Gemeindeleben

Ein Interview von Eva Rincke, durchgeführt am 8. November 2022 in Konstanz

Die Synagogengemeinde Konstanz ist eine Einheitsgemeinde. Was bedeutet das?

Benjamin Nissenbaum: Im Judentum gibt es viele Strömungen. Es gibt Fromme, weniger Fromme, nicht so Fromme. Ich mag den Titel orthodox nicht so gern. Bei uns gibt es fromm, nicht so fromm, weniger fromm.

Einheitsgemeinde bedeutet, dass alle Strömungen des Judentums unter einem Dach Platz finden. Das heißt, es ist für alle Juden möglich, hier in der Gemeinde Platz zu finden. Die frommen Juden haben gewisse Speiserituale. Es gibt ja nach Gottesdiensten immer einen kleinen Kiddusch. Das heißt: Man spricht ein Gebet auf Wein und auf Brot und danach gibt es Kleinigkeiten zu essen - und die müssen glatt koscher sein. Wenn die nicht glatt koscher sind, dann kann ein Frommer eigentlich nicht daran teilnehmen. Ein nicht so Frommer kann teilnehmen, weil das für ihn keine Rolle spielt, ob das glatt koscher ist oder nicht. Deswegen ist die Gemeinde nach den Speisegesetzen ganz fromm, glatt koscher.

Einheitsgemeinde heißt auch, dass jeder Jude in der Synagoge Platz finden kann, teilnehmen und reden darf. Die Mitglieder der Gemeinde sind gemischt. Wir haben Mitglieder, die sehr fromm sind. So wie der Rabbiner, der alle Gesetze einhält. (Bei Juden sagt man immer, er versucht's. Man kann immer mal einen Fehler machen, jeder Mensch ist menschlich.) Es gibt auch Mitglieder, die konservativ sind. Sie akzeptieren die Gesetze, halten sie teilweise ein, nicht alles. Und es gibt liberale Mitglieder, die ganz anders denken und nicht unbedingt alle Gesetze befolgen wollen.

Ein Beispiel aus dem Gemeindealltag: Bei frommen Juden sitzen Männer und Frauen während des Gottesdiensts getrennt. Die Frauen sitzen oben auf der Empore und unten die Männer. Darauf wird Wert gelegt. Bei ganz Frommen sitzen auch beim Kiddusch die Männer und die Frauen getrennt. Sie haben entweder eine Mechitze dazwischen, das ist ein Vorhang, damit die Frauen auf einer Seite zusammensitzen und die Männer auf der anderen. Oder sie sitzen in verschiedenen Räumen. Bei uns ist es so, dass wir den Gottesdienst getrennt haben: Männer unten, Frauen oben. Beim Kiddusch sitzen wir gemischt zusammen. Da sehen Sie schon die Einheitsgemeinde wie sie zusammenwächst.

Wie sieht das Gemeindeleben in der Synagogengemeinde Konstanz konkret aus: im religiösen Bereich, aber auch im gesellschaftlichen Bereich und kulturell?

Benjamin Nissenbaum: Jeden Freitagabend haben wir Gottesdienst. Im Winter beginnt der Gottesdienst um 18:30 Uhr, im Sommer um 19:30 Uhr. Nach dem Gottesdienst gibt es einen Kiddusch im Festsaal unten, man kommt zusammen. Der Gottesdienst ist der Hauptpunkt. Danach ist das Wichtigste wieder das Zusammensitzen der Mitglieder, sich zu unterhalten, sich zu treffen. Es kommen Alte, Junge, alle Facetten zusammen: Das ist das, was das gesellschaftliche Leben ausmacht.

