Tora – Die heilige Schrift im Judentum

Ein Interview von Eva Rincke, durchgeführt am 19. Januar 2023 in der Synagoge in Lörrach

Ich habe auch ein paar Fragen zur jüdischen Religion vorbereitet. Wir wollen ja mit dem Themenmodul „Jüdisches Leben im Südwesten“ auch erklären, was dieses jüdische Leben ausmacht und was heute stattfindet im Südwesten.

Die erste Frage ist: Was bedeutet Heilige Schrift im Judentum?

Moshe Flomenmann: Heilige Schrift – ich würde das lieber als Tora bezeichnen – bedeutet eine Lehre, eine Weisung, eine Bedienungsanleitung für uns Juden. Vor 3.335 Jahren bekam unser Volk auf dem Berg Sinai eine Tora, die aus zwei Teilen besteht. Es gibt eine schriftliche Tora, das ist Tanach. Das ist eine Abkürzung für drei Schriften: Tora Pentateuch (=fünf Bücher Mose), Newiim (=die Propheten), und die Heilige Schrift. Das ist der schriftliche Teil.

Der schriftliche Teil ist sehr kurz gefasst. Man kann nicht alles sofort verstehen, was gemeint ist. Unter anderem steht in den fünf Büchern Mose in der Tora geschrieben „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Die meisten Menschen verstehen das falsch. Sie denken, man muss sich rächen und Rache ausüben. Aber genau das verbietet die Tora. Was gemeint ist, sagt uns der Talmud, das ist der mündliche Teil der Tora. Dieser klärt uns auf und erklärt uns genau und detaillierter, was in der Tora in den fünf Büchern Mose, also im Pentateuch, geschrieben steht. „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ – wie soll man das verstehen? Der Talmud sagt uns das. Man soll es nicht als Rache verstehen, sondern als Schmerzensgeld. Man geht in ein rabbinisches Gericht. Es wird abgeschätzt und dann wird dieser Schadenersatz ausbezahlt. Das ist praktisch das, was heute auch in allen modernen Ländern praktiziert wird. Das heißt, oft verstehen Menschen die Tora falsch, weil sie einen Satz lesen und sie sehen es nur so, wie sie es verstehen. Dafür haben wir den mündlichen Teil der Tora, den Talmud, welcher den schriftlichen Teil erklärt und genau kommentiert, wie wir das verstehen sollen. Der Talmud ist in erster Linie auch eine logische Betrachtung.

Wir haben also unsere Tora, das ist unsere Satzung. Sie beinhaltet 613 Gebote und Verbote: 248 Gebote, 365 Verbote. Natürlich muss man auch fairerweise sagen, dass nicht alle heute praktisch umsetzbar sind. Viele beziehen sich auf Tempel und beide Jerusalemer Tempel wurden zerstört. Leider. Von daher haben wir zwar die Tora, aber einige Gesetze können zurzeit nicht ausgeübt werden. Die Tora, das ist unsere Satzung. Die Tora ist eine Formel für alle Generationen.

Die Tora kann nie veraltet sein. Zum Beispiel es gibt viele moderne Themen heutzutage, die vor 3.000 Jahren überhaupt kein Thema waren, wie Klonen oder Leihmutterschaft oder Organspende oder viele andere Sachen, zum Beispiel Laborfleisch. All diese modernen Themen werden auch in der Tora behandelt. Inwieweit kann das überhaupt möglich sein? Vor 3.335 Jahren, als die Tora uns auf dem Berg Sinai gegeben wurde, gab es das alles noch nicht. Wie können die Rabbiner auch für diese modernen Fragen eine Antwort haben? Weil es in der Tora geschrieben steht, dass es in jeder Generation einen Lehrer gibt, einen weisen Wegweiser, einen Rabbiner, der sich um diese modernen Themen kümmert. Auch Elektrizität. Das war kein Thema vor 3.000 Jahren. Damals gab es nur Feuer und von daher leiten Rabbiner aus der Tora etwas ab, kommentieren es, legen es aus. Und genau das macht die Tora lebendig. Genau das zeigt, dass die Tora nie veraltet sein kann, weil sie nicht nur eine Lösung ist, sondern eine Formel. Deshalb leben wir Juden seit 3.335 Jahren nach den Regeln der Tora.

Das Judentum besteht schon viel länger als die Tora unserem Volk übergeben worden ist. Unsere Vorfahren Abraham, Isaak und Jakob hatten damals keine Tora, aber sie hatten von Gott einzelne Gebote und Verbote aus der Tora bekommen. Die Tora als eine Satzung wurde unserem Volk erst vor 3.335 Jahren gegeben. Im Jahre 2.448 und heute sind wir im Jahre 5.783.

Ich habe bei den Recherchen für das Modul mitbekommen, dass die Torarollen besonders respektvoll behandelt werden, auch in der Gemeinde. Die Tora ist ja nicht ein Buch, wie zum Beispiel bei den Christen die Bibel, sondern eine Pergamentrolle. Können Sie mehr über Torarollen erzählen und wie sie im Gemeindeleben behandelt werden?

