Maßnahme gegen antijüdische Hetze und Verschwörungstheorien?

Die Absetzung des Adelberger Abts Lucas Osiander d. Ä. im Jahr 1598

von Johannes Renz

Lucas Osiander d. A. (1534–1604). Vorlage: Landesarchiv BW, HStAS Q 3/36b Bu 2348. Zum Vergrößern bitte klicken.
Lucas Osiander d. A. (1534–1604). [Quelle: Landesarchiv BW, HStAS Q 3/36b Bu 2348].

Die Einführung der Reformation (1534) und der durch den Augsburger Religionsfrieden (1555) begünstigte Aufbau einer Evangelischen Landeskirche läutete im Herzogtum Württemberg einen starken gesellschaftlichen Wandel ein. Die Herzöge Christoph (1550–1568) und Ludwig (1568–1593) förderten die Etablierung einer lutherischen Orthodoxie, die auch das Alltagsleben der Bevölkerung prägen sollte. Theologen wie Johannes Brenz, Erhard und Dietrich Schnepf, Matthäus Alber, Johann Andreae, Felix Bidembach d. Ä. oder Lucas Osiander d. Ä. (1534–1604) hatten in Württemberg nicht nur wichtige geistliche Ämter inne, sondern übten auch politischen Einfluss aus.

Osiander war bereits mit 24 Jahren Superintendent in Blaubeuren und später Pfarrer an der Stuttgarter Leonhardskirche. Zudem tat er sich als Bibelkommentator und Kirchenmusiker hervor. Auch das erste württembergische Kirchengesangbuch von 1583, dem 100. Geburtsjahr Martin Luthers, ging auf seine Initiative zurück. Im Jahr 1596 wurde er schließlich zum lutherischen Abt des Klosters Adelberg ernannt.

Zu diesem Zeitpunkt regierte mit Friedrich I. (1593–1608) bereits wieder ein neuer Herzog, der aus der Mömpelgarder Seitenlinie des Hauses Württemberg stammte. Seine Politik war für die damalige Zeit von deutlich größerer Weltoffenheit geprägt als die seiner beiden Vorgänger. Er ging nicht nur als Anhänger der Alchemie, sondern auch als Repräsentant des frühen Merkantilismus, einer neuen Wirtschaftsform, die das heraufziehende 17. Jahrhundert prägen sollte, in die Geschichte ein. So versuchte er auch, einige geschäftstüchtige Juden in Stuttgart anzusiedeln, wovon er sich einen Wirtschaftsaufschwung erhoffte. Mit der jüdischen Handelsniederlassung von Maggino Gabrielli schloss er 1598 einen Vertrag ab. Bereits im Jahr zuvor war der aus Mantua stammende jüdische Ingenieur Abramo Colorni als Alchemist in herzogliche Dienste getreten.

Dies traf nicht nur auf den Widerstand von Bürgermeister, Rat und Gericht zu Stuttgart oder der Landstände, sondern auch namhafter Theologen. Die antijüdischen Pamphlete aus Martin Luthers letzten Lebensjahren scheinen bei ihnen eine besonders nachdrückliche Wirkung gehabt zu haben. Das Vorhaben des Herzogs wurde wohl auch von der Kanzel herab mehrfach kritisiert, sodass dieser nicht wenig verdrossen reagierte, auch wenn er betonte, ihm ginge es nicht um die Ansiedlung von Juden im Allgemeinen, sondern um einige geschäftstüchtige jüdische Kaufleute. Der streng orthodoxe Lutheraner Lucas Osiander teilte besonders heftig gegen die Juden aus: In einem Schreiben an den Herzog war unter anderem zu lesen: Die Juden sind abgesagte Feind unsers Herrn und Hailands Jesu Christi: den selbigen lestern sie haimlich (wie ettliche bekhert unnd getauffte Juden, in offentlichem Truck von inen schreiben) und bilden iren Weibern und Kindt ein, unser Herr Jesus von Nazareth sey ein Hurnkind, von Maria in Hurerey empfangen. […] Die Wunderwerck hab Christus gethan durch Zauberey und sei billich umb seiner bösen Stuck willen ans Creutz gehenckt worden. An anderer Stelle zitierte er aus Luthers judenfeindlichen Schriften und griff etwa auch den plötzlichen Tod des brandenburgischen Kurfürsten Joachim Hector im Jahr 1571 auf, in dessen Folge der Jude Lippold ben Chluchim wegen angeblichen Giftmords hingerichtet und ein Judenpogrom vom Zaun gebrochen wurde. Da passte der in herzoglicher Gunst stehende jüdische Alchemist natürlich gut ins vorgefertigte Bild.

Der Herzog versuchte sich umgehend von Osianders Hetzschreiben zu distanzieren, und dieser musste sich vor einer Kommission, bestehend aus Landhofmeister Christoph von Degenfeld und dem herzoglichen Rat Matheus Entzlin, verantworten. Da er bei seinen Überzeugungen blieb, verlor er im April 1598 seine Stellung als Adelberger Abt. Er wirkte noch kurz in der Reichsstadt Esslingen und starb im Jahr 1604 in Stuttgart.

Die Absetzung Osianders ist sicher nicht als herzoglicher Gunsterweis für die Juden oder als Maßnahme gegen antijüdische Hetze an sich anzusehen. Vermutlich waren Herzog Friedrich I. die Verschwörungstheorien Osianders vor allem deshalb zuwider, weil sie seiner Wirtschaftspolitik nicht zupasskamen. Württemberg hatte schon Ende des 15. Jahrhunderts die Juden vertrieben und Herzog Christoph sich für eine Judenvertreibung aus dem gesamten Reich eingesetzt. Im Gegensatz zu Osiander wurden die anderen Kritiker der herzoglichen Wirtschaftspolitik, die sich zurückhaltender, aber auch eindeutig antijüdisch geäußert hatten, überdies nicht mit Sanktionen belegt. Es wurde also nur der lauteste von mehreren Schreiern kaltgestellt. Das Amt des Abts von Adelberg blieb zudem in der Familie – Nachfolger wurde sein Sohn Andreas.

Lucas Osiander hat sich, wie weiter oben ausgeführt, zweifellos Verdienste am Aufbau der württembergischen Landeskirche erworben und steht daher zu Recht in der Reihe der wichtigen württembergischen Reformatoren. Auf der anderen Seite eiferte er dem späten Luther in seinem Antijudaismus nach, womit er in seiner Zeit nicht alleine stand. Die Reduzierung auf einen Hassprediger greift also zu kurz.

Auch für den pragmatisch-opportunistischen Herzog war der Fortgang der Ereignisse kein Ruhmesblatt: Gabrielli und Genossen verließen Württemberg wegen aufkommender antijüdischer Unruhen noch im gleichen Jahr. Colorni fiel beim Herzog zunehmend in Ungnade, konnte aber noch rechtzeitig nach Italien fliehen und starb 1599 in Mantua.

Dieser Artikel wurde ursprünglich in den Archivnachrichten 62 (2021), Seite 18–19 veröffentlicht.

Zitierhinweis: Johannes Renz, Maßnahme gegen antijüdische Hetze und Verschwörungstheorien?, in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 20.02.2023.

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