Die Gemeinde hat aber auch viele andere Aufgaben. Wir haben eine Sozialarbeiterin, die sich um soziale Probleme von Mitgliedern kümmert. Dann gibt es den Rabbiner, der auch rabbinisch hilft, wenn Leute Probleme haben. Also, mit einem Augenzwinkern: Der Rabbiner hat immer Probleme. Die Leute kommen eben mit ihren Problemen zu ihm, da er Lösungen suchen soll. Der Rabbiner gibt auch Religionsunterricht in Schulen hier in Konstanz. Er unterrichtet auch in Rottweil, da sie dort momentan keinen Religionslehrer haben. Auch aus der Schweiz kommen Kinder zu uns. Die einen unterrichtet er in der Schule und die anderen in der Gemeinde, weil sie nicht hier in Konstanz zur Schule gehen, sondern in der Schweiz.

So wie wir früher. Als Kinder hatten wir in Konstanz noch keine gefestigte Gemeinde, die hat sich erst 1964 nach dem Bau der Synagoge hier auf dem Platz der alten Synagoge, Sigismundstraße 19, etabliert. Wir Kinder hatten früher den Religionsunterricht in Kreuzlingen in der Schweiz. Da gab es eine Kreuzlinger Gemeinde, die schon vor dem Krieg dort existiert hat. Manche Konstanzer Juden konnten sich während des Krieges noch retten, indem sie über die Grenze nach Kreuzlingen in die Schweiz gegangen sind. Dort lebten sie auch noch nach 1945. Die Konstanzer Juden haben am Gottesdienst im Betsaal in Kreuzlingen teilgenommen. Damals waren dort freitags und an den Feiertagen immer Gottesdienste. An großen Feiertagen waren wir auch mal in der jüdischen Gemeinde in Stuttgart, das war die nächstgrößere hier im Gebiet.

Heute ist es so, dass Kreuzlingen keine Gemeinde mehr hat. Sie ist wegen Überalterung und Wegzug von jungen Leuten geschlossen worden. Dafür kommen aber alle, die hier im Einzugsbereich am Bodensee in der Nähe von Konstanz wohnen, zu Schabbat und zu Gottesdiensten an Feiertagen zu uns in die Gemeinde.

Der Einzugsbereich der Gemeinde ist also eigentlich der ganze Bodensee?

Benjamin Nissenbaum: Ja, der Einzugsbereich ist der Bodensee-Kreis. Wir haben Leute, die aus Friedrichshafen kommen, aus Meersburg, Radolfzell, Überlingen, Singen - das gehört alles zu unserem Einzugsgebiet. Mitglied kann nur werden, wer hier wohnt und in Deutschland gemeldet ist. Schweizer können teilnehmen, können aber nicht Mitglied werden, weil sie als Schweizer keine Kirchensteuer abführen. Wer Kirchensteuer zahlt, darf als Mitglied wählen und an Gemeindeversammlungen teilnehmen. Das ist die eine Sache. Die andere Sache ist das Gemeinschaftsleben und da sind alle willkommen, egal von wo. Auch Gäste aus Israel oder anderen Ländern kommen gerne zum Gottesdienst zu uns und nehmen teil, wenn sie auf der Durchreise sind.

Also ein offenes Haus.

Benjamin Nissenbaum: Offen, richtig. Auch Nichtjuden, die sich interessieren, wie ein Gottesdienst abläuft, können bei uns am Gottesdienst teilnehmen. Das ist auch oft der Fall. Bei uns laufen die Gottesdienste in Hebräisch ab – wie in der ganzen Welt. Ob ich nach Afrika, nach China oder nach Amerika gehe, sind die Gebete immer dasselbe, immer in Hebräisch. Die Ansprachen, die der Rabbiner hält, sind dann meistens in der Landessprache, damit alle das verstehen. Aber die Gebete sind alle in Hebräisch. Deswegen ist es für Juden einfach: Egal woher sie kommen, wohin sie gehen, bei den Gebeten verstehen sie immer alles.

Lesen Sie hier weiter.

Benjamin Nissenbaum ist Vorstandsvorsitzender der Synagogengemeinde Konstanz.

Zitierhinweis: Benjamin Nissenbaum/Eva Rincke, Interview mit Benjamin Nissenbaum, in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 20.02.2023.

Suche