Rastatt mit Muggensturm

Die neue Synagoge in Rastatt, vor 1938. Während der Pogrome im November 1938 wurde das Gebäude durch Brand- und Sprengsätze zerstört. [Quelle: Landesarchiv BW, HStAS EA 99/001 Bü 305 Nr. 1490]
Die neue Synagoge in Rastatt, vor 1938. Während der Pogrome im November 1938 wurde das Gebäude durch Brand- und Sprengsätze zerstört. [Quelle: Landesarchiv BW, HStAS EA 99/001 Bü 305 Nr. 1490]

Dieser Beitrag stammt aus der Studie von Franz Hundsnurscher und Gerhard Taddey, Die jüdischen Gemeinden in Baden. Denkmale, Geschichte, Schicksale, hg. von der Archivdirektion Stuttgart (Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg 19), Stuttgart 1968.

Die Studie wird hier in der Originalfassung als Volltext zugänglich gemacht und separat bebildert. Inhalte und Sprachgebrauch entsprechen dem Stand von 1968. Weitere Informationen zur Entstehung und Einordnung der Studie finden Sie hier.

Das markgräflich badische Dorf Rastatt fiel 1533 der baden-badischen Linie zu. 1705 verlegte Markgraf Ludwig Wilhelm, der Türkenlouis, seine Residenz von Baden-Baden nach dem inzwischen zur Stadt erhobenen Rastatt. Seit dem Aussterben der baden-badischen Linie 1771 gehörte Rastatt zur wiedervereinigten Gesamtmarkgrafschaft Baden. 1697 bis 1920 war die Stadt Festung.

Unter der Regierung des Markgrafen Philipp II. (1535-1588) lebten auch im Amt Rastatt Juden. Als sie 1584 des Landes verwiesen wurden, war von den beiden reichen Judenfamilien, die des Silberkaufs, Geldwechsels und Pferdehandels wegen bleiben durften, eine in Rastatt sesshaft. Sie musste 500 Gulden Schutzgeld zahlen. Unter Markgraf Ernst Friedrich (1594-1604) von Durlach, der seit 1594 die verschuldete baden-badische Markgrafschaft verwaltete, wurden 1601 zwei Judenfamilien nach Rastatt in den Schutz genommen. Neben dem Schirmgeld hatten die Aufgenommenen noch Schatzung und Bede zu entrichten. Außerdem mussten sie zur Unterhaltung der Post zwischen Rötteln und Pforzheim, die 1605 in Staatsbetrieb übernommen wurde, beisteuern. Die Juden Mendle und Esias wurden zu den entsprechenden Verhandlungen aus Rastatt nach Durlach berufen. 1609 wurde ein Jude auf fünf Jahre in den Schutz nach Rastatt aufgenommen. 1613 mussten die Juden zu Rastatt zwei Pferde mit Sattel und Zeug versehen an die markgräfliche Regierung nach Durlach verleihen. Markgraf Georg Friedrich (1604-1622) vertrieb alle Juden aus der Markgrafschaft. Erst 1683 sind danach in Rastatt wieder 3 Judenfamilien erwähnt. Beim Einfall der Franzosen 1689 flohen sie über den Rhein, kehrten aber 1700 wieder zurück. 1701 und 1721 saßen 5 Judenfamilien in Rastatt, 1724 4. Zwischen 1753 und 1759 erfolgte wieder eine Neuaufnahme. 1825 lebten in Rastatt 61 Juden, 1834 39, 1845 100, 1865 158, 1875 230, 1900 227, 1925 197, 1931190 und 1933 155.

Seit 1720 hielten die Rastatter Juden ihren Gottesdienst im Hause des Daniel Kassel (Kusel) ab, der in der inneren Stadt wohnte. Wiederholt kamen Streitigkeiten und Störungen in der „Judenschule" vor, die die Regierung zum Einschreiten nötigten. 1741 verordnete daher Markgraf Ludwig Georg, dass die Juden ihre Schule in Zukunft nicht mehr in der Stadt, sondern jenseits der Murg in der Vorstadt halten sollten. Die Urheber des letzten großen Streites wurden mit einer Geldstrafe belegt und dem Juden Kassel trotz vieler Bitten nicht mehr gestattet, in seinem Hause den Gottesdienst zu halten. Im März 1741 baten die Juden um Erlaubnis, in der Vorstadt ein Bethaus bauen zu dürfen. Das Gesuch wurde abgeschlagen und auf Vorschlag des Obervogts zu Rastatt verboten, fernerhin überhaupt gemeinschaftliche Schule (= Gottesdienst) zu halten, vielmehr sollte jeder seine Gebete bei sich in seinem Hause verrichten. Schließlich wurde 1747 erlaubt, den Rabbiner Samuel Weil, Sohn des Landrabbiners in Karlsruhe, als Schulmeister anzunehmen. Er wurde von allen Abgaben befreit. Erst 1829 wurde den Rastatter Juden gestattet, in der Augusta-Vorstadt ein Bethaus zu errichten (Hildastraße 9). Bei der Einweihung waren alle christlichen Konfessionen aus Rastatt vertreten. Als diese alte Synagoge zu klein wurde und die Baupolizei obendrein kostspielige Umbauten verlangte, wurde das Gebäude verkauft und als Ersatz 1905/06 nach den Plänen von Professor Levy aus Karlsruhe eine neue Synagoge auf ehemaligem Festungsgelände errichtet. Sie wurde am 11. September 1906 eingeweiht. Die Synagogengemeinde Rastatt gehörte seit 1827 zum Rabbinatsbezirk Bühl.

