Pforzheim

Die Synagoge in Pforzheim, vor 1938. Während der Pogrome im November 1938 wurde das Gebäude durch mehrere Sprengsätze beschädigt, danach abgebrochen. [Quelle: Landesarchiv BW, HStAS EA 99/001 Bü 305 Nr. 1413]
Die Synagoge in Pforzheim, vor 1938. Während der Pogrome im November 1938 wurde das Gebäude durch mehrere Sprengsätze beschädigt, danach abgebrochen. [Quelle: Landesarchiv BW, HStAS EA 99/001 Bü 305 Nr. 1413]

Dieser Beitrag stammt aus der Studie von Franz Hundsnurscher und Gerhard Taddey, Die jüdischen Gemeinden in Baden. Denkmale, Geschichte, Schicksale, hg. von der Archivdirektion Stuttgart (Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg 19), Stuttgart 1968.

Die Studie wird hier in der Originalfassung als Volltext zugänglich gemacht und separat bebildert. Inhalte und Sprachgebrauch entsprechen dem Stand von 1968. Weitere Informationen zur Entstehung und Einordnung der Studie finden Sie hier.

Markgraf Hermann V. von Baden (1190-1243) erbte 1219 die Stadt Pforzheim, die er zur Residenz ausbaute. Bei der Erbteilung 1535 kam Pforzheim zur Markgrafschaft Baden-Durlach. Als 1565 die Residenz nach Durlach verlegt wurde, blieb die Schlosskirche weiterhin Grablege der markgräflichen, später großherzoglichen Familie. Das wirtschaftliche Leben der Stadt war vor dem Dreißigjährigen Krieg durch die Flößerei und Tuchmacherei bestimmt. 1767 begründete Markgraf Karl Friedrich (1738-1811) im staatlichen Waisenhaus die Bijouterie-Industrie. Aus dieser Manufaktur entwickelte sich die vielseitige, weltbekannte Pforzheimer Edelmetallindustrie.

In der Gegend von Pforzheim hielten sich schon in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts Juden auf. Das Nürnberger Memorbuch berichtet, dass 1267 in Pforzheim die Leiche eines siebenjährigen Mädchens im Wasser aufgefunden wurde. Sofort beschuldigte man die Juden des Ritualmordes. Einige der Angeschuldigten begingen Selbstmord. Ihre Leichen wurden zusammen mit den noch lebenden Juden gerädert und erhängt. Der Steinsarg des ermordeten Mädchens befindet sich in der Pforzheimer Schlosskirche. Zur Zeit des Schwarzen Todes 1348/49 kam es in Pforzheim erneut zu einer Judenverfolgung.

Unter dem Einfluss der humanistischen Schriften seines Landsmannes und Zeitgenossen Reuchlin nahm Markgraf Philipp I. (1479-1533) die drei Juden David, Seligmann und Hana auf zehn Jahre nach Pforzheim in den Schutz auf. Seligmann und Hana wurde in dem Schutzbrief außer dem Handel auch gestattet, „die Kunst der Wundarznei" in der Markgrafschaft auszuüben. Vier Jahre später wurden Mosse und Helias auf sechs Jahre in den Schutz aufgenommen. Bereits 1463 hatte Kurfürst Friedrich von der Pfalz den Juden Leo aus Pforzheim nach Heidelberg in den Schutz aufgenommen. 1569 beauftragte Markgraf Karl den Juden Jakob zu Pforzheim, die bei einer Musterung bei den Untertanen der oberen Lande als fehlend festgestellten Rüstungen und Gewehre zu ergänzen. Jakob bezog die Rüstungen aus Straßburg. In dieser Zeit wird auch eine Judengasse in der Stadt erwähnt.

1608 baten zwei Pforzheimer Juden um Überlassung von Getreide aus dem Amtsspeicher gegen Verpfändung ihrer Häuser. Befürchtungen, dass die Juden mit diesem Getreide Handel treiben wollten, wurden vom Oberamt zerstreut. Die Bittsteller brauchten das Korn den Winter über für ihre Haushaltungen.

