Tübingen mit Reutlingen und Rottenburg
Dieser Beitrag stammt aus der Studie von Paul Sauer, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern. Denkmale, Geschichte, Schicksale, hg. von der Archivdirektion Stuttgart (Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg 18), Stuttgart 1966.
Die Studie wird hier in der Originalfassung als Volltext zugänglich gemacht und separat bebildert. Inhalte und Sprachgebrauch entsprechen dem Stand von 1966. Weitere Informationen zur Entstehung und Einordnung der Studie finden Sie hier.
In der von den Pfalzgrafen von Tübingen gegründeten, seit 1342 württembergischen Stadt werden 1337 erstmals Juden genannt. Die 1350 erwähnte Judengasse, deren Name sich bis heute erhalten hat, deutet auf eine Siedlung hin, die mindestens bis zu den Ausschreitungen während der Jahre 1348/49 bestanden haben muss. 1456 wurden alle jüdischen Einwohner bis auf eine Familie (Kaufmann Jud und seine Ehefrau Bel Jüdin) aus der Stadt vertrieben. 1471 waren hier Jud Gutmann, David Jud und Sory, seine Schwester, ansässig. Anlässlich der Gründung der Universität im Jahr 1477 ordnete Graf Eberhard im Bart die Ausweisung aller Juden aus Tübingen an.
Die ersten Juden, die sich 400 Jahre später wieder in der Stadt niederließen, kamen aus dem nahen Wankheim: 1848 zog Leopold Hirsch hierher. Ihm folgten bald weitere Familien, unter ihnen der jungverstorbene Universitätsprofessor Dr. jur. Leopold Pfeiffer. Im Frühjahr 1882 wurde die israelitische Gemeinde Wankheim aufgelöst, zu der die Tübinger Juden bisher gehört hatten, und an ihrer Stelle die hiesige Gemeinde gegründet. Am 8. Dezember jenes Jahres fand die feierliche Einweihung der Synagoge in der Gartenstraße statt, die der Gemeinde bis zur Zerstörung im November 1938 als Gotteshaus diente. 1869 hatte die Stadt 34 jüdische Bürger, 1886 106, 1900 100, 1910 139 und 1933 (Juni) 90. Zur israelitischen Religionsgemeinde, die dem Rabbinat Mühringen, später dem Rabbinat Horb unterstand, gehörten auch die Juden in Reutlingen (1933 54) und Rottenburg (1933 11). Die Juden nahmen regen Anteil am öffentlichen Leben der Stadt: Rechtsanwalt Simon Hayum gehörte von 1919 bis 1925 dem Gemeinderat an, Kaufmann Leopold Hirsch war Mitglied der Stadtgarde zu Pferd. Unter den Tübinger Gefallenen des Ersten Weltkriegs befanden sich auch 2 Juden: Ernst Degginger und Julius Stern. Anfang 1933 hatte Dr. Heinz Oppenheim, Facharzt für Hals, Nasen und Ohren, eine Praxis, als Rechtsanwälte waren tätig Dr. Heinz Hayum, Simon Hayum und Dr. Julius Katz, als Gymnasialprofessor Dr. Ludwig Spiro, als Verlagsleiter bei der Schwäbischen Chronik Hermann Weil. An größeren Unternehmen und Geschäften, die damals im Besitz jüdischer Bürger waren, sind zu nennen: Bankhaus Weil; Gustav Lion, Herrenkonfektion; Oppenheim & Schäfer, Damenkonfektion und Aussteuer; Leopold Hirsch, Herrenkonfektion; Hugo Löwenstein, Tapeten-, Teppiche-, Linoleum-Großhandel. Außerdem bestanden mehrere Viehhandlungen (Erlanger, Löwenstein usw.).
An der Universität durften seit 1819 Juden studieren. Im Wintersemester 1832/33 war Berthold Auerbach in Tübingen immatrikuliert, der sich hier der Burschenschaft Germania anschloss [Nordstetten].
Schon vor der nationalsozialistischen Machtergreifung verwickelte die SA wiederholt jüdische Bürger in Schlägereien. Das Geschäft von Gustav Lion in der Neckarstraße wurde mit Wasserglas beschmiert. Unter der Tübinger Studentenschaft war die antijüdische Agitation in den ersten Monaten des Jahres 1933 bereits stark angewachsen. Am 7. Februar forderte der Allgemeine Studentenausschuss einen Professor auf, seinen jüdischen Assistenten durch einen „deutschen" zu ersetzen. Demgegenüber verdient festgehalten zu werden, dass sich die Verbindung Suevia 1934 weigerte, ihre Mitglieder mit jüdischen Verwandten auszuschließen. Der in London erscheinende „Jewish Chronicle" nannte dies einen „gallant stand".
Am 1. April 1933 nahmen vor den jüdischen Geschäften Boykottposten der SA Aufstellung. Ein Großteil der Bevölkerung begann unter dem Druck der nationalsozialistischen Partei die jüdischen Geschäfte, Rechtsanwälte und Ärzte zu meiden. Schon im Juni 1933 verbot die Stadtverwaltung Juden den Besuch der städtischen Bäder. In der Nacht zum 10. November 1938 steckten einige SA-Leute unter Führung des Kreisleiters die Synagoge in Brand. Die Feuerwehr durfte nicht löschen, sondern musste sich auf den Schutz der Nachbargebäude beschränken.
