Georges Cuviers Wanderung über die Schwäbische Alb – Tag 1

Von Stuttgart nach Nürtingen

von Eva Rincke

Stiefel-Anpassung in Denkendorf, Zeichnung von Georges Cuvier, 1788
Stiefel-Anpassung in Denkendorf, Zeichnung von Georges Cuvier, 1788 [Quelle: Bibliothèque de l’Institut, Ms 3312: Papiers et correspondance du baron Georges Cuvier. Planches relatives à un voyage à pied fait dans les Alpes würtembergeoises du 20 au 28 avril 1788 par Cuvier, Copyright: ©Bibliothèque de l’Institut de France]

Zum Abschluss seiner Schulzeit auf der Hohen Carlsschule wanderte Georges Cuvier, der später in Paris Karriere als Naturforscher machte, mit zwei Mitschülern eine Woche lang über die Schwäbische Alb. Lesen Sie hier, wie es ihnen erging.

Am Morgen des 21. Aprils 1788 wollten sich Georges Cuvier, Christoph Friedrich Ihm und Ernst Franz Ludwig Freiherr Marschall von Bieberstein, drei Schüler der Hohen Carlsschule, in Stuttgart auf den Weg machen. Begleitet wurden sie von Carl Wilhelm Freiherr Marschall von Bieberstein, dem 23-jährigen älteren Bruder von Ernst, der in diesem Schuljahr als außerordentlicher Professor an der Hohen Carlsschule Römische Rechtsgeschichte unterrichtet hatte.

In der Akademie herrschte Aufbruchsstimmung: „ein jeder thut alles um bald aus seinen Banden zu kommen, und fürchtet nur einen Augenblick der Freyheit zu versäumen“, schrieb Cuvier im Reisebericht. „Kaum mochten wir die Höflichkeit des H. Obr. W. v. Wolf annehmen, der uns zur Chocolade einlud, weil er unsere Abreise um eine halbe Stunde aufhielt. Eine solche kindische Ungedult läßt sich nur durch 4 Jahre Gefangenschaft erklären.“[1]

Trotz der Verzögerung erreichten sie bereits um sieben Uhr den Bopser und sahen von dort auf „den ganz umnebelten Stuttgard“[2] herab. Wenig später klarte es auf: „Beym schönsten Wetter in der vortrefflichsten Kühle gingen wir im Wald einen Weg der uns nach Ruid führen sollte, zuerst waren Tannen und Forchen; dann kammen eine Menge Birken mit ihren mahlerisch herabhangenden Reisern.“[3]

Die Wanderer waren entzückt von der Ruhe und der Einsamkeit der Szenerie. Auf einem Acker entdeckten sie Lerchen und Rebhühner – und keine Menschenseele weit und breit.

„Die erste Menschenfigur, die wir sahen, meldete uns ein Unglück. Es war aber klein: von den eben beschriebenen Schönheiten distrahirt, hatten wir bey einer Wegs-Spaltung gerade den unrechten Weg genommen, und wären nach Hohenheim gekommen, wenn uns ein Frauenzimmer, das uns strickend entgegen kam, den Irrthum nicht angezeigt hätte.“[4]

Zurück auf dem richtigen Weg, öffnete sich der Blick auf das Neckartal. Jenseits des Tals erhob sich auf dem Rotenberg die Stammburg der Württemberger. König Wilhelm ließ diese mittelalterliche Burganlage 30 Jahre später abreißen und an der Stelle die Grabkapelle für seine verstorbene Frau, Katharina Pawlowna, errichten.

Nachdem sie die Dörfer Rohracker, Heumaden und Kemnat passiert hatten, machten die jungen Männer Pause in Ruit und stärkten sich bei einer Milch. Cuviers Eindruck von Ruit war gemischt: „Die Leute schienen uns wohlhabend, und waren sehr gefällig, ihre Häuser sind ziemlich artig gebaut und mit frommen Inschriften geziert, die Straßen aber und die Stuben sind ueberaus unreinlich.“[5]

In Ruit standen die jungen Männer dann vor einer echten Herausforderung: Christoph Friedrich Ihms Stiefel hatten sich als zu eng erwiesen und er wollte sie unbedingt ändern lassen, da seine Füße schmerzten. Der Schuhmacher, bei dem er die Stiefel bearbeiten ließ, enttäuschte Cuvier und Bieberstein, als er ihre neugierigen Fragen zum Dorf nur einsilbig beantwortete. Nur einige spärliche Informationen über das Jahreseinkommen des Pfarrers (1000 Gulden) und die meist vertretenen Berufe im Dorf (Maurer, Zimmerer und Weber) konnten sie ihm entlocken.

Etwa hundert Schritte nach der Stiefelreparatur fingen Ihms Füße schon wieder an zu schmerzen und die Wanderer versuchten nun ihre Stiefel untereinander zu tauschen, fanden aber keine Kombination, die für alle angenehm war. Schließlich gaben sie auf und wanderten schmerzenden Fußes weiter nach Nellingen, das ihnen „nicht so artig gebaut“ erschien wie Ruit. Auch die Umgebung enttäuschte: „vor dem Dorfe ist beständiger Ackerfeld und ein recht sehr langweiligter Weg“.[6]

Umso besser gefiel den jungen Männern Denkendorf – zumindest aus der Ferne: „Das schöne grüne Thal, das artige Flüßchen, die Romantische Stellung des Klosters seine schon ältliche Architectur und noch mehr die vorhergegangene Einöde, alles trug dazu bey, uns die Landschaft als ganz vortrefflich darzustellen.“ Das Innere der Klosterkirche überzeugte Cuvier dagegen weniger: „Die Klosterkirche hat ganz keine Schönheit; man findet darin mehrere Grabmäler der alten Pröbste, wo ihre Figuren ziemlich schlecht eingehauen sind, meistens haben sie keine Nase mehr. Die Gothischen Schriften an ihren Grabsteinen können nur mit Mühe gelesen werden, und haben nicht genug Interesse, diese Mühe zu verdienen.“[7]

In Denkendorf aßen die hungrigen Wanderer im Gasthof Lamm zu Mittag und versuchten in Rücksprache mit sämtlichen Schuhmachern am Ort das Stiefelproblem zu lösen. Am Ende beauftragte Christoph Friedrich Ihm einen Mann, aus Nürtingen ein Pferd für ihn zu holen, damit er den Rest des Weges reiten konnte.