Um 1614 vertrieb Markgraf Georg Friedrich (1602-22) die Juden im ganzen Lande. Trotz dieser Ausweisung bat 1652 der Jude Baruch Kaufmann von Grambach, genannt das Kaufmännle, um die Erteilung eines Jahresgeleits mit dem Hinweis, er habe dem Markgrafen nicht nur Pferde geliefert, sondern sich auch „in die sieben Jahr zu Durlach und Pforzheim häuslich aufgehalten", den Untertanen Geld geliehen und Vieh auf Borg gegeben, ohne Übervorteilung oder Betrug. Sein Gesuch wurde abgelehnt. Erst seit 1670 waren wieder dauernd Juden in Pforzheim ansässig. 1672 musste ein Jude, der sonntags während der Mittagspredigt Vieh durch die Stadt trieb, 6 Kreuzer Strafe zahlen. 1673 wurden zwei Juden wegen Verwendung zu leichter Gewichte bestraft. 1682 erteilte Markgraf Friedrich Magnus (1677-1709) den Pforzheimer Juden Wolf und Moses Reutlinger auf vier Jahre das ausschließliche Recht, mit Häuten, Leder und Wolle im durlachischen Unterland zu handeln. Während der Franzoseneinfälle 1689 flohen die Juden vorübergehend. Nach der Einäscherung Pforzheims 1689 bezeichnete der Stadtrat als Mittel, der verarmten Stadt wieder aufzuhelfen u.a. auch die Ausweisung der Juden. Der Antrag hatte wie schon 1679 keinen Erfolg. Seit 1699 wurde wiederum eine Reihe von Juden nach Pforzheim in den Schutz aufgenommen. Vor der Zerstörung wird ein Judenhof in der Tränkgasse erwähnt. Wahrscheinlich war es eine jüdische Herberge.

1709 lebten in Pforzheim fünf Judenfamilien. Da Markgraf Karl Wilhelm (1709-1738) auch den Kindern der Juden das Schutzrecht erteilte, vermehrten sich die Juden rasch. 1723 zählte die Stadt 9 Judenfamilien, 1738 11, obwohl 1717 der Hofjude Model, 1724 dessen Schwiegersohn Salomon Mayer nach Karlsruhe übergesiedelt waren. Abraham Lipmann hatte 1709 eine Bittschrift eingereicht, in der er die Regierung um die Bestätigung der von ihnen gewählten Vorsteher bat. Model war als Schultheiß vorgesehen, aber die Bestätigung blieb aus. Diese Wahlen sind das erste Anzeichen für die Organisation einer eigenen Gemeinde der Juden in Pforzheim.

Das rasche Anwachsen der Judenschaft unter Karl Wilhelm erregte Missfallen. Ein besonders scharfer Gegner der Juden war der Geheimrat und Obervogt zur Glocken in Pforzheim. Am Tage vor Ostern 1726 ließ er den Juden eröffnen, sie dürften sich während des ganzen Osterfestes nicht auf der Straße blicken lassen. Täten sie es dennoch, würde er sie acht Tage in den Saustall sperren und jeden Tag mit Saudreck bewerfen lassen. Auch drohte er bei Übertretung mit einer Strafe von 10 Reichstalern und Einsperren in den Eselsstall. Die Juden durften außerdem das von ihnen nicht genossene Fleisch geschächteter Tiere nicht mehr wie bisher frei absetzen, sondern mussten es unter der Metzelhütte verkaufen. Alle diese Benachteiligungen berichteten die Pforzheimer Juden durch einen Eilboten an den Judenschultheißen nach Karlsruhe und baten um Hilfe beim Markgrafen. Zur Glocken scheint mit seinen rigorosen Maßnahmen nicht durchgedrungen zu sein.

Die Vermögensverhältnisse der Pforzheimer Juden waren im 18. Jahrhundert mit geringen Ausnahmen recht bescheiden. Anlässlich einer Umfrage von 1727 über ihre wirtschaftliche Lage baten sie um Befreiung von der Angabe ihres Vermögens, denn die meisten hätten nur geringe Mittel und die Angabe ihres wirklichen Vermögensstandes würde ihrem Kredit schaden. Ihre einzige Erwerbsmöglichkeit sei aber der Handel auf Kredit, womit sie sich mühsam durchbringen könnten. Auf Grund dieser Eingabe wurden die Pforzheimer Juden nicht, wie geplant, zu den Vermählungskosten des Erbprinzen (1727) herangezogen.

