Anpassung und Selbstbehauptung
von Uri R. Kaufmann
Es ist nicht selbstverständlich, dass sich die kleine jüdische Religionsgemeinschaft mit rund 20.000 Mitgliedern über das ganze 19. Jahrhundert behaupten konnte. Der badische Staat übte bis 1862 einen Druck zur Taufe aus, verschwand doch mit ihr alle Diskriminierung. Danach bestand der gesellschaftliche Druck, sich der herrschenden Religion anzuschließen und die eigene Identität aufzugeben.
Die Frage nach der Integration ist vielschichtig: In der ländlichen traditionellen Gesellschaft waren die Zugehörigkeiten eindeutig festgelegt. Jüdische Händler waren als Hausierer und Viehhändler unter der Woche gut fünf Tage nur unter Nichtjuden, hatten seit Jahren ihre Stammkunden und dienten als „wandernde Zeitung“ bis hin zur Heiratsvermittlung. Geschäftliche und gesellschaftliche Kontakte gingen hier ineinander über.
Mit der Entstehung der modernen bürgerlichen Gesellschaft in den Städten und dem Aufblühen des Vereinswesens stellte sich die Frage aus anderer Perspektive. Ins Wirtschaftsleben waren Juden schon lange integriert, in den Handelskammern war ihre Stellung um 1810 bedeutend.
Wo man sie zuließ, nahmen Juden Anteil an der Vereinskultur oder begründeten sie mit. Ihnen verschlossene Vereine öffneten sich in den 1840er-Jahren. Juden gründeten aber auch eigene Organisationen, so etwa die „Ressource“ in Mannheim. Moderne Vereine wie fortschrittliche Turnvereine, Fußball- und Radfahrerclubs waren für Juden offen. Bei der Freiwilligen Feuerwehr machten oft auch Juden mit. Die traditionellen Beerdigungsgesellschaften oder Brautunterstützungsvereine modernisierten ihre Tätigkeit. Aus Beerdigungsschwesternschaften entstanden Frauenvereine, die Fürsorgefunktionen ausübten, besonders für die nach 1900 zugewanderten, armen osteuropäischen Juden. Sie halfen ihnen, sich mit der deutschen Kultur vertraut zu machen.
Beliebt waren Synagogenchöre. Aus ihnen entwickelten sich oft jüdische Chöre, die das allgemeine deutsche Liedgut pflegten. In den 1890er-Jahren kamen Vereine für jüdische Geschichte und Literatur sowie Ortsgruppen der wohltätigen Bne Brith-Loge auf. In Orten mit hohem jüdischen Bevölkerungsanteil waren die Umzüge zur jüdischen Fasnacht „Purim“ ein öffentliches Ereignis.
Nach der Idee von Franz Rosenzweig und Martin Buber wurden in Mannheim und Karlsruhe 1928/29 Jüdische Lehrhäuser eingerichtet, die eine Rückkehr zur Beschäftigung mit jüdischen religiösen Quellen anboten. Es gab somit eine jüdische, moderne und selbstbewusste Kultur. Die Entwicklung lief nicht einseitig auf „Assimilation“ (Selbstaufgabe) hinaus.
Die antisemitische Bewegung hatte Auswirkungen auf die gesellschaftliche Integration ins Vereinswesen, etwa die Hasspredigten von Hofprediger Adolf Stöcker aus Berlin. Nach 1893 wehrte sich die „Vereinigung Badischer Israeliten“ dagegen. Da viele national-konservative Studentenorganisationen in den 1890er-Jahren keine Juden aufnahmen, wurde in Heidelberg die jüdische Burschenschaft „Badenia“ gegründet.
Dieser Artikel wurde ursprünglich im Ausstellungskatalog Gleiche Rechte für alle? Zweihundert Jahre jüdische Religionsgemeinschaft in Baden 1809-2009, hg. von Landesarchiv Baden-Württemberg, Ostfildern 2009, auf S. 106 veröffentlicht.
Zitierhinweis: Uri R. Kaufmann, Anpassung und Selbstbehauptung, in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 03.09.2021.