Neidenstein 

Die ehemalige Synagoge in Neidenstein. Während der Pogrome im November 1938 wurde das Gebäude beschädigt, danach verkauft, baulich verändert und für landwirtschaftliche Zwecke verwendet. Eine Inititative kümmert sich um künftige Nutzungsmöglichkeiten. [Quelle: LEO-BW, Landauf-LandApp]
Die ehemalige Synagoge in Neidenstein. Während der Pogrome im November 1938 wurde das Gebäude beschädigt, danach verkauft, baulich verändert und für landwirtschaftliche Zwecke verwendet. Eine Inititative kümmert sich um künftige Nutzungsmöglichkeiten. [Quelle: LEO-BW, Landauf-LandApp]

Dieser Beitrag stammt aus der Studie von Franz Hundsnurscher und Gerhard Taddey, Die jüdischen Gemeinden in Baden. Denkmale, Geschichte, Schicksale, hg. von der Archivdirektion Stuttgart (Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg 19), Stuttgart 1968.

Die Studie wird hier in der Originalfassung als Volltext zugänglich gemacht und separat bebildert. Inhalte und Sprachgebrauch entsprechen dem Stand von 1968. Weitere Informationen zur Entstehung und Einordnung der Studie finden Sie hier.

Das Dorf Neidenstein gehörte bis 1806 zum schwäbischen Ritterkanton Kraichgau und war eine Besitzung der Familie von Venningen. 1806 fiel es an Baden. Juden lebten in geringer Zahl seit dem 16. Jahrhundert in Neidenstein. Nach der vollständigen Entvölkerung des Dorfes während des Dreißigjährigen Krieges bemühten sich die Grundherren um möglichst raschen Wiederaufbau und nahmen zu diesem Zweck bereitwillig auch Juden auf. Zuzug von Juden in größerem Ausmaß erfolgte jedoch erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Sie wollten nur ein Dach über dem Kopf haben und bauten sich überall, wo noch Platz übrig war - vornehmlich in der Schmalgasse und am Judenbuckel - kleine einstöckige Häuser mit Stube, Küche und Kammer ohne Wirtschaftsgebäude, da sie doch nur Handelsgeschäfte betreiben durften. Einige Begüterte errichteten auch zweistöckige Häuser. 1796 befanden sich unter den 114 Wohnhäusern 10, die Juden gehörten, 1797 12. 1789 lebten in Neidenstein 179 jüdische Einwohner, 1792 121, und zwar 21 Männer, 21 Frauen, 45 Söhne, 32 Töchter, 1 Knecht und 1 Magd. Jeder Jude hatte außer den allgemeinen Abgaben jährlich ein Kopfgeld von 21 Gulden zu zahlen. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wuchs die Zahl der jüdischen Einwohner weiter an: 1801 210, 1818 212 in 20 Judenhäusern, 1825 215 (26,8 Prozent von 804 Einwohnern).

Der Aufschwung von Mannheim und Heidelberg zu Industriestädten zog nach 1870 viele Menschen aus den Dörfern dorthin. In Neidenstein hatte fast jede zweite Familie Angehörige in Mannheim. Sieben verwaiste Bauernhöfe wurden von ortsansässigen Juden als eigene Behausungen aufgekauft. Doch auch bei den Juden machte sich die Abwanderung bemerkbar. 1875 lebten in Neidenstein noch 195 Juden, 1900 nur noch 125, 1925 75 und 1933 63. Bis 1940 wurden noch zwei Kinder geboren. Vier Juden zogen von außerhalb zu. Im Ersten Weltkrieg waren aus Neidenstein die jüdischen Bürger Ludwig Mayer und Friedrich-Fritz Würzweiler gefallen.

Seit 1827 gehörte die israelitische Gemeinde zum Rabbinatsbezirk Sinsheim. Eine Judenschule (Bethaus) wird schon im Häuserverzeichnis von 1796 erwähnt (Haus Nr. 57). Da die Gemeinde ständig wuchs, erbaute sie sich 1831 eine der größten Landsynagogen Badens. Um 1930 wurde sie anlässlich des 100jährigen Jubiläums gründlich renoviert. Die jüdischen Kinder erhielten von 1828 bis 1876 in einer eigenen Volksschule Unterricht. Der erste Lehrer Leopold Kaufmann aus Leimen bezog neben freier Wohnung im Schulhaus ein Gehalt von 150 Gulden.

Schon 1872 wurde das israelitische Schulhaus von der politischen Gemeinde gepachtet. Einen eigenen Friedhof besaß die jüdische Gemeinde nicht; die Toten bestattete man auf dem Verbandsfriedhof in Waibstadt. Kranke und notleidende Glaubensgenossen erhielten Unterstützung vom Israelitischen Frauen- und Männerverein. Auch die Lob-Kunkel-Stiftung diente wohltätigen Zwecken.