Nach dem Tode des Markgrafen Karl Wilhelm (1738) befand sich die Stadt Pforzheim, wie das ganze badische Land damals, in sehr schlechtem wirtschaftlichem Zustand. Die Schuld daran schob man den Juden zu. Die beiden Zunftmeister Tobias Friedrich Stein und Johann Christoph Schnell zu Pforzheim reichten im Namen der ganzen Bürgerschaft bei der vormundschaftlichen Regierung eine Denkschrift ein, worin sie sich u.a. auch über die Juden beschwerten. Diese hätten sich so stark vermehrt, dass sie mit ihrem Wucher und ihrem Viehhandel der Stadt und dem armen Bauersmann beträchtlich schadeten; auch hätten sie bei allem Handel und Wandel ihre Hand im Spiel, das Handwerk nicht ausgenommen. Als der Hofrat daraufhin eine Befragung der einzelnen Zünfte über die Berechtigung der Beschwerdeschrift der beiden Zunftmeister anstellte, zeigten sich alle Zünfte in der Klage über die Juden einig. Man bat, dass die Herrschaft die alte Ordnung wieder einführe, wonach nur zwei oder drei Judenfamilien in der Stadt zugelassen waren, die keinerlei offene Läden führen und auch kein Handwerk ergreifen durften. Die Bürgerschaft erbot sich außerdem, das Schutzgeld für die Juden zu zahlen, falls diese ausgewiesen würden.

Das Oberamt und der Geheime Ratspräsident von Uxküll gaben in der Sache zwar der Bürgerschaft recht, glaubten aber, die Herrschaft könne sich von den Bürgern keine Vorschriften machen lassen; auch bezweifelten sie sehr, ob die Bürger zum Ersatz des ausfallenden Judenschutzgeldes imstande wären. Inzwischen hatte die Bürgerschaft im Dezember 1738 auch eine Beschwerdeschrift wesentlich gleichen Inhalts eingereicht. Metzger und Zeugmacher fanden mit ihren Klagen kein Gehör. Bezüglich des Ankaufs von Wolle wurde das Verbot in der Landesordnung über den Vorkauf aufs neue eingeschärft, ebenso die allgemeine Verordnung von 1686 über das Verbot des Verkaufs von „gemeinem Tuch" unter 1 Gulden die Elle. Hausieren mit Tuchwaren blieb nach wie vor verpönt. Bezüglich des Ankaufs von Häuten und Fellen wurden die Juden auf die Bestimmungen der Landesordnung verwiesen. Strumpfwirker, Schneider, Handelsleute und Krämer wurden mit ihrem Gesuch um Verbot der jüdischen Konkurrenz abgewiesen.

Gegen die Einschränkung ihres Tuchhandels beschwerten sich die Pforzheimer Juden umgehend, da 1686 in Pforzheim mehr als 40 begüterte Tuchmacher gewesen seien, jetzt aber nur noch fünf, die keine Häuser besäßen und für ihre geringe Produktion genügend Absatz hätten. Die Juden hätten seit 27 Jahren Pforzheim durch ihren Tuchhandel bekannt gemacht. Von neun und mehr Stunden weit kämen die Bauersleute aus württembergischen und ritterschaftlichen Dörfern nach Pforzheim und brächten durch Zoll und Steuern der Herrschaft, durch Einkäufe und Zehrung der Stadt viel Nutzen; wenn man den Verkauf von gemeinem Tuch in Pforzheim verbiete, seien die Leute gezwungen, ihr Geld nach Bretten außer Land zu tragen. Da die Pforzheimer Tuchmacher nicht genügend „gemeines Tuch" herstellen konnten, hob das Hofratskollegium schließlich die Beschränkung des Tuchhandels auf.

