsey. Dagegen freute sich sein mexikanischer Kollege Raul Cardenas: „Alle müssten so pfeifen“ (ebd.). Ein brasilianischer Funktionär bot Tschenscher einen Vertrag als Berufsschiedsrichter mit einer Monatsgage bis 3000 Mark an, der Deutsche lehnte aber ab, blieb bei 25 US-$ Tagesspesen.

Bei seiner dritten WM in Deutschland leitete er am 3. Juli 1974 im Dortmunder Westfalenstadion den Klassiker Niederlande – Brasilien in der Finalgruppe A. In einer überaus hart geführten Partie verwies Tschenscher den brasilianischen Mannschaftskapitän Luis Edmundo Pereira nach einer Tätlichkeit vom Platz. Die Niederlande gewannen 2:0. Danach bekam Tschenscher böse Anrufe und wurde von deutschen Fans wegen der ihrer Meinung nach unberechtigten Hinausstellung übel beschimpft. Sie hätten lieber Brasilien als vermeintlich leichteren Gegner im Endspiel gesehen, das Deutschland gegen Holland 2:1 gewann. Von da an wurden bei Weltmeisterschaften ab Viertelfinale keine Schiedsrichter aus Ländern noch verbliebener Mannschaften mehr eingesetzt.

Insgesamt leitete Tschenscher 173 internationale Begegnungen, auf Landes- und Regionalebene zusammen 1473 Partien. Weitere Höhepunkte seiner Laufbahn: das Weltpokalendspiel am 26. August 1970 in Buenos Aires, die Mini-CoPA vom 4. Juni bis 9. Juli 1972 in Rio des Janeiro und die Olympischen Spiele 1972 in München mit dem 2:1–Endspiel Polen – Ungarn. Ein ganz besonderes Highlight für Tschenscher aber war das Abschiedsspiel von Superstar Pelé am 18. Juli 1991 vor 173 000 Zuschauern im Maracaná-Stadion in Rio. Nach dem Duell Brasilien – Jugoslawien (2:2) schenkte ihm Pelé als Anerkennung für seine tadellose Leistung sein Trikot mit der Rückennummer 10. Ein schöneres Andenken an 28 erfüllte Jahre als Schiedsrichter hätte er sich kaum wünschen können.

1976 beendete Tschenscher seine Karriere, blieb der Tätigkeit aber weiter verbunden. 1979 flog er für eine mehrwöchige Schiedsrichter-Ausbildung nach China und war auch später in diversen Verbänden oder als Schiri-Beobachter der Bundesliga tätig. Sonst pflegte er seine Hobbies: Radfahren, Wandern, Schwimmen und Musik. Den Lebensabend verbrachte Tschenscher mit seiner Frau im Haus von Tochter, Schwiegersohn und den beiden Enkelkindern. Er starb im 86. Lebensjahr.

Quellen:

Lebenslauf und eigene Angaben von Tschenscher zum sportlichen Werdegang; Dr. Alfredo W. Pöge, in: IFFHS, International Federation of Football History & Statistics, 1995, III. Quartal.

Nachweis: Bildnachweise: Foto (o. J.), aus Privatbesitz.

Literatur:

Oskar Beck, Als der Schiri per Münzwurf…, in: Welt vom 2.6.2006; Mike Draegert, Den Probewurf…, in: Berliner Tagesspiegel vom 5.6.2008, Lutz Lüttig, „Gespräche der Generationen“, DFB-Schiedsrichter-Zeitung vom Nov. 2008., „Schiedsrichter-Ikone wird 85“, in: Augsburger Allgemeine vom 5.10.2013.

Suche
Durchschnitt (0 Stimmen)