Auf dem Weg von Denkendorf nach Köngen tat sich mit einem Mal eine herrliche Aussicht auf: „Die Berge die wir des Morgens in blauer Ferne sahen, waren genähert. Schon unterschied man Wald und Acker drauf. Grüne Hügel lagen zu ihren Füßen, und vor diesen im Thal zierten mehr als 20 Dörfern bey den Ufern des Neckars. Rechts erhöhete sich Neuffen stolz über die benachbarten flachen Berge, links war auf dem vordersten Plan das Dorf Köngen mit seinen weißen Häusern. Ein prächtiger Himmel, die ganz wolkenfreye Sonne, verschönerte noch das ganze. Voll Entzückens blieben wir einige Zeit unbeweglich und sahn.“[8]

In Köngen selbst betrachteten sie dann fasziniert die Überreste des Römerlagers, das Cuvier ausführlich beschrieb und von dem er auch eine Zeichnung anfertigte. Von dort aus stiegen sie hinab ins Neckartal und durchquerten „das ansehnliche Dorf“[9] Oberensingen. Auf Höhe von Oberboihingen entdeckten sie eine Mühle. Die ungewöhnliche Form der Mühlräder mit langen Brettern und kurzen Hebeln interessierte Cuvier. Nachdem sie auf einem engen, schwankenden Wehr den Neckar überquert und an einem Aussichtspunkt die von der untergehenden Sonne beschienenen Berge der Alb hinter Neuffen bewundert hatten, erreichten sie schließlich Nürtingen, das Ziel des ersten Tages.

In Nürtingen wurden die Wanderer von zwei Mitschülern der Hohen Carlsschule erwartet. Abends waren alle im Haus des Oberamtmanns eingeladen, der sie davor stolz durch Nürtingen führte: „Von der Seite wo wir ankamen presentirte sich der Spital, der ein ansehnliches Gebäude ist und einen recht guten Effect macht, auch sind um die Stadt schöne Linden-Alleen. Das Thor ist mit Geschmack und Fresco gemahlt. Die Straßen sind breit, gerade und gut gepflastert, nur ist schade, das sie sehr uneben sind.“[10] Eindruck machten auch die drei städtischen Mühlen. Im Haus des Oberamtmanns mussten die hungrigen Wanderer ein längeres Konzert der Hausherrin über sich ergehen lassen, bevor sie ein Abendessen bekamen und schließlich um Mitternacht vom gesamten Haushalt zu ihrem Hotel geleitet wurden.

Damit endet der Bericht über den ersten Tag der Reise. Wie es weiterging, erzählen wir im nächsten Beitrag: Georges Cuviers Wanderung über die Schwäbische Alb – Tag 2.

Wer Lust bekommen hat, sich auf die Spuren der Wanderer zu begeben, findet hier weitere Informationen:

Anmerkungen

[1] Reise, S. 309f. Alle Zitate wurden ohne redaktionelle Eingriffe aus der Transkription von Cuviers Reisebericht im Artikel Georges Cuviers „Reise auf die Württembergische Alb“ – ein zeit- und wissenschaftsgeschichtliches Dokument übernommen.
[2] Reise, S. 310
[3] Reise, S. 311
[4] Reise, S. 311
[5] Reise, S. 312
[6] Reise, S. 312
[7] Reise, S. 313
[8] Reise, S.314
[9] Reise, S.314
[10] Reise, S. 314

Hinweis zum lateinischen Zitat auf der Zeichnung: Das handschriftliche Zitat lautet „Direptis stat crura cothurnis“. Dies ist eine Anlehnung an den römischen Dichter Vergil, der in den Georgica, Buch II in Vers 7 und 8 schreibt: „huc, pater o Lenaee, veni, nudataque musto/ tingue novo mecum dereptis crura cothurnis“ – zu Deutsch: „komm hierher, Vater Lenaeus, streife die hohen Schuhe ab und färbe mit mir die nackten Füße im jungen Most!“ (Übersetzung: Otto Schönberger, in: Vergil, Georgica. Vom Landbau, Stuttgart 1994)

Literatur

  • Wörz, Arno/Oettler, Gitta/Engelhardt, Martin, Georges Cuviers „Reise auf die Württembergische Alb“ – ein zeit- und wissenschaftsgeschichtliches Dokument, in: Jahreshefte der Gesellschaft für Naturkunde in Württemberg 165/1 (2009), S. 301-336.
  • Taquet, Philippe, Les premiers pas d'un naturaliste sur les sentiers du Wurtemberg: récit inédit d'un jeune étudiant nommé Georges Cuvier, in: Geodiversitas 20 (2), S. 285-318.

 

Zitierhinweis: Eva Rincke, Georges Cuviers Wanderung über die Schwäbische Alb – Tag 1, in: Reisebeschreibungen, URL: […], Stand: 17.04.2024