Die Regierungsbehörden gaben aber keine Ruhe. 1740 erstattete Geheimrat Stadelmann der vormundschaftlichen Administration ein ausführliches Gutachten über die Sanierung der Pforzheimer Wirtschaft, worin er sich heftig über die Juden ausließ; es seien jetzt neun jüdische Haushaltungen in Pforzheim, wovon vier mit allerhand Kramwaren handelten. Durch ihre Zulassung sei christlichen Handelsleuten der Handel unmöglich gemacht, wozu ein einziger Jude genüge. Die Juden würden beim Handel betrügen und die Christen dazu bringen, gleich ihnen schlechte Ware zu verkaufen. Außer den vier Händlern seien aber noch fünf andere Juden in der Stadt, die sich mit Viehhandel, Schächten und dergleichen nährten oder - auf gut Deutsch -die Untertanen mit minderwertigem Vieh betrögen. Daraus erkläre sich die schlechte Lage der Metzger und der Niedergang des früher sehr bedeutenden Viehmarkts in Pforzheim. Stadelmann klagte auch über den schlechten Zustand des Landes überhaupt und die Schuld der zahlreichen Juden hieran. Wer den Juden Schutz erteile, autorisiere damit öffentliche Spitzbuben in seinem Land dazu, seine Untertanen zu verderben. Abschließend machte Stadelmann bezüglich der Juden einige Vorschläge, die für das ganze Land galten. Das Ergebnis dieser Beschwerde der Stadt Pforzheim über ihre Juden war die für das ganze badische Unterland geltende Judenordnung von 1745, die nach dem Regierungsantritt Karl Friedrichs 1747 teilweise zugunsten der Juden geändert wurde.

Unter Karl Friedrich, der bis 1811 regierte, konnten die Juden verhältnismäßig ungestört leben. Trotzdem nahm die Zahl der Pforzheimer Juden bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts nur geringfügig zu. 1784 lebten hier 13 Judenfamilien mit 85 Seelen, 1789 100 Juden, 1801 17 Familien mit 103 Seelen, 1810 95 Seelen, 1825 128, 1837 118, 1846 146, 1849 154 und 1858 164 Juden. Zu den ältesten Familien gehörten die Familien Schlesinger (nachweislich seit 1706 in Pforzheim), Lay (seit 1809) und Kuhn (seit 1813). Die völlige Emanzipation der Juden und der durch die aufblühende Uhren- und Schmuckindustrie verursachte Aufstieg Pforzheims zur Großstadt brachte auch ein Anwachsen der jüdischen Gemeinde mit sich. Zuzüge von außen erfolgten, mit Ausnahme von Königsbach, nur wenige. Von 1861 bis 1925 wuchs die Gemeinde um mehr als das Fünffache: 1861 168, 1875 287, 1900 535, 1910 766, 1925 886. 1927 wurde die Zahl von 1 000 Seelen überschritten. Im Juni 1933 lebten nur noch 770 Juden in Pforzheim. Im Ersten Weltkrieg hatte die Stadt 11 jüdische Gefallene zu beklagen.

Bis zum frühen 18. Jahrhundert lebten die Pforzheimer Juden vom Handel auf Kredit. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts hatten sie den Handel mit Häuten, die sie massenhaft nach dem Elsass und der Schweiz ausführten, vollständig in der Hand. 1738 betrieben sie in Pforzheim sechs offene Kramläden mit allen möglichen Waren. Etliche hausierten mit Tuchen, Strumpfwaren, Kleidern, Wolle, Vieh, Häuten, Leder und geschächtetem Fleisch. Trotz wiederholter Beschwerden der erbitterten Zünfte sollten die Juden beim wirtschaftlichen Aufstieg der Stadt eine bedeutende Rolle spielen.

Als 1767 Markgraf Karl Friedrich die Bijouterie-Industrie begründete, die bald Pforzheims Lebensnerv werden sollte, kamen ihr die Beziehungen der Juden zum Ausland zugute. Bis ins 19. Jahrhundert besorgten ausschließlich sie den Goldhandel. Bereits 1784 baten die Pforzheimer Schmuckwarenfabrikanten, man möge den Juden allen Handel mit Bijouteriewaren und den Goldverkauf verbieten, da sie Wucher und Betrug treiben würden. Als die Regierung daraufhin nach französischem Muster einen staatlichen Kontrolleur mit dem Goldhandel beauftragen wollte, zogen die Fabrikanten ihren Antrag zurück und ließen doch lieber ihr Gold durch die Juden besorgen.

