Schweitzer, Alexander 

Geburtsdatum/-ort: 23.07.1885;  Ludwigsburg
Sterbedatum/-ort: 18.09.1966;  Baiersbronn
Beruf/Funktion:
  • Chemiker und Ingenieur
Kurzbiografie:

1891–1903 Schulbildung bis Abitur in Ludwigsburg

1903–1907 TH Stuttgart mit Abschluss Dipl. Ing.

1905–1906 Einjährig-Freiwilliger beim Regiment „Alt-Württemberg“

1907–1909 Chemiestudium an der TH Dresden bis Promotion bei F. Foerster (1866–1931): „Beiträge zur Kenntnis des elektrochemischen Verhaltens des Nickels“

1910–1932 technischer Leiter bei J. Hauff, Feuerbach

1914–1918 Kriegsteilnahme mit langen Freistellungen

1932–1934 selbständig in Stuttgart

1934–1942 Geschäftsführer der Deutschen Bunsen-Gesellschaft

1939 Leiter einer Versuchsanlage in Metzingen

1942 Geschäftsführer der Lias-Ölschiefer-Forschungs-GmbH Frommern bei Balingen

1943 zwei Reisen nach Estland wegen dortiger Erfahrungen mit Ölschiefer

1946 Werksleiter während der französischen Sequestur

1947 4 Monate Internierung und Kündigung, danach beratender Ingenieur

1948 Ende der Anstellung bei Lias, weiterhin Gesellschafter

1952–1966 Ruhestand in Freudenstadt und Baiersbronn

Weitere Angaben zur Person: Religion: evangelisch
Verheiratet:

1920 (Stuttgart) Helena Martha, geb. Kaz (geb. 1898)


Eltern:

Vater: Wilhelm (1847–1896), Proviantamtsmeister

Mutter: Leonie, geb. Herb (1848–1941)


Geschwister:

7, davon 2 früh verstorben


Kinder:

2

GND-ID: GND/1133587186

Biografie: Renate Liessem-Breinlinger (Autor)
Aus: Baden-Württembergische Biographien 7 (2019), 507-510

Durch das Lurgi-Schweitzer-Verfahren zur Verschwelung ölhaltigen Gesteins ging Schweitzer in die Technikgeschichte ein. Die 1922 gegründete Lurgi-Gesellschaft für Wärmetechnik, eine Tochter der Frankfurter Metallgesellschaft, hielt Schweitzers grundlegende Gedanken in rund 12 Patenten fest und beteiligte sich zu Beginn des II. Weltkriegs an der praktischen Umsetzung durch die Lias-Ölschiefer-Forschungsgesellschaft in Frommern bei Balingen.

Aufgewachsen ist Schweitzer in Ludwigsburg. Der Vater verstarb, als Schweitzer elf Jahre alt war. Die Mutter ermöglichte ihm, das Gymnasium zu besuchen, an der TH Stuttgart zu studieren und der Stuttgarter Burschenschaft Hilaritas beizutreten. Nach dem Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger wechselte Schweitzer als Diplomingenieur 1907 zum Chemiestudium nach Dresden, wo er Elektro- und physikalische Chemie bei Fritz Foerster (1866–1931), seinem wichtigsten Lehrer, Anorganische und Analytische Chemie bei Walther Hempel (1851–1916) und Allgemeine Elektrotechnik bei Hans Görges studierte. Schweitzer hörte nebenbei auch über „Dichter und Dichtung“ und „Wirtschaftspolitik und Parteien“, konzentrierte sich dann aber auf seine Promotion über das elektrochemische Verhaltens des Nickels. In Dresden begann seine lebenslange Freundschaft mit Georg Grube.

1910 erhielt Schweitzer eine attraktive Stelle in der Chemiefabrik von Fritz Hauff in Feuerbach, die moderne Labors besaß und gute Kontakte zur TH pflegte. Hauff beteiligte Schweitzer neben dem unabhängig in der Forschung tätigen Karl zu Löwenstein (1858–1928) an einem ehrgeizigen Projekt zur Herstellung von Stickstoffverbindungen unter Einsatz elektrischer Energie. 1911 reiste Foerster aus Dresden an, um die Versuchsanlage, einen kompakten Ofen, zu begutachten. Seine anerkennende Expertise, die großen Industrieunternehmen zugeleitet wurde, endet allerdings mit der Feststellung, dass die Anlage für die wirtschaftliche Verwertung noch nicht reif sei. 1912 meldete Hauff unter Schweitzers und seinem Namen das Verfahren als Patent in Deutschland, Österreich, Frankreich und England an. Der Krieg forcierte eher die Forschungsarbeit und steigerte den Wert des angestrebten Produkts.

