Vor fünfundzwanzig Jahren und heute

von Jona (Janusz) Pawelczyk-Kissin, Gemeinderabbiner, Rabbiner der Stadt Heidelberg und des Rhein-Neckar-Kreises

In ihrem Buch „Ein Rundgang durch das jüdische Heidelberg“ beschreibt Miriam Magall seligen Angedenkens, langjähriges Vorstandsmitglied unserer Gemeinde, den feierlichen Umzug mit den Torarollen durch die Straßen Heidelbergs sowie die Einweihung der neuen Heidelberger Synagoge vor fünfzehn Jahren mit bewegenden Worten. So beginnt mein kleiner Beitrag für das Büchlein zum fünfzehnten Jubiläum der neuen Synagoge mit Gemeindezentrum.

Inzwischen sind weitere zehn Jahre vergangen, und hinter den Namen Miriam Magall musste ich leider die Worte „seligen Angedenkens“ hinzufügen. Ich zitiere nun weiter aus meinem damaligen Beitrag und passe ihn an die aktuelle Situation an.

Dass es unmittelbar nach der Einweihung in der Gemeinde turbulent zugehen sollte, hatten manche sicherlich vorausgeahnt. Ein Streit, nicht nur um die Sitzordnung, sondern auch um die Gestaltung des Gottesdienstes in der neuen Synagoge - orthodox oder liberal - hielt die Gemeindemitglieder lange in Atem. Es dauerte rund ein Jahr, bis alles vorbei war. Bis dahin betete man - die „Liberalen“ und die „Orthodoxen“ - mal abwechselnd in der Hauptsynagoge und in dem provisorisch im sogenannten „kleinen Kidduschraum“ („Unterrichtsraum“) eingerichteten winzigen Betraum, mal trafen sich die traditionell ausgerichteten Gemeindemitglieder zu den Schabbatgebeten in einem Raum in der Hochschule für Jüdische Studien, den der damalige Rektor der HfJS, Prof. Dr. Julius Carlebach seligen Angedenkens, dafür einrichten ließ.

Seit dem Jahr 1995 etwa ist die Jüdische Kultusgemeinde Heidelberg wieder eine orthodox (das heißt im Einklang mit der jüdischen Tradition im Sinne der Einhaltung der überlieferten Gebote des Judentums) geführte jüdische Gemeinde. Die religiösen Leiter beziehungsweise Rabbiner sind seither allesamt orthodox gewesen, wenn auch unterschiedlicher Ausrichtung. So verkörperte Rabbiner Mosche Schlesinger das typisch israelische orthodoxe Judentum, sein Nachfolger Rabbiner Jakov Ebert in gewisser Weise auch, jedoch mit einem stärkeren Bezug zu Deutschland dank seiner langjährigen Erfahrung hier zulande. Unter der Leitung von R. Kalev Krelin aus Russland entstand in Heidelberg sogar eine russisch geprägte Toraschule, deren komplizierte Koexistenz mit der Gemeinde allerdings beinahe zu einer Spaltung unter den traditionell geprägten Gemeindemitgliedern geführt hätte.

An diese Zeit kann ich mich recht gut erinnern, da ich die Gemeinde seit dem Beginn meiner Studienzeit an der Ruperto Carola und an der Hochschule für Jüdische Studien 1990 kenne. Ich war von Anfang an in der Gemeinde in verschiedenen Bereichen tätig, etwa im Jugendzentrum, später auch viele Jahre als ehrenamtlicher Gabbaj und Kantor. Hier habe ich auch meine aus Moskau stammende Frau Irina kennengelernt, die Anfang 1992 mit ihren Eltern als Kontingentflüchtling nach Deutschland kam. Sie hat dann, ebenfalls an der Universität Heidelberg, ihren Magisterabschluss in Literaturwissenschaft und Geschichte gemacht. Die Beschneidung unseres Sohnes im November 1994 war übrigens die erste Beschneidung in der neuen Heidelberger Synagoge.

Unter meiner religiösen Leitung - und das nunmehr seit dreizehn Jahren — wird die Gemeinde im Sinne eines aufgeschlossenen gesetzestreuen Judentums geleitet.

Als Mitglied der Conference of European Rabbis (CER) und der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD) leite ich die Gemeinde selbstverständlich nach den Regeln der Halacha, des jüdischen Gesetzes.