Für den großen Geldbedarf der Bijouterie-Industrie gab es bis in die 1850er Jahre in Pforzheim kein eigentliches Bankinstitut. Das erste Geschäft dieser Art führte Nathan Wolf ein, und zwar kommissionsweise. Bald folgte die Gründung der Bankhäuser Robert Bloch und Fuld & Co. Nach dem Ersten Weltkrieg beherrschte die Bankiersfamilie Kahn zusammen mit der Rheinischen Kreditbank den Geldmarkt für den Pforzheimer Hauptindustriezweig, der nicht zuletzt den jüdischen Bankiers seinen raschen Aufstieg verdankt.

In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zog ein wahrer Goldrausch von überall her Arbeiter und Unternehmer in die Goldstadt. Unter den Schmuck- und Uhrenfabriken gab es um 1933 ungefähr 20 jüdische Betriebe. Die bekanntesten unter ihnen waren Ballin, Louis Kuppenheim, Alfred Rosenfeld und S. B. Schlesinger. Etwa ebenso groß war die Zahl der jüdischen Gold-, Silber-, Perlen-, Schmuckwaren- und Uhrengroßhändler bzw. Exporteure, die den Schmuckfabriken Absatzmärkte eröffneten.

Die jüdischen Geschäfte für die täglichen Bedarfsartikel waren nicht weniger zahlreich. Etwa 15 Textilwarengeschäfte, 7 Schuhgeschäfte, 7 Metallwaren- und Eisenhandlungen, 2 Möbelgeschäfte, 3 Pelzgeschäfte, 1 Teppichhandlung, 2 Kolonialwarenhandlungen, 2 Kaufhäuser (Geschwister Knopf und Krüger & Wolf), 2 Weinhandlungen, 1 Rohproduktenhandlung, 2 Zigarrenhandlungen, 3 Metzgereien und die Pforzheimer "Eierzentrale" befanden sich um 1933 in jüdischem Besitz. Außerdem gab es unter den jüdischen Einwohnern zu dieser Zeit 1 Schreiner, 1 Friseur, 3 Schneider, 1 Kürschner, 2 Immobilienmakler und ein halbes Dutzend Viehhändler. Zu erwähnen sind noch die Fabriken für technische Bürsten Max Abrahamsohn und Walter Wolf sowie das Schotter- und Kalkwerk Ludwig Esslinger.

Seit der Emanzipation wurde auch in den akademischen Berufen die Zahl der Juden immer größer. Praktische Ärzte waren Dr. Nathan Roos, Dr. Wilhelm Rosenberg und Dr. Fritz Schnurmann. Medizinalrat Dr. Rudolf Kuppenheim, der Bruder des Fabrikanten Louis Kuppenheim, war Frauenarzt, Dr. Hermann Netter Kinderarzt. Zahnärzte waren Dr. Kurt Ehrenberg und Dr. Bernhard Kern. Dr. Walter Freundlich übte den Beruf eines Tierarztes aus. Jüdische Rechtsanwälte gab es 5. Dr. Simon Bloch, Max Bodenheimer und der von 1936 bis 1939 in Danzig tätige Dr. Fritzmartin Ascher waren Gymnasialprofessoren. Dr. Samuel Erich war Odenheimer Landgerichtsdirektor. Emil Levinger, seit 1935 Vorsteher der jüdischen Gemeinde, war vor 1933 Mitglied des Stadtrates. Nur die wichtigsten Namen und Unternehmen konnten in diesem Rahmen als Zeugen jüdischen Fleißes und jüdischer Strebsamkeit erwähnt werden.

