Familie Weil 1850-2005

von Alexander Weil

Wie lange unsere Familie schon in Lörrach ansässig ist, ist nicht bekannt. Meine Urgroßmutter Fanny Bloch wurde 1850 in Lörrach geboren. Sie war eine selbstbewusste, humorvolle Geschäftsfrau, die gute Kunden zu Kaffee und Linzertorte in ihre Wohnung über dem Textilgroßhandel einlud. Sie heiratete den 1844 in Altdorf/Ettenheim geborenen lsaak Weil. Am 14. November 1881 kam mein Großvater August Weil auf die Welt. Nach dem Tod ihres Mannes führte Fanny Weil das Geschäft alleine weiter, bis August es übernahm.

1914, mit Beginn des Ersten Weltkriegs, wurde mein Großvater August Weil eingezogen. Er diente in der 5. Kompanie des Reserve Infanterie Regiment 111. Am 19. Dezember 1914 traf ihn ein Schrapnell. Beide Hände und das rechte Bein wurden verletzt. Er kam ins Lazarett. Einen Tag vor Weihnachten wurde er entlassen.

Infolge des Ersten Weltkrieges kam es 1923 zu einer der stärksten Geldentwertungen der neueren Geschichte. In diesen schweren Zeiten lernte mein Großvater August meine Großmutter Paula kennen. Am 15. August 1924, einen Tag vor Paulas Geburtstag, heirateten sie in Paulas Heimatstadt Gießen, und am 4. April 1927 wurde mein Vater Peter Weil geboren.

Trotz aller wirtschaftlicher Widrigkeiten der Nachkriegszeit führten August und Paula Weil das Textilgeschäft erfolgreich in die 30er-Jahre.

Am 29. November 1934 erhielt August Weil, im Namen des Führers und Reichskanzlers aufgrund der Verordnung vom 13. Juli 1934 zur Erinnerung an den Weltkrieg 1914/1918 das von dem Reichspräsidenten Generalfeldmarschall von Hindenburg gestiftete Ehrenkreuz für Frontkämpfer. Fünf Jahre später, am 11. November 1938, wurde er nach Dachau deportiert. Es wurde ihm die Geschäftskonzession entzogen und meinem Vater war von nun an der Schulbesuch in Lörrach verwehrt. Für einige Zeit besuchte er die Schule in Riehen. Aber auch hier schlug dem 11jährigen wachsender Antisemitismus entgegen, und er musste auch diese Schule verlassen. Mit der Unterstützung von Familie und Freunden war es meiner Großmutter Paula inzwischen gelungen, die Freilassung ihres Mannes aus Dachau zu erreichen.

Im Mai 1940 wurde mein Großvater kurz vor der Deportation der Familie gewarnt. Zu dritt flohen sie in einem Taxi nach Passau. Dort bestiegen sie ein bulgarisches Flüchtlingsschiff, die Pentcho. Donau abwärts gelangten sie ins Schwarze Meer und von dort durch den Bosporus in die Ägäis. Ziel der Reise war Palästina. In der Ägäis gerieten sie in italienische Gefangenschaft und wurden in einem italienischen Konzentrationslager interniert.

Im Zuge des Einmarschs der Alliierten in Süditalien wurde das Lager von den Italienern geöffnet. Die Gefangenen flohen in die Berge. In dieser Zeit starb meine Großmutter Paula Weil. Auf einem Friedhof in der Nähe von Cosenza ist sie begraben.

Gleich nach Kriegsende kehrten mein Großvater und mein Vater wieder nach Lörrach zurück. Ein wichtiger Grund für diesen Entschluss war ihre Heimatverbundenheit. Auch war August Weil bei Kriegsende bereits 64 Jahre alt und man hatte ihm sein gesamtes Vermögen weggenommen. Sie waren die einzigen Lörracher Juden, die sich nach dem Krieg wieder in ihrer Heimatstadt niederließen.

Als mein Großvater nach seiner Rückkehr vom Landratsamt Lörrach aufgefordert wurde, sein entzogenes Vermögen aufzulisten, schrieb er am 24. November 1945 unter dem Briefkopf „z. Zt. Lörrach-Stetten, Restaurant Stetten-Rössle“:

„Im Mai 1940 verließ ich infolge der Rassengesetze fluchtartig mit meiner Familie Lörrach. Ich gelangte nach Italien, wo ich mit meinen Angehörigen 4 Jahre im Konzentrationslager inhaftiert war. Mein Vermögen ist mir während der Hitlerzeit systematisch entzogen worden.

Es bestand aus:

Liegenschaft (Steuerwert) Mk. 55.000

Familienwertsachen Mk. 15.00

Warenlager Mk. 30.000

Außenstände Mk. 30.000

Bankguthaben + Bargeld Mk. 15.000

Total Mk. 145.000

Gläubiger, keine

Im Jahr 1939 musste ich mein Haus verkaufen, um die Judensteuer, Kapitalfluchtsteuer und sonstige nationalsozialistische Juden-Besteuerungen bezahlen zu können und um die „Unbedenklichkeit“ der Auswanderung zu erhalten. Mit Müh und Not erhielt ich für mein Haus Mk. 29.000. So bin ich im wahrsten Sinn des Wortes Opfer des Nationalsozialismus geworden. Ich bin unverschuldet um Hab und Gut gekommen. Meine Frau starb mir im K. Z. in Italien an Entkräftung. Diese Eingabe wird sicher Ihr volles Verständnis finden. Ich bitte Sie, mir mein Vermögen zurück zu erstatten und mich in meine alten Rechte wieder einzusetzen.“

Mit Hilfe seiner zukünftigen Schwiegertochter Clothilde Weil, geborene Wiesler, baute er das Textilgeschäft wieder auf und führte es weiter. 1952 starb er während einer Geschäftsreise.

Mein Vater hatte inzwischen sein Abitur nachgeholt, ein Volkswirtschaftsstudium abgeschlossen und promovierte. 1956 heirateten er und meine Mutter und im gleichen Jahr wurde ich, ihr Sohn Alexander, geboren. Zu diesem Zeitpunkt hatte mein Vater den Textilhandel bereits aufgegeben. Nach verschiedenen beruflichen Tätigkeiten wurde er mit 40 Jahren Lehrer am Lörracher Wirtschaftsgymnasium. 19 Jahre lang war er Mitglied des Gemeinderats und nahm regen Anteil am politischen Leben der Stadt. 1980 starb er. Er ist auf dem jüdischen Friedhof in Lörrach beerdigt.

Gemeinsam mit Sibylle Hofter habe ich eine Tochter. Sie wurde in Berlin geboren und trägt den Namen ihrer Urgroßmutter Fanny Weil. Bis zu Ihrem Tod 2016 lebte meine Mutter in Lörrach. Mit Ausnahme der 5 Jahre Flucht ist die Familie seit über 150 Jahren in Lörrach ansässig.[1]

Anmerkungen

[1] Dieser Text entstand im Jahr 2007 für die Publikation „Jüdisches Leben in Lörrach“ und ist in Band 7 der Lörracher Hefte erschienen. Der letzte Absatz wurde für die Onlineveröffentlichung aktualisiert.

Zitierhinweis: Alexander Weil, Familie Weil 1850-2005, in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 20.02.2023.

Suche