Moshe Flomenmann: Vorab möchte ich etwas klarstellen: Die Tora kann nicht nur in Form einer Rolle vorliegen, sondern auch in Form eines Buches. Das ist auch die Tora. Es ist genauso wertvoll. Nicht im Sinne des finanziellen Werts, da eine Torarolle, die ein Jahr lang von Hand geschrieben wird, natürlich viel mehr Geld kostet als ein gedrucktes Buch. Vom Inhalt her ist das Buch jedoch genauso wertvoll wie eine Torarolle. Eine Torarolle wird wirklich mit großem Respekt behandelt, denn man segnet die Torarolle. Man sagt einen speziellen Segensspruch, bevor und nachdem man zur Tora aufgerufen wird. Man ruft Menschen nicht zum Buch auf, sondern zu Torarolle.

Eine Torarolle ist ein Pergament, was von Hand geschrieben wird mit Vogelfedern von koscheren Vogelarten. Es beinhaltet 304.805 Buchstaben und jeder Buchstabe ist wichtig. Der Kalligraf wird auch Zähler genannt, weil jeder einzelne Buchstabe auch gezählt werden muss, und wenn ein Buchstabe darin fehlt, ist die gesamte Schriftrolle erst mal vorübergehend nicht koscher und nicht geeignet für die weitere öffentliche Vorlesung in einer Synagoge, bis der Fehler korrigiert wird.

Wie ich schon sagte, sind wir einerseits gesetzestreu, andererseits modern. Auch für solche Tätigkeiten wie die Kalligrafie werden moderne Methoden angewendet. Eine Torarolle wird gescannt und wenn es einen Fehler gibt, zeigt der Computer genau an, an welcher Stelle. Dann kann der Kalligraf, der Sofer, diese Stelle korrigieren. Sie sehen, das Judentum steht nicht irgendwie im Gegensatz zur Moderne, sondern nutzt die Moderne für Weiterentwicklungen. Das ist besonders wichtig für unsere Zeit heute, dass man weiß, dass die Tora nichts Veraltetes ist, sondern hochaktuell und modern in jeder Situation und an jedem Wohnort.

Von daher ist die Torarolle eine besondere Heiligkeit in jeder Synagoge. Man hat mehrere Torarollen. Das ist der Reichtum der Gemeinde. Auch wenn man immer den gleichen Inhalt hat. Es gibt gewisse Gottesdienste, wo man an einem Gottesdienst aus drei verschiedenen Stellen aus der Tora liest, dann muss man nicht eine Rolle hin und her rollen, was auch viel Zeit in Anspruch nimmt. Man hat schon vorher alles an der jeweiligen Stelle in den fünf Büchern Mose eingestellt, drei Stellen also, und kann dann drei Torarollen herausheben und direkt lesen.

Es gibt auch Gemeinden, die mehr als drei Torarollen haben, und es gibt Gemeinden, die keine Torarollen haben, weil sie sich das finanziell nicht leisten können. Es gibt Gemeinden, die nur eine Torarolle haben. Wichtig ist zu verstehen, dass eine Synagoge in einer jüdischen Gemeinde in erster Linie aus Menschen besteht. Synagoge ist ein griechisches Wort, das jüdische Wort dafür, „Bet Knesset“, heißt „Haus der Versammlung“. Also Versammlung, Minjan: Die Menschen machen es aus und nicht nur die Tora.

Aber die Torarolle ist heilig und wird mit größtem Respekt behandelt. Man soll sie auch nicht mit den Händen berühren. Es ist keine Sünde, wenn das passiert, aber man soll es nicht tun. Deswegen haben wir einen Zeigefinger aus Silber, womit wir in der Tora lesen und zeigen. Die Torarolle wird schön geschmückt, um ihre Bedeutung zu hervorzuheben, und sie wird in jeder Gemeinde mit großem Respekt behandelt.

Was geschieht mit einer Torarolle, wenn sie beschädigt ist?

Moshe Flomenmann: Eine Torarolle, die beschädigt ist, wird korrigiert, solange es möglich ist. Wenn es hopeless ist, wenn sich das nicht mehr reparieren lässt, wird die Torarolle natürlich nicht in der Blauen Tonne entsorgt, denn sie hat uns viele Jahre treue Dienste geleistet. Sie wird auf dem jüdischen Friedhof beerdigt.

Wir haben hier eine Torarolle in der jüdischen Gemeinde in Lörrach, die vor dem Krieg aus der brennenden Synagoge in Lörrach gerettet worden ist. Die ist nicht mehr koscher, ich glaube auch nicht mehr reparabel. Aber wir haben entschieden, sie weiterhin in unserem Toraschrein zu behalten, weil sie eine gewisse historische Brücke zur damaligen Gemeinde, unserer Vorgängergemeinde, darstellt. Von daher wollen wir diese Tora weiterhin unserem Aron haKodesch, Toraschrein, behalten. Aber die Rollen, die nicht mehr reparabel sind, werden mit großem Respekt auf dem jüdischen Friedhof beerdigt.

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Moshe Flomenmann ist seit 2012 Landesrabbiner der IRG Baden und seit 2021 Polizeirabbiner des Landes Baden-Württemberg mit Zuständigkeit für den badischen Landesteil.

Zitierhinweis: Moshe Flomenmann/Eva Rincke, Interview mit dem Landesrabbiner der IRG Baden, in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 15.05.2023.

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