Die Pforzheimer Juden hielten ihre Gottesdienste seit dem 18. Jahrhundert in einem Betsaal am Hasenmeyerschen Haus in der Barfüßergasse ab. 1812 erbaute die jüdische Gemeinde eine Synagoge an der Stelle des 1805 abgebrannten sogenannten „Eselstalles" in der Metzgerstraße. Dieses Gotteshaus benützten die Juden bis 1893. In diesem Jahre wurde die von Prof. Levy aus Karlsruhe und Architekt Klein in Pforzheim im maurisch-gotischem Stil erbaute neue Synagoge in der Zerrenerstraße eingeweiht. Die Baukosten betrugen 200.000 Mark. 1930 wurde die Synagoge großzügig renoviert. Die Synagogengemeinschaft gehörte seit 1827 zum Rabbinatsbezirk Karlsruhe, seit 1885 zur Ortssynagoge Karlsruhe-Pforzheim. Die karitativen und sozialen Aufgaben in der Gemeinde nahmen der Frauenverein, der Frauenbund, der Armenunterstützungsverein und der Wohltätigkeitsverein Chewra Kaddischa wahr. Die Mitglieder des Unabhängigen Ordens B'ne B'rith waren in der Zähringer-Loge zusammengeschlossen. Stiftungen von Adolf und Pauline Kahn, Ludwig Schlesinger, Paul Josef und Auguste Rothschild gaben dem Synagogenrat Mittel für Erziehungsbeihilfen und andere gute Zwecke an die Hand.

Ihre Toten begruben die Pforzheimer Juden bis 1846 auf dem Verbandsfriedhof in Obergrombach. 1846 bis 1878 besaß die jüdische Gemeinde einen eigenen Friedhof in der Eutinger Straße. 1877 wurde bei der Eröffnung des allgemeinen Friedhofes auf der Schanz den Juden die nordöstliche Ecke als Begräbnisplatz zugeteilt. Bis 1940 wurden hier 378 Juden beigesetzt, davon 33 seit 1933. Der alte Judenfriedhof wurde später durch Anlagen des städtischen Gaswerks überbaut.

Kurz nach den Konstitutionsgesetzen von 1808/1809 besuchten die ersten jüdischen Kinder den Unterricht in den öffentlichen Stadtschulen. 1832 wurde eine eigene israelitische Volksschule gegründet und im Synagogengebäude untergebracht. Die Stadt zahlte einen Beitrag zum Unterhalt der Schule, bis die Konfessionsschulen in Baden aufgehoben wurden.

Die nationalsozialistische Judenverfolgung setzte in Pforzheim gleich nach der Machtergreifung Hitlers am 30. Januar 1933 in voller Schärfe ein. 18 polnische Judenfamilien, die nach dem Ersten Weltkrieg zugewandert waren, mussten als erste die Stadt verlassen. Der am 1. April 1933 durchgeführte wirtschaftliche Boykott der jüdischen Geschäfte zwang alteingesessene Pforzheimer Juden zur Auswanderung. Der Ausverkauf beim Abbau ihrer Geschäfte wurde vom „Pforzheimer Anzeiger" boykottiert. Bis Ende 1933 waren 13 Prozent der Pforzheimer Juden außer Landes. Die zionistische Ortsgruppe hatte 1936 61 Mitglieder, die auf ihre Auswanderung warteten. 1936 musste für die jüdischen Kinder eine eigene Schule eingerichtet werden, die zusammen mit den Kindern aus Königsbach von 60 Schülern besucht wurde. Im November 1938 waren es nur noch 22.

In der Kristallnacht wurde um 9 Uhr morgens die Synagoge gestürmt, Gebetbücher und andere Ritualien in den vorbeifließenden Kanal geworfen und anschließend in der Synagoge eine Sprengladung zur Detonation gebracht, die aber keinen großen Schaden anrichtete. Auch der Friedhof wurde bei dieser Aktion geschändet, jüdische Wohnungen und Geschäfte demoliert und die Männer in das KZ Dachau eingeliefert, von wo sie erst nach Wochen zurückkehrten. Zahlreiche von ihnen waren vorher systematisch verprügelt worden. Die SA war in Schlägertrupps zu etwa vier Mann eingeteilt worden. Jede Gruppe erhielt einen Gummiknüppel und eine Namensliste - so „spontan" wurde hier „Volkswut" inszeniert. Nach diesen schrecklichen Ereignissen setzte eine neue, noch größere Auswanderungswelle ein. Gut zwei Drittel der jüdischen Einwohner Pforzheims konnten wenigstens ihr Leben ins Ausland retten. Als bevorzugte Auswanderungsländer galten die USA (175) und Palästina (102), ferner England (48), Argentinien (46), Brasilien (32) und Frankreich (31). Der Rest zerstreute sich in nahezu zwanzig verschiedene Länder.

