Haag, Karl 

Geburtsdatum/-ort: 21.08.1860;  Schwenningen am Neckar
Sterbedatum/-ort: 02.05.1946;  Künzelsau
Beruf/Funktion:
  • Gymnasialprofessor und Mundartforscher
Kurzbiografie: 1870-1878 Realschule in Schwenningen, Oberrealschulen in Rottweil und Reutlingen, Abitur Reutlingen
1878 Beginn eines Architekturstudiums in Stuttgart
1881 Militärdienst in München
1882 Studium in Tübingen, Germanistik und Romanistik, unterbrochen durch Auslandsaufenthalt
1886 Promotion zum Dr. phil. in Tübingen; Dissertation zum Thema „Les Cent Nouvelles Nouvelles“ (altfranzösische Novellensammlung des 15. Jahrhunderts)
1887-1925 Höherer Schuldienst, zuletzt als Prof. am Friedrich-Eugens-Gymnasium Stuttgart
Weitere Angaben zur Person: Religion: ev.
Eltern: Vater: Christian Friedrich Haag (1824-1865), Reallehrer
Mutter: Agnes, geb. Müller (1827-1862)
Geschwister: 5
GND-ID: GND/118544020

Biografie: Rolf Mehne (Autor)
Aus: Württembergische Biographien 1 (2006), 95-97

Haags väterliche Ahnengruppe stammt aus fränkisch-hohenlohischem Gebiet, Künzelsau und Jagsthausen sind die wichtigsten Orte. Die Vorfahren der mütterlichen Seite stammen von der Baar, aus Trossingen und vor allem aus Schwenningen am Neckar. Haag hat Schwenningen immer als seine eigentliche Heimat betrachtet. Als er erst zweieinhalb Jahre alt ist, stirbt die Mutter, als er sechseinhalb ist, auch der Vater. Das Waisenkind wird von der Schwenninger Verwandtschaft aufgenommen, besucht Volks- und Realschule in Schwenningen und Rottweil und wechselt auf die Oberrealschule in Reutlingen, wo die Reifeprüfung abgelegt wird. Schon dort zeigt sich Haag gefesselt von den Sprachen. Er lernt neben der Schule Italienisch, aber auch bildende Kunst und Architektur ziehen ihn an. Weil er zunächst nicht Lehrer werden will, beginnt er ein Architekturstudium in Stuttgart, das er aber nach innerer Krise doch wieder verlässt, zu Gunsten seiner Neigung zu den Sprachwissenschaften. Er studiert Germanistik und Romanistik in Tübingen, unterbrochen durch den Militärdienst in München (1881), wo er nebenbei sowohl Russisch lernt als auch sich den bairischen Mundarten zuwendet.
Zurück in Tübingen arbeitet er an seiner Dissertation über die „Cent Nouvelles Nouvelles“. Zur Promotion wird er aber nicht zugelassen, wegen der „Altsprachenschranke“. Als ehemaligem Oberrealschüler fehlen ihm die entsprechenden Bescheinigungen. Wieder unterbricht er sein Studium, diesmal für einen Aufenthalt in London, wo er Englisch lernt und das Fach Französisch an einer Privatschule unterrichtet. Seine nächste Station ist Südfrankreich, wo er Lehrer der neueren Sprachen an einer bischöflichen Schule in oder bei Brignoles wird. Nebenbei unternimmt er, wie in seinem ganzen Leben, ausgedehnte Wanderungen, und hält vieles mit dem Zeichenstift fest. Auf diesen Streifzügen erforscht er auch die provenzalischen Dialekte und ihren Zusammenhang mit der Sprache der Troubadours. Er kommt zurück nach Tübingen zur altsprachlichen Prüfung und zum Doktorexamen 1886. Seit längerem lungenkrank, begibt sich Haag zur Wiederherstellung seiner Gesundheit nach Nizza, wo er auch wieder unterrichtet.
Bald kehrt er aber nach Stuttgart zurück, legt das Staatsexamen für das Höhere Lehramt ab und wird in den staatlichen Schuldienst übernommen (1887). Sechs Jahre tut er Dienst als „unständiger“ Lehrer und versieht ein „Wanderamt“, wie er es nennt, an verschiedenen Schulen, dann wird er als Professor an die Königliche Friedrich-Eugens-Oberrealschule berufen. Dort wird er bis zum Eintritt in den Ruhestand als hochgeschätzter Lehrer tätig sein. Zunächst aber ist ihm der Schuldienst beschwerlich. Er sucht Ausgleich durch Wanderungen und das Zeichnen, vor allem aber durch eingehende Sprachstudien. Lateinisch und Griechisch, Englisch, Französisch und Russisch hat er gelernt, jetzt wendet er sich dem Arabischen zu. Danach kommt Sanskrit und indogermanischer Sprachvergleich. In den Schulferien unternimmt Haag viele Reisen: nach Tirol, in die Niederlande, die Schweiz, nach Spanien und Italien mit eingehenden kunsthistorischen Studien in Rom; Sabiner, Etrusker, Volsker, Phönizier beschäftigen ihn. Später kommen Reisen nach Nordafrika und in die Türkei hinzu. Die jeweiligen Sprachen lernt er wenigstens insoweit, dass er Geschriebenes lesen und verstehen kann und die Prinzipien des Sprachbaus erfasst hat. Wo es sich machen läßt, forscht er auch nach den verschiedenen Mundarten. Daraus ergeben sich kleinere wissenschaftliche Veröffentlichungen, z. B. „Mundartstreifzug von der Isère zum Po“ (1905) oder, in späterer Zeit, „Die Sprachlandschaften Oberitaliens“ (1930).