Schweitzer wurde im August 1914 eingezogen, nahm als Leutnant der Landwehr I am Westfeldzug teil und war bis April 1916 in einer Stellung bei Thiepval, wo im Juli 1916 die britisch-französische Offensive an der Somme stattfand. Schon 1914 und 1915 hatte er wegen kriegswichtiger Forschungen Urlaub erhalten. Ab Frühjahr 1916 wurde er dann ganz freigestellt, begründet mit „Gewinnung von Stickstoff aus der Luft“ (HStA Stuttgart 430/3 Bü 10571). Die Arbeiten fanden in Räumen der Firma Hauff statt, setzten aber auch Instrumente des elektrochemischen Labors der TH ein. 1916 schrieb Grube, inzwischen dort Professor, ein weiteres Gutachten über das „Verfahren der Studiengesellschaft Prinz Karl zu Löwenstein und Dipl. Ing. Dr. Schweitzer“ (A des Dt. Museums München, FA 009/181) und empfahl es der Reichsregierung zur Förderung.

Während des Krieges trat das Thema „Posidonienschiefer“ in Schweitzers Blickfeld. Der Erdölspezialist Carl Engler aus Karlsruhe hatte im Auftrag des Reiches eine Untersuchung der württembergischen Ölschieferlager durch die TH Stuttgart veranlasst, was im Land auf offene Ohren stieß. Zusammen mit dem Mineralogen Adolf Sauer (1852–1932) nahm sich Grube der Sache an und veröffentlichte 1920 eine Expertise „Über den augenblicklichen Stand der technischen Verwertung des Posidonienschiefers“, worin er die einschlägigen Versuche in Gegenwart und Vergangenheit, auch die aktive Rolle von Fritz Hauffs Vater darstellt. Dass Schweitzer daran mitgewirkt hat, darf als sicher gelten. Die Frage nach der Wirtschaftlichkeit bewertete er aber zurückhaltend und sah technische Schwierigkeiten, die er bei Öl noch höher als bei der Gasgewinnung einschätzte.

Es scheint, dass Schweitzer schon damals neben seiner Arbeit als technischer Leiter bei der Firma Hauff mit der Entwicklung seines später patentierten Schwelverfahrens begann. 1932 verließ er das Unternehmen und zog mit seiner Familie nach Stuttgart, in fußläufige Entfernung zu Grubes Institut. Zwei Jahre freier Forschungsarbeit schlossen sich an. Auf Grubes Vorschlag hin, der seit 1932 die Zeitschrift der Gesellschaft herausgab, wurde Schweitzer 1934 die Geschäftsführung der Bunsen- Gesellschaft übertragen und die Geschäftsstelle von Hannover nach Stuttgart verlegt. Unter Hinweis auf Kontakte und regelmäßigen Austausch mit Chemikern in den USA, England und Frankreich gelang es Schweitzer, entgegen der allgemeinen Tendenz, eine gewisse Selbständigkeit zu wahren und den Ausschluss jüdischer Mitglieder zu verzögern. Die vom NS-„Bund der Deutschen Technik“ unter Fritz Todt geforderte Teilnahme an einer Schulung auf der Plassenburg bei Kulmbach in Franken kommentierte Schweitzer distanziert: das „freie Licht der Hochschulen“ ziehe er dem „polarisierten“ (Jaenicke, 1994, S. 111) der Plassenburg vor.

Unter den Vorzeichen von Rüstung und Autarkie wurde der schwäbische Ölschiefer auch auf Reichsebene interessant. 1937 erhielt Schweitzer vom württembergischen Oberbergamt den Auftrag, „im Rahmen des Vierjahresplans sich [da]mit […] zu beschäftigen“ (StA Sigmaringen Wü 120 T4 Nr. 607). Um sein Verfahren zu erproben, wurde im Frühjahr 1940 in Metzingen die „Lias“ Versuchsanlage errichtet, 1941 als Wehrmachtauftrag Nr. 4016–5453 weiterbetrieben und bald vergrößert. Zwei Erfindungen Schweitzers wurden patentiert: 1941, eingereicht durch die Metallgesellschaft AG Frankfurt, ein „Eiserner Schachtofen mit Rost zum Schwelen von ölhaltigen Stoffen wie Ölschiefer, Ölkreide, Asphaltgestein […] durch langsames Abbrennen von oben nach unten“ mit schwenkbarem oder absenkbarem Rost. Das Patent von 1942 galt einer „Anlage zur Verschwelung von Ölschiefern und anderen aschereichen Brennstoffen“ durch kippbare und ortsbewegliche Schwelöfen. 1941 hatte Schweitzer von der Direction de la Propriété Industrielle im besetzten Frankreich ein Brevet d’Invention erhalten, das die Wirtschaftlichkeit seines Verfahrens betont.