Am 22. Oktober 1940 wurden aus Pforzheim 183 jüdische Bürger nach Gurs deportiert. Der konvertierte Frauenarzt Dr. Rudolf Kuppenheim brachte kurz vor der vermeintlichen Verhaftung sich und seine „arische" Ehefrau durch Gift um. Von den Deportierten starben mindestens 20 an den katastrophalen Verhältnissen in den französischen Lagern, 47 wurden nachweislich befreit, etwa 50 im Vernichtungslager Auschwitz ermordet, der Rest in anderen Konzentrationslagern. Die in Pforzheim zurückgebliebenen Juden wurden zwischen dem 2. Juni 1942 und dem 14. Februar 1945 nach Izbica und vor allem nach Theresienstadt deportiert. Aus Theresienstadt kehrten 17 wieder nach Pforzheim zurück, aus Gurs 4.

Die heute in Pforzheim lebenden Juden haben sich der Israelitischen Gemeinde Karlsruhe angeschlossen. An die alte jüdische Gemeinde erinnert nur noch der neue jüdische Friedhof, der auch jetzt wieder belegt wird.

In dieser Studie nachgewiesene Literatur

  • Marx, Hermann, Aus der Vergangenheit der Gemeinde Pforzheim, in: Mitt.-Blatt des Oberrats 9, 1957, Nr. 10. 
  • Pflüger, Johann Georg Friedrich, Geschichte der Stadt Pforzheim, 1862. 
  • Stolz, Aloys, Geschichte der Stadt Pforzheim, 1901.

 

Ergänzung 2023:

In den 1980ern erfolgte die Neugründung einer Israelitischen Gemeinde in Pforzheim, die zunächst in Betsälen zusammentrat. 2006 konnte schließlich die neue Synagoge eingeweiht werden.

 

Zitierhinweis: Hundsnurscher, Franz/Taddey, Gerhard: Die jüdischen Gemeinden in Baden, Stuttgart 1968, Beitrag zu Pforzheim, veröffentlicht in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 20.12.2022

Lektüretipps für die weitere Recherche

  • Badische Synagogen, hg. Franz-Josef Ziwes, Karlsruhe 1997, S. 56-59.
  • Brändle, Gerhard, Die jüdischen Mitbürger der Stadt Pforzheim, Pforzheim 1985.
  • Brändle, Gerhard, Jüdische Gotteshäuser in Pforzheim, Pforzheim 1990.
  • Brändle, Gerhard, Jüdisches Pforzheim. Einladung zur Spurensuche, Haigerloch 2001.
  • Germania Judaica, Bd.2, 2. Halbband, hg. von Zvi Avneri, Tübingen 1968, S. 645f.
  • Germania Judaica Bd.3, 2. Teilband, hg. von Arye Maimon/Mordechai Breuer/Yacov Guggenheim, Tübingen 1995, S. 1106-1107.
  • Jüdisches Leben in Pforzheim – Dokumentation, 2012.
  • Preuß, Monika, Der jüdische Friedhof auf der Schanz in Pforzheim, Pforzheim 1994.
  • Timm, Christoph, Jüdisches Leben in Pforzheim. Vom Mittelalter bis heute, Bd. 3., 2021.
  • Twiehaus, Christiane, Synagogen im Großherzogtum Baden (1806-1918). Eine Untersuchung zu ihrer Rezeption in den öffentlichen Medien, (Schriften der Hochschule für jüdische Studien Heidelberg), Heidelberg 2012, S. 109-114.
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