Die Mundarten sind ein Leben lang Haags wichtigstes Arbeitsfeld, und auf diesen Arbeiten gründet auch seine fortdauernde wissenschaftliche Bedeutung. Haag hatte schon früh mit der Erforschung und Beschreibung des Lautstandes der Mundarten seiner Heimat begonnen, nämlich der Baarmundarten, also des damaligen Dorfes Schwenningen und seiner Umgebung. Die Belege dazu hatte er durch eigene Forschungen in etwa 400 Dörfern gewonnen. Sie waren zuverlässiger als die bisher in indirekter Methode bei Lehrern und Pfarrern erfragten. So gelang es ihm, die deutsche Mundartforschung zu Ende des 19. Jahrhunderts aus der Stagnation zu führen. Haag fand, dass die bisher beobachtete scheinbare „äußerste Regellosigkeit“ (Hermann Fischer) der Mundartgrenzen sich ordnen lässt, wenn man die einzelnen Grenzlinien gewichtet. Eine Grenze hat umso mehr Gewicht und ist auf einer Mundartkarte stärker einzutragen, je mehr Merkmale und Wörter, die diese Merkmale zeigen, in ihr zusammenfallen. So ergeben sich Sprachlandschaften, deren Entstehung entscheidend von den politischen Verkehrsschranken der Territorien des späten Mittelalters bestimmt ist. Nach diesen Territorien benannte er dann auch die einzelnen Sprachlandschaften. Diese Erkenntnis war der entscheidende Durchbruch in der deutschen Mundartgeographie. Später hat Haag das Feld seiner Mundartforschung auf ganz Württemberg erweitert und die Grenzen des Schwäbischen zu den alemannischen, fränkischen und bairischen Mundarten untersucht. Diese Forschungen sind zuletzt zusammenfassend in seinem Todesjahr 1946 veröffentlicht in „Die Grenzen des Schwäbischen Württemberg“.
Haags Arbeiten als Mundartforscher haben Anerkennung gefunden, und sie sind im wesentlichen noch heute gültig. Man darf aber nicht übersehen, dass sein Blick weit über Württemberg hinausreichte. Daraus ergab sich für ihn ein neues Arbeitsfeld. Auf der Grundlage seiner erwähnten Studien fremder Sprachen wandte er sich der Sprachphilosophie zu. Den Zusammenhang von Sprache und Denken zu erkennen, die Denkgesetze, die in der Sprache wirken, dem gilt schon früh sein besonderes Interesse. Auf diesem Gebiet veröffentlicht er eine Reihe von Arbeiten, z. B. „Sprachbauvergleich und Zehnsprachenschar. Russisch, Arabisch, Ungarisch, Türkisch, Japanisch, Chinesisch, Samoanisch, Bantu, Peruanisch, Mexikanisch (1935). Noch während des Zweiten Weltkriegs erscheint ein Aufsatz „Der Sprachdenkbau“ in: Wörter und Sachen 21-23 III/IV, 1940-44. Neben diesen Bemühungen hört auch die Beschäftigung mit der mittelalterlichen französischen und italienischen Dichtung nicht auf. Bei einem Besuch in der Heimat seines Vaters stirbt Haag plötzlich, in seinem 86. Lebensjahr. Er verdient im Gedächtnis des Landes weiterzuleben als bahnbrechender Mundartforscher, vielseitig sprachwissenschaftlich forschender und publizierender Gelehrter, hervorragender Lehrer am Gymnasium und nicht zuletzt als ein Mann, der seine Heimat liebte.
Quellen: Autobiographisches Manuskript „Ein Menschenleben in acht Verwandlungsbildern, von einem alten Lehrer“, StadtA Villingen-Schwenningen (Hg. Stadt Villingen-Schwenningen), o. J. veröff. 1982 (mit ausführlicher Bibliographie).
Werke: Die Mundarten des oberen Neckar- und Donaulandes (schwäbisch-alemannisches Grenzgebiet: Baarmundarten), 1898; 7 Sätze über Sprachbewegung, in: Zs. für hochdeutsche Mundarten 1 (1900); Über Mundartenschreibung, in: ebda. 2 (1901); Über Mundartgeographie, in: Alemannia 29 (1901); Verkehrs- und Schriftsprache auf dem Boden der örtlichen Mundart, in: Die Neueren Sprachen 9 (1901); Ein altfranzösisches Novellenbuch, 1903; Die Sprachlandschaften Württembergs und ihre Entstehung, in: Württemberg 1 (1929); Sprachwandel im Lichte der Mundartgrenzen, 1930; Dantes Göttliche Komödie in volkstümlicher Übertragung. Mit einer Einführung in die Welt des Dichters. Ein Buch für Forscher und Laien, 1932; Unser Mühen um Dante, in: Besondere Beilage des Staats-Anzeigers für Württemberg 3 (1932); Die alten Herrschaftsgebiete und die heutigen Mundarten, in: Aus Unterricht und Forschung 5 (1933); Das Denkgerüst der Sprache. Die Bestandteile des Denkens als die Grundlagen des Sprachbaus, 1935; Sprachbau als Denkordnung. Syntaktik und Logik, 1937; Der Ausdruck der Denkordnung im Deutschen. Mit Anhang: Allgemeine Sprachbaulehre in gebauter Begriffsschrift, 1942; Die Grenzen des Schwäbischen in Württemberg, 1946.

Literatur: Johannes Benzing, K. Haag (1860-1942), in: Zs. für deutsche Mundartforschung 20 (1951); Rolf Mehne, K. Haag (1860-1942), in: Zur Geschichte von Volkskunde und Mundartforschung in Württemberg. FS für Helmut Dölker. Reihe Volksleben Bd. 5, 1964; ders., K. Haag (1860-1942), ein Ahnherr der modernen Mundartwissenschaften, in: Almanach, Heimat Jb. Schwarzwald-Baar-Kreis, 9 (1985).
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