Gemeindeleben

Ein Interview von Eva Rincke, durchgeführt am 23. Dezember 2022 in der Synagoge in Baden-Baden

 Lagerfeuer beim Grillfest zum Feiertag Lag baOmer [Quelle: Israelitische Kultusgemeinde Baden-Baden]  
Lagerfeuer beim Grillfest zum Feiertag Lag baOmer [Quelle: Israelitische Kultusgemeinde Baden-Baden]

Welche Aktivitäten in Ihrer Gemeinde sind besonders wichtig? Was verbindet die Gemeindemitglieder? Wann trifft man zusammen?

Rabbiner Surovtsev: Gott sei Dank gibt es in der jüdischen Tradition viele Feiertage. Eigentlich ist jeder Samstag, Schabbat, ein Feiertag. Die Gemeinde trifft sich für alle Feiertage und auch für Schabbat. Die jüdischen Feiertage kann man in drei Gruppen einteilen: Es gibt biblische Feiertage wie Schabbat, Pessach, Neues Jahr. Es gibt rabbinische Feiertage wie Chanukka zum Beispiel. Es gibt auch moderne oder neue Feiertage. Ziemlich neu: seit dem Mittelalter.

Und es gibt einen Feiertag, den ich besonders finde, dieser Feiertag heißt Lag baOmer. Man feiert das immer im Frühling und es gibt keine besonderen Gebote oder religiöse Taten, die man an diesem Tag macht. Aber es ist üblich, nicht nur in unserer Gemeinde, auch in anderen Gemeinden, dass die Gemeinde sich für ein Grillfest draußen versammelt. Das machen wir auch gerne: ein Grillfest für alle. Das ist ein interessantes Ereignis.

 Köstlichkeiten beim Grillfest zum Feiertag Lag baOmer [Quelle: Israelitische Kultusgemeinde Baden-Baden]
Köstlichkeiten beim Grillfest zum Feiertag Lag baOmer [Quelle: Israelitische Kultusgemeinde Baden-Baden]

Irina Grinberg: Wir haben dieses Jahr auch einen erfolgreichen Shabbaton organisiert. Das war hier bei uns im Schwarzwald. Es war unvergesslich.

Rabbiner Surovtsev: „Shabbaton“ ist ein moderner hebräischer Begriff und bedeutet „Ausflug am Schabbat“, dass man irgendwo draußen Schabbat feiert, nicht zu Hause oder in der Synagoge, sondern in einer Art Wochenendseminar. Letztes Jahr haben wir das zum ersten Mal gemacht.

Irina Grinberg: Im September im Schwarzwald drei Tage. Wie viele Personen waren dabei?

Rabbiner Surovtsev: 50 Personen ungefähr.

Irina Grinberg: Genau. Da waren Kinder dabei. Da waren ältere Leute dabei. Alle Generationen waren zusammen. Das war total unvergesslich, wirklich klasse. Das war der erste Versuch. Es ist alles gelungen und wir hoffen, dass wir es dieses Jahr wiederholen können. Es ist so schön, dass wir die Möglichkeit haben, das hier in dieser schönen Natur zu machen.

Es gibt auch ein wichtiges Gebot: Kranke besuchen. Dass die anderen Gemeindemitglieder und auch der Rabbiner die Leute, die krank und allein sind, besuchen. Wir bringen ihnen Geschenke: zum Beispiel Apfelsinen, Äpfel oder Säfte. Wichtig ist vor allem, zu ihnen nach Hause zu kommen oder ins Krankenhaus, wenn das möglich ist, um mit den Leuten zu sprechen und sie zu besuchen. Auch zu bestimmten Feiertagen, das sind die vier großen Feiertage, da bereiten wir für 200 Personen Geschenke vor. Das sind: Chanukka, Purim…

Rabbiner Surovtsev: … Pessach und Neues Jahr.

Irina Grinberg: Die Leute freuen sich natürlich sehr, weil das eine Freude ist. Besonders in der Zeit von Corona. Jetzt kommt auch noch der Krieg dazu. Ja. Dann ist es ein Sonnenschein für die Leute, dass wir sie besuchen. Da kommen manchmal unsere Jugendlichen und manchmal der Rabbiner. Sie besuchen die Leute und verteilen diese Geschenke.

Donnerstags kommen unsere Männer hier in die Synagoge und beten. Jetzt fangen sie immer damit an, für den Frieden zu beten. Das erste Gebet ist für die vielen Armen in der ganzen Welt und besonders für die vielen in der Ukraine. Weil das ein riesiger Schmerz für uns ist.

Das betrifft ja in der Gemeinde wahrscheinlich auch viele Menschen persönlich. Und sie kümmern sich ja auch um die Menschen, die neu aus der Ukraine jetzt hier ankommen.

Irina Grinberg: Richtig, richtig. Wir sind in Kontakt mit verschiedene Organisationen: mit der orthodoxen Rabbinerkonferenz, der europäischen Rabbinerkonferenz, dem Zentralrat der Juden, die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Sie unterstützen uns, damit wir die Leute in verschiedene Richtungen unterstützen können.

Sehr viele Gemeindemitglieder der Israelitischen Kultusgemeinde Baden-Baden haben mit der Unterstützung von drei Initiatoren – Herrn Yevgeniy Primak, Alexander Bulazel und ich – mit Gottes Hilfe und der Hilfe unseres Rabbiners eine Aktion organisiert, dass die Leute in der Umgebung verschiedene Sachen bringen und Geld spenden. Damit wir nicht nur den Leuten hier helfen können, sondern ab und zu Autos mit Sachspenden in die Ukraine schicken können.

