Ein Blick zurück

von Leonid Bychovski

Ich möchte gerne meine Erinnerungen mit anderen teilen, vor allem die über die Zeit der alten Jüdischen Gemeinde, also der, die in Heidelberg vor der „großen Ankunft“, vor dem Umzug ins neue Gebäude im Jahre 1994, existierte.

Ich erinnere auch deswegen daran, weil viele damalige Mitglieder der Gemeinde heute leider nicht mehr unter uns weilen.

Wir kamen nach Deutschland im Jahre 1992. Damals befand sich die Jüdische Gemeinde, wie allgemein bekannt, im Darmstädter Hof Centrum in einer einfachen 4-Zimmer-Wohnung. Der Gebetssaal war während des Freitags- und des Samstagsgebets für gewöhnlich voll. Dieser Saal war nicht allzu groß, die Menschen saßen dicht beieinander, was die Atmosphäre der Nähe zueinander und sogar einer Art Verwandtschaft unterstrich, jedenfalls schien es mir so. Es gab sehr viele ältere Menschen unter den Mitgliedern, deren Gesamtzahl die 100 jedoch nicht überstieg. Eine Anmerkung am Rande: Unter ihnen gab es keinen einzigen deutschen „Vorkriegs-Juden“.

Wir, die Neuankömmlinge, wurden auf unterschiedliche Art und Weise empfangen. Einige waren tatsächlich froh über die Stärkung der Mitglieder reihen und bemühten sich, uns, die wir gerade erste Schritte in einer uns noch fremden Umgebung machten, dort zu helfen, wo es ihnen möglich war. An dieser Stelle möchte ich die Gelegenheit ergreifen, diese Menschen auch namentlich zu nennen und ihnen meinen (unseren) Dank für ihre Anteilnahme auszudrücken - für ihre Hilfe „in Wort und Tat“, die sie leisteten, obwohl ihnen die Menschen, denen sie halfen, praktisch unbekannt waren, und trotz beidseitiger Schwierigkeiten bei der Kontaktaufnahme, vor allem wegen der vorhandenen Sprachbarrieren. Ich bin sicher, dass viele andere diesen Worten der Dankbarkeit zustimmen werden.

Rosa und Schimschon Friedman (die bereits verstorbenen), die zu den wenigen „Ortsansässigen“ gehörten, die der russischen Sprache mächtig waren, wurden nicht müde, unsere Fragen zu beantworten, erklärten uns geduldig die eine oder andere Begebenheit, gaben uns sinnvolle Ratschläge und ließen uns an ihrer für uns äußerst wertvollen Erfahrung teilhaben.

Ich erinnere mich daran, dass sie immer von Menschen umgeben waren. Martina und Hans Beels hatten ebenfalls immer ein offenes Ohr für uns und halfen stets den Neuankömmlingen. Martina verbrachte viele Stunden im Wohnheim für jüdische Emigranten; sie wurde von einem Zimmer ins nächste eingeladen, und alle hatten Fragen oder Bitten an sie ... Sie war verantwortlich für die Küche, und alle, die nach dem Gebet zum Kiddusch kamen, erwartete ein wahrhaft herzlicher Empfang.

Eine unschätzbare Hilfe für die Kinder, die das Alter erreicht hatten, in dem sie aufs Gymnasium gehen sollten, leistete Mila Zederbaum. Es war üblich, dass die Kinder beinahe schon in speziellen Klassen für ausländische Kinder unterrichtet werden mussten, in denen in der Regel Kinder von 6 bis 12 Jahren zusammen unterrichtet wurden. Mila hatte ihre liebe Mühe damit, bei jedem einzelnen Kind den jeweiligen Rektor davon zu überzeugen, dass das Kind begabt genug sei, um eine Ausnahme zu gestatten. Irgendwie klappte dies immer, sodass heute fast alle ihrer damaligen „Protegés“ zu erfolgreichen Hochschulabsolventen wurden.

Sharon Levinson hat viel Zeit für unser Kontingent geopfert, war oft im Wohnheim; es war ohne weiteres möglich, sie zu Hause zu besuchen mit der Bitte, bestimmte Dokumente zu erklären, einen Antrag zu schreiben, sich an eine Behörde zu wenden und so weiter ... Sie besuchte ältere Menschen, die im Krankenhaus lagen, und hat uns allen noch viele andere, wahrlich unschätzbare Dienste erwiesen.

Neben den hier aufgezählten Menschen gab es natürlich noch andere, die den neuen Gemeindemitgliedern mit Wohlwollen begegneten und sich bemühten, die Neuankömmlinge mit Rat und Tat zu unterstützen. Es gab jedoch auch solche, die der Meinung waren, dass unsere Übersiedlung nach Deutschland nicht der richtige Schritt gewesen sei, dass wir stattdessen lieber nach Israel hätten fahren sollen, oder dass wir gar keine „richtigen“ Juden seien. Ich erinnere mich an einen älteren Mann, der selbst aus Ungarn nach Deutschland gekommen war und daher genau wusste, was „damals“ in der UdSSR geschah, sich aber dennoch einen Kommentar nicht verkneifen konnte: „Ihr hättet dort für Ordnung sorgen sollen, anstatt hierher zu kommen.“ So etwas von jemandem zu hören, der selbst unter Antisemitismus gelitten haben muss, empfand man als seltsam, wenn nicht gar zynisch.

Zwei Begebenheiten, die beide mit dem Bau des neuen Gebäudes für die Jüdische Gemeinde zusammenhingen, blieben mir besonders klar in Erinnerung. Zum einen das Fest zur Grundsteinlegung, zum anderen der feierliche Zug bei der Einbringung der Torarollen ins neue Gebäude. Ersteres war ein wichtiges, stadtweit aufsehenerregendes Ereignis, an dem Vertreter der Stadtverwaltung sowie zahlreicher religiöser und öffentlicher Einrichtungen teilnahmen. Es gab viele Glückwünsche; im ersten Stein wurde eine Kapsel eingelagert, in der sich eine Erklärung an künftige Generationen befand, ebenso wie eine Reihe wichtiger (Zeit-)Dokumente, darunter eine aktuelle Ausgabe der Stadtzeitung.

Das zweite Ereignis, die Überbringung der Torarollen, galt als Einweihung des neuen Synagogengebäudes, also als dessen Nutzbarmachung als Gebetsraum, und lockte ebenfalls viele Zuschauer herbei: Unter der Chuppa, einer Art Baldachin, wurden die Torarollen, von Gebetsgesängen begleitet, feierlich ins neue Gebäude überbracht.

Noch eine weitere Feier in Verbindung mit dem neuen Gemeindezentrum brannte sich mir für mein ganzes Leben ins Gedächtnis ein: Es war die erste Bar Mizwa-Feier, die in der neu errichteten Synagoge stattfand - die Bar Mizwa meines Sohnes Artjom (Aaron). [1]

Anmerkungen

[1] Dieser Text entstand im Jahr 2019 für die Publikation „25 Jahre. Neue Synagoge mit Gemeindezentrum Heidelberg“, herausgegeben von der Jüdischen Kultusgemeinde Heidelberg.

Zitierhinweis: Leonid Bychovski, Ein Blick zurück, in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 20.02.2023.

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