Nur Einnahmequelle?
Zur Aufnahme von Juden in Wankheim 1774 durch den Freiherren Friedrich Daniel von Saint André
von Wilfried Setzler
Im Sommer 1774 gewährte Freiherr Friedrich Daniel von Saint André (1700–1775) erstmals vier namentlich genannten Juden, zwei Familienvätern und zwei Junggesellen, in seinem zwischen Tübingen und Reutlingen gelegenen Dorf Wankheim Aufenthalt und Schutz. Damit war der Grundstein gelegt hin zur Entwicklung einer neuen jüdischen Gemeinde, die, nachdem das Dorf 1805 an Württemberg gekommen war, sich rasch vergrößerte und in der Mitte des 19. Jahrhunderts über 100 Menschen, gut 15 Prozent der Einwohner, umfasste.
Urkunden und Akten im Schlossarchiv in Kilchberg sowie im Gemeindearchiv Wankheim bieten ein anschauliches und detailreiches Bild vom Gründungsvorgang sowie den Problemen der ersten Jahre. Archivalien im Hauptstaatsarchiv in Stuttgart ergänzen das eine oder andere, machen beispielsweise deutlich, warum die beiden ledigen Judenburschen ihre Schutzbriefe schon nach wenigen Monaten wieder zurückgaben.
Merkwürdigerweise herrschen trotz der recht guten Quellenlage in der Sekundärliteratur eher Unsicherheit und Unklarheit, was die Anfänge angeht. Mal wird unpräzise als Beginn der jüdischen Besiedlung die Zeit um 1775 genannt, mal wird von vier oder fünf Familien gesprochen, die schon 1774 ein Friedhofsgelände gepachtet hätten. Eine Magisterarbeit setzt den Beginn ins Jahr 1776. Einig ist sich die jüngere Literatur lediglich in der Frage nach den Motiven des Freiherren von Saint André. Ihm sei das Geld der Juden eine willkommene zusätzliche Einnahmequelle gewesen, er habe die wirtschaftlichen Vorteile im Blick gehabt und relativ hohe Schutzgeldzahlungen gefordert. Ähnliches hört man auch auf Führungen durch den jüdischen Friedhof in Wankheim.
Eine Begründung für diese Aussagen wird nicht geboten. Sie decken sich allerdings mit der allgemein verbreiteten Beurteilung der Ansiedlung von Schutzjuden im 18. Jahrhundert durch adlige Herren. In seinem Klassiker zur den Judendörfern in Württemberg kommentiert Utz Jeggle beispielsweise, solche Zulassungen seien wegen der handfesten materiellen Vorteile für die adligen Schutzherren erfolgt und in der Ausstellung zur Geschichte der Juden in der Synagoge Haigerloch kann man lesen: Sie nahmen die Juden nicht aus Nächstenliebe auf, vielmehr war das jährlich zu entrichtende ‚Schutzgeld‘ für die kleinen Territorien eine bedeutende Einnahmequelle.
Dass dies für Wankheim vielleicht doch nicht so ausschließlich zutrifft, hat bislang lediglich Wilhelm Böhringer, Autor des Findbuchs zum Gemeindearchiv Wankheim, in einem 1974 erschienenen Aufsatz vermutet: die Gründe, die den Freiherren dazu bewogen haben, dürften wohl kaum materieller Art gewesen sein.
Tatsächlich ist mit einem Blick auf die historischen Quellen die Frage nach dem Motiv des Barons nicht so eindeutig zu beantworten, wie die nach den Vorgängen. Gleichwohl darf man bezweifeln, dass sich der Freiherr, langjähriger kaiserlicher General, Erbauer des Schlosses Kressbach, vom Schutzgeld eine nennenswerte Aufbesserung seiner Kasse erhoffte, zumal die zwölf Gulden jährliche Gebühr an der unteren Grenze des damals Üblichen lagen. Möglicherweise ging es ihm weniger um die Bereicherung der privaten Schatulle als vielmehr um eine nachhaltige Verbesserung der wirtschaftlichen Situation in seiner Herrschaft.
Zur Klärung dieser Frage könnte ein Blick auf den gesamten Herrschaftsbereich der Freiherren von Saint André beitragen. Völlig unbeachtet blieb in der Forschung zu Wankheim bislang, dass der Familie damals auch 7/12 des zwischen Pforzheim und Karlsruhe gelegenen Dorfes Königsbach gehörten und dass in diesem Ort – 5/12 besaßen die Markgrafen von Baden – seit Jahrzehnten zwei jüdische Gemeinden ansässig waren: eine unter dem Schutz der Freiherren und eine unter dem der Markgrafen. Die dortigen Verhältnisse dürften, zumal das Schloss in Königsbach den eigentlichen Familienmittelpunkt der Saint Andrés bildete, eine Rolle bei der Ansiedlung in Wankheim gespielt, diese ausgelöst, zumindest beeinflusst haben.
Unbenutzt und ausgewertet ist bis heute auch, was Wankheim anbelangt, das Königsbacher Archiv der Freiherren von Saint André, das 1953 an das Generallandesarchiv in Karlsruhe kam. In ihm befinden sich auch der schriftliche Nachlass samt den Handakten des Generalfeldzeugmeisters Friedrich Daniel von Saint André sowie allgemeine Akten zu Wankheim.
Doch auch ungeachtet der dortigen Archivalien lässt sich mit Sicherheit sagen, dass neben möglichen wirtschaftlichen Interessen auch andere Überlegungen bei der Ansiedlung von Juden in Wankheim im Spiel waren. Dies belegt eindeutig ein Dekret von 1781 (Archiv der Freiherren von Saint André in Kilchberg), das sich an Christen und Juden in Wankheim gleichermaßen richtete und öffentlich publiziert wurde. In ihm beruft sich die freiherrliche Familie auf das Beispiel unseres allgemeinen Oberhaupts des jetzt regierenden römischen Kaisers Joseph II., der alle Herrschaften zur Nachfolge auffordere in Duldung der Juden als Nebenmenschen. Offensichtlich hatte in Wankheim das Josephinische Toleranzedikt schon vor seiner Verkündung eine Rolle gespielt.
Zumindest für Wankheim lässt sich so die stereotype Beurteilung, eine Ansiedlung der Juden durch kleinere Territorialherren sei allein oder überwiegend aus materiellen Gründen erfolgt, also nicht halten. Die Quellen bieten ein weitaus differenzierteres Bild. Zu klären bleibt, ob dies auch auf andere im Zeitalter der Aufklärung jüdischen Ansiedlungen zutrifft, wie beispielsweise die der Freiherren von Liebenstein in Jebenhausen und in Buttenhausen oder der Freiherren von Kechler in Unterschwandorf.
Wilfried Setzler ist Honorarprofessor an der Universität Tübingen
Dieser Artikel wurde ursprünglich in den Archivnachrichten 62 (2021), Seite 22–23 veröffentlicht.
Zitierhinweis: Wilfried Setzler, Nur Einnahmequelle?, in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 20.02.2023.