Die meisten jüdischen Bürger konnten sich zwischen 1933 und 1941 im Ausland in Sicherheit bringen. 14 Juden wurden in den Jahren 1941 und 1942 nach Riga, Izbica, Theresienstadt und Auschwitz deportiert. Von den Zwangsverschleppten kehrte nur der heute in Amerika lebende Viktor Marx zurück, dessen Frau und Tochter sich unter den Umgekommenen befanden. Zwei Bürger machten ihrem Leben unmittelbar vor dem Abtransport nach Theresienstadt ein Ende: Clara Wallersteiner und der zuletzt in Stuttgart wohnhafte Religionslehrer Dr. Josef Wochenmark. Die israelitische Gemeinde Tübingen war bereits im Juli 1939 aufgelöst worden.
Von den 65 jüdischen Bürgern (meist Geschäftsleuten und Fabrikanten), die 1933 in Reutlingen und Rottenburg wohnhaft waren, und den 12 Juden, die während der Verfolgungszeit noch nach Reutlingen zuzogen, kamen nachweisbar 16 in der Deportation um, während zwei 1937 bzw. 1941 Selbstmord begingen.
In dieser Studie nachgewiesene Literatur
- Bild von der Synagoge, in: Jüdische Gotteshäuser und Friedhöfe, 1932, S. 129.
- Zur Geschichte der Tübinger Gemeinde, in: Gemeindezeitung für die israelitischen Gemeinden Württembergs Jg. 2 Nr. 2, 15. April 1925, S. 32 f.
Ergänzung 2023
Heute steht am ehemaligen Standort der Synagoge eine Wohnanlage. Die beim Bau der Anlage gefundenen Fundamente des Gotteshauses wurden in die Kellerräume des Neubaus integriert.
Zitierhinweis: Sauer, Paul, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern, Stuttgart 1966, Beitrag zu Tübingen, veröffentlicht in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 20.11.2022
Lektüretipps für die weitere Recherche
Tübingen
- Germania Judaica, Bd.3, 2. Teilband, hg. von Arye Maimon/Mordechai Breuer/Yacov Guggenheim, Tübingen 1995, S. 1489-1490.
- Hahn, Joachim/Krüger, Jürgen, „Hier ist nichts anderes als Gottes Haus...“. Synagogen in Baden-Württemberg. Band 1: Geschichte und Architektur. Band 2: Orte und Einrichtungen, hg. von Rüdiger Schmidt (Badische Landesbibliothek, Karlsruhe) und Meier Schwarz (Synagogue Memorial, Jerusalem), Stuttgart 2007.
- Märkle, Matthias, Jüdische Studenten an der Universität Tübingen 1807 bis 1871, in: Tübinger Bausteine zur Landesgeschichte, Bd. 23, 2013.
- Schlott, Adelheid, Die Geschichte der Geschichten des Tübinger Synagogenplatzes, in: Tübinger Besonderheiten, Bd. 3, Tübingen 2009.
- Schlott, Adelheid, Zur Erinnerung an die Synagoge in Tübingen Gartenstraße 33 (1882-1938). Zeugnisse und Dokumente, in: Schriftenreihe des Fördervereins für Jüdische Kultur in Tübingen e.V., Bd. 1, Tübingen 2016.
- Schönhagen, Benigna, Jüdisches Tübingen um 1900, in: Tübinger Blätter (2001), S. 45-52.
- Schönhagen, Benigna/Setzler, Wilfried, Jüdisches Tübingen. Schauplätze und Spuren, 1999.
- Schönhagen, Benigna, Tübingen unterm Hakenkreuz, 1991.
- Ulmer, Martin, Pogromnacht 1938, in: Tübinger Blätter 1998/99, S. 27-31.
- von Bremen, Benedict, Wirtschaftliche Ausplünderung von Textilgeschäften in Klein- und Mittelstädten. Die Beispiele Tübingen, Hechingen und Horb, in: Ausgrenzung. Raub. Vernichtung. NS-Akteure und „Volksgemeinschaft“ gegen die Juden in Württemberg und Hohenzollern 1933 bis 1945, hg. von Heinz Högerle/Peter Müller/Martin Ulmer, Stuttgart 2019, S. 127-142.
- Wege der Tübinger Juden. Eine Spurensuche, Dokumentarfilm, hg. von Geschichtswerkstatt Tübingen, Tübingen 2004.
- Zapf, Lilli, Die Tübinger Juden, Tübingen 1978.
- Zerstörte Hoffnungen. Wege der Tübinger Juden, in: Beiträge zur Tübinger Geschichte, Bd. 8, hg. von der Geschichtswerkstatt Tübingen, Stuttgart 1995.
Reutlingen
- Serger, Bernd/Böttcher, Karin-Anne, Es gab Juden in Reutlingen. Geschichte - Erinnerungen - Schicksale. Ein historisches Lesebuch, hg. vom Stadtarchiv beim Kulturamt Reutlingen, Reutlingen 2005.
Rottenburg
- Germania Judaica, Bd.2, 2. Halbband, hg. von Zvi Avneri, Tübingen 1968, S.719.
- Hüttenmeister, Frowald Gil, Der jüdische Friedhof in Wankheim, 1995.
- Kienzle, Paula, Spuren sichern für alle Generationen. Die Juden in Rottenburg im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 2008.
- Lang, Stefan, Ausgrenzung und Koexistenz. Judenpolitik und jüdisches Leben in Württemberg und im „Land zu Schwaben“ (1492-1650), in: Schriften zur Südwestdeutschen Landeskunde, Bd. 63, Sigmaringen 2008.
- Müller, H. P., Die Juden in der Grafschaft Hohenberg, in: Der Sülchgau 25 (1981), S. 36-43.
- Veitshans, H., Historischer Atlas 5, S. 51-52.
- Veitshans, H., Historischer Atlas 6, S. 5 und S. 26.