Angesichts bedrohlichen Treibstoffmangels gewann das württembergische Ölschieferprojekt neue Dimensionen. 1942 wurden drei Großversuchsanlagen am Westrand der Alb bei Balingen gegründet; Schweitzer wurde Geschäftsführer der Lias-Ölschieferforschungs-GmbH in Frommern. Obwohl vom Reich massiv bezuschusst, blieb die Lias in der Region verhaftet. Als der Bau der Anlage 1943 begann, reiste Schweitzer zweimal nach Estland. Dort hatte die Ölgewinnung aus Schiefer Tradition und war nach 1941 unter dem Stichwort „Baltöl“ von deutscher Seite ausgebaut worden. 1944 setzte mit dem Unternehmen „Wüste“ ein Notprogramm ein: das in Schömberg erprobte, relativ primitive Meilerverfahren sollte in zehn Werken in Betrieb gehen. Dafür errichtete die SS nun Konzentrationslager für rund 10 000 Häftlinge, von denen mehr als 3000 ihr Leben verloren. 1943/44 entstand in Frommern noch ein kleines, für 180 Personen berechnetes Lager. Dort fanden wenigstens keine Hinrichtungen statt und die Häftlinge wurden, wie Zeugen aussagten, „relativ gut behandelt“.

Nach dem Zusammenbruch wurden im Januar 1946 die Ölschieferwerke samt Rohrbach-Portlandzement von der französischen Besatzungsmacht beschlagnahmt und von Dotternhausen aus verwaltet. Im Lias-Werk waren die Gebäude zu etwa 80 Prozent, Maschinen aber nur zur Hälfte vorhanden. Die Franzosen maßen dem technisch anspruchsvollen Verfahren weiter Bedeutung bei. Der als Verwalter eingesetzte Chemiker Capitaine Couderc ordnete im Mai 1946 die Fortführung der Arbeiten am Schwelwerk an und ließ eine Raffinerie errichten. Er setzte verbliebene Finanzreserven ein, auch Gelder der übrigen Werke und Material der in Abwicklung befindlichen Wüste-Werke. Coudercs Handeln, der „kanadische Schieferölerfahrungen“ (Der Spiegel vom 14.7.1949) besaß, war sehr ambitioniert. Schweitzer, der nicht Mitglied der NSDAP war, wurde als Werksleiter weiterbeschäftigt. „Dr. Schweitzer n’est pas chargé au point de vue politique“ (StA Sigmaringen Wü 13 T2 Nr. 622/028), steht handschriftlich in seiner Akte zur politischen Säuberung. Im März und Dezember 1946 wurde er offiziell als „politisch nicht belastet“ eingestuft. Nahezu gleichzeitig wurde er aber von der Sûreté verhaftet und im Lager Balingen interniert. Seine Verfehlung bestand in seinem weitherzigen Umgang mit den Arbeitskräften aus dem Lager und seiner Weigerung, verbotene Verwandtenbesuche auf dem Werksgelände zu melden. Ähnliches hatte sich schon vor 1945 zugetragen. Damals hatte die SS kritisiert, dass er zu mild verfahren sei.

Nach dem Ende der französischen Zwangsverwaltung 1948 führten die Verantwortlichen im Finanzministerium Württemberg-Hohenzollern das Unternehmen weiter, inzwischen eine imposante Anlage, die 1947 feierlich eingeweiht worden war. Der Landtag in Tübingen genehmigte 1948 einen Kredit, auch mit Rücksicht auf die fast 400 Beschäftigten, darunter viele Flüchtlinge, und wegen der Verflechtung mit dem Unternehmen Portlandzement, das seine Produkte in der Raffinerie der Lias veredelte. Zunächst herrschte Optimismus, ein neues Konzept mit ganz anderen Produkten, beispielsweise Balingol, ähnlich der damals gängigen „Zugsalbe“ Ichthyol, wurde entwickelt.