2018 hat der Oberrat[1] ein Grundstück besorgt für die zukünftige Synagoge und noch nichts gebaut. Wir haben dieses Grundstück benutzt, um Spenden zu sammeln. Die Leute, die hier neu ankommen, können dorthin kommen, zur Fürstenbergallee 18, 76532 Baden-Baden. Das sind alles Notsachen, denn sie haben gar nichts, wenn sie ankommen. Mit der Zeit stellen sie Anträge beim Staat, sie kriegen finanzielle Unterstützung und so weiter. Aber erstmal haben sie nichts. Kleidung, Bettwäsche, Lebensmittel und so weiter und so fort. Die ganze Bevölkerung von Baden-Baden, Rastatt und Bühl, die Leute spenden alle von ganzem Herzen immer wieder.

Und Sie organisieren das?

Ja, genau. Es gab auch den Mitzvah-Day, den unser Zentralrat der Juden einmal pro Jahr organisiert. Und wir haben das beschlossen, dass wir ihn dieses Mal auf jeden Fall der Ukraine widmen.

Können Sie den Begriff „Mitzwa“ kurz erklären?

Rabbiner Surovtsev: Der Mitzvah Day ist eigentlich eine öffentliche Initiative von Jüdischen Gemeinden aus England. Seit mehreren Jahren ist es ein weltweiter Aktionstag geworden.

„Mitzwa“ bedeutet auf Hebräisch „Gebot von Gott“. Und in diesem Kontext, das bedeutet es „Wohlfahrt“ oder „gute Tat“, also „Tag der guten Taten“. Man widmet diesen Tag verschiedenen Aktionen, die mit guten Taten verbunden sind. Der Zentralrat der Juden organisiert das zentral, so dass alle Gemeinden es am gleichen Tag machen und Flyer und Ballons und Ähnliches zur Verfügung gestellt bekommen. Die verschiedenen Gemeinden machen etwas Besonderes an diesen Tag. Wir machen jedes Mal etwas Anderes. Auch in Zusammenarbeit mit anderen Vereinen und Organisationen in unserer Stadt. Das ist normalerweise im Herbst. Wie Frau Grünberg erzählt hat, haben wir den Mitzvah Day in diesem Jahr der Ukrainehilfe gewidmet.

 Plakat zum Mitzvah Day 2022 [Quelle: Israelitische Kultusgemeinde Baden-Baden]
Plakat zum Mitzvah Day 2022 [Quelle: Israelitische Kultusgemeinde Baden-Baden]

Irina Grinberg: Wir haben diese Aktion im Vorfeld bekannt gemacht und viele Organisationen haben dazu aufgerufen teilzunehmen. An diesem Tag kamen sehr viele Leute und haben etwas mitgebracht. Danach haben wir die Sachen zusammengepackt und in die Ukraine geschickt. An Kinder in Waisenhäusern und für Leute, die nichts zu essen haben.

Wir beschäftigen uns sehr viel damit. Diejenigen, welche hierherkommen, kommen auf uns zu, wir sind die erste Anlaufstelle. Das liegt daran, dass wir Russisch und Ukrainisch sprechen und die Ansprechpartner hier vor Ort kennen. Wenn die Leute menschliche Unterstützung brauchen, kommen sie natürlich auf den Rabbiner zu.

Rabbiner Surovtsev: Die Menschen, die als Flüchtlinge aus der Ukraine kommen, brauchen einfach ein Familiengefühl. Sie sind von ihren Familien getrennt. Manche haben hier in Deutschland, in unserer Stadt, Verwandte. Trotzdem brauchen sie diese familiäre Unterstützung. Viele ukrainische Flüchtlinge sind sehr aktiv und wollen aktiv integriert sein, arbeiten und so weiter. Deswegen brauchen sie einfache Erklärungen, Gespräche, Sozialhilfe zum Beispiel und dass jemand erklärt, wie alles hier in Deutschland funktioniert. Obwohl ich auch nicht alles perfekt weiß. Manchmal habe ich auch Fragen.

Irina Grinberg: Wir sitzen alle in einem Boot. Das Schwierigste ist, dass unsere Gemeindemitglieder, welche zurzeit schon 80 oder 90 Jahre alt sind, als Kinder schon einen Krieg erlebt haben. Einige haben auch schon an einem Krieg teilgenommen. Ja, das ist ein Schmerz und jetzt ein schlechtes Déjà-vu. Sie denken wieder darüber nach, werden zurückkatapultiert in die Kindheit. Das ist schrecklich. Diejenigen, die das schon im Kopf haben, können kaum schlafen. Niemand von ihnen hat gedacht, dass so etwas nochmal geschieht.

Anmerkungen

[1] Der Oberrat ist das oberste Organ der Israelitischen Religionsgemeinschaft Baden (IRG Baden).

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Daniel Naftoli Surovtsev ist Rabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Baden-Baden und Irina Grinberg ist Büroleiterin und Assistentin des Vorstands.

Zitierhinweis: Irina Grinberg/Eva Rincke/Daniel Naftoli Surovtsev, Interview in der Israelitischen Kultusgemeinde Baden-Baden, in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 20.02.2023.

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