In der Zeit seit meinem Amtsantritt habe ich mich unter anderem sehr dafür eingesetzt, dass in unserer Synagoge im liturgischen Bereich anstelle einer gewissen Beliebigkeit ein einheitlicher und fester Ritus etabliert wird. Es war mir vor allem auch ein wichtiges Anliegen, den westaschkenasischen Ritus bei uns wiedereinzuführen (den sogenannten „Nussach Frankfurt“), den es hier vor dem Zweiten Weltkrieg gab. Das hat, glaube ich, mit Gottes Hilfe ganz gut geklappt.

Die JKG Heidelberg besitzt in religiöser Hinsicht eine Besonderheit im Vergleich zu den meisten jüdischen Gemeinden in Deutschland von vergleichbarer Größe (gegenwärtig etwas mehr als 400 Mitglieder): Der Anteil an traditionell lebenden Familien und Einzelpersonen ist bei uns außergewöhnlich hoch, was unter anderem zur Folge hat, dass unsere Mikwe gut besucht ist, oder dass wir am Schabbes nicht nur am Freitagabend und Schabbesmorgen Gottesdienste haben, sondern auch, wenn auch nicht jede Woche, einen Minchagottesdienst. Für ein Wochentagsminjan reicht es jedoch noch nicht. Schauen wir, was die Zukunft bringt.

Neben den Aktivitäten unseres Jugendzentrums — wie die Vorbereitung von Aufführungen sowie von verschiedenen Programmen zu den Feiertagen beziehungsweise dem Kinder- und Jugendschabbat - gibt es bei uns eine qualifizierte Kinderbetreuung für die Kleinsten sowie eine lockere Lerngruppe zum jeweiligen Wochenabschnitt für die größeren Kinder. Was den regulären Religionsunterricht betrifft, so haben wir für die Grundschulkinder unter der Woche zwei Gruppen, die von Frau Elina Becher, Absolventin der Hochschule für Jüdische Studien, unterrichtet werden. Der Religionsunterricht für die weiterführenden Schulen findet bei mir am Kurfürst-Friedrich-Gymnasium statt und wird von etwa 25 Schülerinnen und Schülern besucht.

Nach wie vor stellt die Hochschule für Jüdische Studien eine nicht zu unterschätzende Bereicherung unseres Gemeindelebens dar - viele unserer regelmäßigen Gottesdienstbesucher sind Dozenten oder Studenten der HfJS. Unsere Gemeinde ist im Leben der Stadt nach wie vor recht präsent, es gibt immer wieder verschiedene gemeinsame Projekte. Erwähnenswert sind auch die vielen Führungen, vor allem für Schulklassen, die in unserer Synagoge stattfinden – sie sind ein wichtiger Beitrag zum Verständnis unserer Religion und Kultur.

In diesem Zusammenhang sollte auch der Interreligiöse Dialog der Stadt Heidelberg hervorgehoben werden, an dem unsere Gemeinde sich seit ihrer Gründung aktiv beteiligt.

Es braucht nicht erwähnt zu werden, dass wir selbstverständlich auch Eheschließungen, Beschneidungen sowie Bar- und Bat-Mizwa-Feiern haben. Und leider müssen wir uns auch hin und wieder von einem Gemeindemitglied für immer verabschieden - mögen sie alle in Frieden ruhen, vejonuchu alMischkowom beScholoum.

Zum Schluss möchte ich an unsere Gemeinde zwei Wünsche richten:

Mein erster Wunsch: Möge in unserer Gemeinde der warmherzige Umgang miteinander und die angenehme Atmosphäre der letzten zehn Jahre weiterhin vorherrschen, und die wenigen unvermeidlichen Konflikte, die bei uns ausgetragen werden, sollen allesamt leSchejm Schomajim sein, also ein höheres Ziel haben. Als jüdische Gemeinde müssen wir uns immer dessen bewusst sein, dass die Pflege unserer Tradition, des Erbes unserer Vorfahren, für das Überleben unserer Gemeinschaft von größter Bedeutung ist. Die Weitergabe unserer Werte an die Generation, die nach uns kommt, muss daher unser gemeinsames Anliegen sein.

Und der zweite Wunsch: Ich wünsche uns allen, dass wir in zehn Jahren alle und bei bester Gesundheit das 35-jährige Bestehen unserer Synagoge feiern können. [1]

Anmerkungen

[1] Dieser Text entstand im Jahr 2019 für die Publikation „25 Jahre. Neue Synagoge mit Gemeindezentrum Heidelberg“, herausgegeben von der Jüdischen Kultusgemeinde Heidelberg.

Zitierhinweis: Jona Pawelczyk-Kissin, Vor fünfundzwanzig Jahren und heute, in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 20.02.2023.

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