Dies fand schon ohne Schweitzer statt, der 1948 wegen Forderungen aus seinem Anstellungs- und Lizenzvertrag im Streit mit der Landesvermögenskontrolle lag, wobei ihn Rechtsanwalt Eduard Leuze, der spätere baden-württembergische Wirtschaftsminister, vertrat. Nach einem außergerichtlichen Vergleich erhielt Schweitzer eine Abfindung von 9000 DM. Die Rechte an den Patenten und seinen ungeschützten Erfahrungen wurden der Lias zugesprochen, Schweitzer aber blieb Gesellschafter mit 20 Prozent des Stammkapitals, die er 1943 durch die Abtretung seiner Patente erworben hatte.

Inzwischen überwogen die kritischen Stimmen gegen das „Überbleibsel aus der autarken Kriegswirtschaft“ (StA Sigmaringen Wü 1 T 1 Nr. 30), zumal im Landtag; denn die Lias machte jährlich hohe Verluste. Bei der Gesellschafterversammlung im Mai 1949 sprach sich auch Schweitzer für die Stilllegung aus, die am 7. November 1949 eingeleitet wurde und mehrere Jahre lang dauerte.

1952 nahm Schweitzer auch räumlich Abschied und zog nach Freudenstadt, wo er zurückgezogen lebte. Kurz nach dem Umzug nach Baiersbronn ist er im 82. Lebensjahr gestorben. Nachrichten über seinen Tod stehen in der Zeitschrift der Bunsengesellschaft und in den Nachrichten aus Chemie und Technik neben denen seines Freundes Grube.

Quellen:

UA Dresden Nr. 10809, Studentenakte Schweitzer; HStA Stuttgart 430/3 Bü 10571, HeeresA Stuttgart PA; StA Sigmaringen Wü 120 T1 Nr. 126, Wü 120 T4 Nr. 607 Schiedsverfahren 1948, Wü 1 T1 Nr. 30, Landtag, Wü 2 T1 Nr. 1644 bis 1646, zu Lias-Ölschieferwerk, Wü 13 T2 Nr. 622/028, Spruchkammerakte Schweitzer; BA Koblenz B 126/10372, Silllegung der Lias-Ölschiefer-Forschungs- GmbH; A des Deutschen Museums München FA 009/181, FirmenA Mannesmann; PrivatA Dr.Ing. Jörg Schmalfeld, Bad Homburg, zur Geschichte der Lurgi, intus: Schweitzers Projektbeschreibung der Versuchsanlage Metzingen, Wehrmachtsauftrag 4016–5453 vom Februar 1942;. Deutsches Patent- und Markenamt München, Patente abrufbar unter Depatisnet; Auskünfte vom Februar 2019 des UA Stuttgart, des GemeindeA Baiersbronn und des Arbeitskreises „Wüste“, Balingen.

Werke: Beiträge zur Kenntnis des elektrochemischen Verhaltens des Nickels, Diss. ing.TH Dresden 1909.
Nachweis: Bildnachweise: nicht nachgewiesen.

Literatur:

Georg Grube, Die technische Verwertung des schwäbischen Posidonienschiefers und seine wirtschaftliche Bedeutung, in: Die Chemische Industrie, 1920, Nr. 40, 419–424; Zeitschrift für Elektrochemie und angewandte physikalische Chemie Bd. 70, 1966; Nachrichten aus Chemie und Technik 14, 1966, 419; Zur Geschichte der Lurgi-Gesellschaften, FS. für Alfred Petersen, 1953, 85 f.; Paul Schmalfeld, The use of the Lurgi-Ruhrgas Process for the distillatiion of oil shale, in: Colorado School of Mines Quarterly Reports, 1975, 133 zu Schweitzer, 135 zu Lurgi-Rohrbach; Walther Jaenicke, 100 Jahre Bunsen-Gesellschaft 1894–1994, 1994, 194 u.a.; Michael Grandt, Unternehmen „Wüste“ – Hitlers letzte Hoffnung. Das NS-Ölschieferprogramm auf der Schwäbischen Alb, 2002; Immo Opfermann, Die „Lias“: Ölschieferverschwelung und das KZ Frommern 1942–1949, in: Ölschieferwerk Frommern. Industriereportage 1947, Hg. Schwäbischer Albverein, SP Verlag Albstadt, 2002; Karin Scheu, Die ersten Schieferölfabriken bei Reutlingen. Ergebnisse einer Recherche für das Umweltbildungszentrum Listhof, Reutlingen, 2012; Helmut Maier, Chemiker im „Dritten Reich“, 2017, 166, 169, 172, 188, 213; Michael Walther, Schieferölprojekt und Unternehmen „Wüste“. Polykratisches Kompetenzchaos oder flexibles Netzwerk?, in: Zeitschrift für Hohenzollerische Geschichte, 2017/2018, 307.

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