Der Handel, zu dessen Wahrnehmung die Grundherrschaft die Juden in erster Linie aufgenommen hatte, lag fast restlos in ihrer Hand. Die meisten (um 1850 41, 1933 10) trieben Vieh- und Pferdehandel; einige handelten mit Landesprodukten, insbesondere mit Getreide, Mehl und Tabak. Ebenso befanden sich beinahe alle Ladengeschäfte in jüdischem Besitz; um 1933 waren es zwei Manufakturwarengeschäfte, ein Kolonialwarengeschäft und eine Kohlen- und Eisenhandlung. Der Metzgerberuf wurde vorwiegend von der Familie Mayer ausgeübt, Judenwirtschaften waren die „Rose" und der „Hirsch". Im 19. Jahrhundert gab es auch noch eine Mazzothbäckerei in Neidenstein. Das „Matzenhäusle" brannte eines Tages durch Unvorsichtigkeit ab und wurde nicht mehr aufgebaut. Im „Matzenlied" wird der Backvorgang geschildert. Die einst weit verbreitete Schafhaltung verlor durch den Wegfall der Brache und die Intensivierung der Landwirtschaft an Bedeutung. Der einzige Schäfer, den es in Neidenstein bis in die 1930er Jahre noch gab, war der Israelit Moses Eisenmann. Er besaß eine Herde von 300-350 Schafen.

Auf ein freundliches Zusammenleben mit den Ortseinwohnern legten die Neidensteiner Juden größten Wert. Wieweit die gegenseitige Anpassung ging, zeigt sich heute noch darin, dass die Neidensteiner zum gegenseitigen Hänseln sich gelegentlich hebräischer Ausdrücke bedienen. Juden waren Mitglieder des Gesangvereins „Concordia". Auch im Gemeinderat waren sie vertreten, 1933 noch mit einem Mitglied; im Bürgerausschuss saßen sechs jüdische Mitglieder.

Die nationalsozialistische Hetzpropaganda machte auch in Neidenstein den Juden das Leben auf die Dauer unmöglich. Ab 1935 verkauften sie ihre Geschäfte und Häuser an christliche Mitbürger. 37 wanderten nach den USA, Palästina, Holland und Belgien aus. Moses Eisenmann erhielt ab 1936 für seine Schafherde keine Weideplätze mehr und musste die Tiere verkaufen. Er zog nach Heidelberg, wo er 1937, seine Ehefrau 1938 starb. Wie sie fanden noch 5 ihrer Mitbürger ein Grab in der Heimat. Für die Juden, die nicht auswandern wollten oder konnten, wurde das Leben immer schwieriger. In der Kristallnacht im November 1938 wurde die Synagoge von SA-Männern aus Eschelbronn und Neidenstein zerstört. Fünf jüdische Männer befanden sich für einige Wochen im KZ Dachau. Am 22. Oktober 1940 wurden die letzten 19 Israeliten aus Neidenstein nach Gurs deportiert; auch 4 weitere ehemalige Neidensteiner befanden sich bei diesem Transport. 6 von ihnen starben in südfranzösischen Lagern, 6 entkamen in die Freiheit, mindestens 8 wurden in einem Vernichtungslager im Osten ermordet, 3 sind verschollen.

Die von einem Privatmann erworbene Synagogenruine wurde zu einem Stall umgebaut.

 

In dieser Studie nachgewiesene Literatur

  • Heid, Rudolf, Burg und Dorf Neidenstein, 1928. 
  • Ziegler, Karl, Ortschronik von Neidenstein, 1962.

Ergänzung 2023:

Am 1. Juli 2020 gründete sich die Fördergemeinschaft Ehemalige Synagoge Neidenstein. Deren Ziel ist die Entwicklung eines Konzepts zur Nutzung und Sanierung des Gebäudes, um es zu einer Stätte des Gedenkens, der Begegnung, der Bildung und auch der Forschung auszubauen. 

Zitierhinweis: Hundsnurscher, Franz/Taddey, Gerhard: Die jüdischen Gemeinden in Baden, Stuttgart 1968, Beitrag zu Neidenstein, veröffentlicht in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 20.12.2022

Lektüretipps für die weitere Recherche

  • Beisel, Peter, Die Geschichte der Juden in unserer Region, (Beiträge zur Geschichte Neidensteins Nr. 1), 1989.
  • Hahn, Joachim/Krüger, Jürgen, „Hier ist nichts anderes als Gottes Haus...“. Synagogen in Baden-Württemberg. Band 1: Geschichte und Architektur. Band 2: Orte und Einrichtungen, hg. von Rüdiger Schmidt (Badische Landesbibliothek, Karlsruhe) und Meier Schwarz (Synagogue Memorial, Jerusalem), Stuttgart 2007.
  • Mitteilungsblatt Nr. 6 des Vereins für Kultur- und Heimatpflege, Neidenstein Mai 1998.
  • Volk, Gerrit, Neidenstein. Ältere und neuere Ansichten, Buchen-Walldürn 2001, S.33.
  • Ziegler, Karl, Ortschronik von Neidenstein, 1962, S. 95-96.
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