Ihre Toten beerdigten die Rastatter Juden auf dem seit 1692 bestehenden Verbandsfriedhof bei Kuppenheim; seit 1880 gab es in Rastatt einen eigenen jüdischen Friedhof im Gewann Raustückelfeld an der Straße nach Karlsruhe. An religiösen Vereinen gab es in der Gemeinde einen Kranken- und einen Frauenverein. Der Central-Verein, der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten und der Jüdische Jugendbund hatten kleinere Ortsgruppen in Rastatt.

Am 1. Mai 1769 fand in Rastatt eine Zusammenkunft von Abgeordneten aller jüdischen Gemeinden der Markgrafschaft Baden-Baden statt, zu der sich auch der Oberrabbiner Nathanael Weil aus Karlsruhe eingefunden hatte. Hier erkrankte der hochbetagte Greis und starb am 7. Mai 1769. Sein Leichnam wurde unter großer Beteiligung feierlich zu Fuß nach Karlsruhe überführt, obwohl auch die Rastatter Juden diesen großen Glaubensgenossen gern in ihrer Mitte begraben hätten.

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts betrieben Pelta Epstein, seit 1798 Rabbiner in Bruchsal, und sein Schwager Hirsch Moses Wormser eine hebräische Druckerei in Rastatt, die Gebetbücher, wertvolle Bibelausgaben mit Übersetzungen und Erklärungen und andere Werke herausgab. Später wurde diese Druckerei nach Karlsruhe verlegt.

Zu Anfang des 19. Jahrhunderts waren nur drei Juden Besitzer von Häusern, und zwar in den Stadtteilen „Stadt" und „Schwabengasse". In der Schwabengasse lag auch die Judenwirtschaft des Löw Simson „Zum Rössel". Die industrielle Entwicklung der Stadt begann erst mit dem Abbau der Wälle 1888 und 1920 und dem Wegfall der die Niederlassung größerer gewerblicher Betriebe im Festungsbereich hemmenden Sonderbestimmungen. An ihr nahmen die Juden regen Anteil. Zu Beginn des Dritten Reiches, als die Zahl der jüdischen Einwohner schon stark zurückgegangen war, gab es an jüdischen Unternehmen die Schuhfabrik S. Weil und Söhne oHG, die Bad. Polierscheiben- und Putzwollfabrik Groener und Bloch oHG, die Kartonagenfabrik Dreyfuß & Roos, 2 Eisenhandlungen, 1 Fasshandlung, 6 Geschäfte der Lebensmittelbranche, 1 Möbel-, 2 Manufakturwaren-, 1 Schuh-, 1 Hutgeschäft, 1 Lederhandlung, 1 Tabakgroßhandlung, 1 Ö1- und Fetthandlung, 1 Garn- und Strickwarengeschäft, 1 Lumpensortieranstalt und das Kaufhaus Knopf. Arnold Lion war Rechtsanwalt, Dr. Alfred Grünebaum praktischer Arzt und Dr. Paul Kuhn Oberarzt am Rastatter Krankenhaus. Salomon Kuppenheimer betätigte sich als Pferdehändler, Leopold Loeb, Sally Maier, Isaak II Wertheimer und Moritz Wertheimer trieben Viehhandel. Isaak II Wertheimer war zugleich Inhaber des Gasthauses „Zum Wilden Mann".

Der wirtschaftlichen Bedeutung entsprach auch die Anteilnahme der Juden am öffentlichen Leben der Stadt. Schon 1877 war ein Josef Altschul Mitglied des Bürgerausschusses; bis 1933 waren immer wieder Juden Bürgerausschussmitglieder oder Mitglieder verschiedener örtlicher Vereine. Das Zusammenleben mit der christlichen Bevölkerung wird als gut bezeichnet.

Umso schmerzlicher wurde die mit dem Boykott am 1. April 1933 beginnende Verfolgungszeit empfunden. Gaststätten und Geschäfte, in denen Juden unerwünscht waren, wurden gekennzeichnet. Allmählich drängte man die Juden wieder ins Ghetto zurück, aus dem sie erst hundert Jahre zuvor entronnen waren. In der Kristallnacht im November 1938 wurde von Parteimitgliedern die Synagoge geplündert und niedergebrannt. Ebenso wurden jüdische Wohnungen und Geschäfte geplündert und demoliert und die jüdischen Männer nach Dachau abtransportiert, nachdem man auf dem Bahnhof eine Art Spießrutenlaufen mit ihnen veranstaltet hatte. Etliche Tage später sprengten Pioniere der Wehrmacht die Synagogenruine und ebneten den Platz auf Kosten der jüdischen Gemeinde ein. Die Urkunden aus dem Grundstein wurden auf dem Rathaus abgeliefert. Die Stadtbevölkerung zeigte sich über diese barbarischen Maßnahmen sehr beschämt. Die Mutigen unter ihnen boten jüdischen Familien, deren Wohnungen demoliert waren, in ihren Wohnungen Schutz. In der Wohnung des Religionslehrers und Kantors Siegfried Simon wurde in der Folgezeit Gottesdienst gefeiert, bis die Gläubigen in Verdacht gerieten, geheime Versammlungen abzuhalten.

Nach dem Novemberpogrom 1938 wurden die letzten jüdischen Geschäfte verkauft, und die zweite Auswanderungswelle setzte ein. Ungefähr zwei Drittel der jüdischen Bevölkerung gelang die Auswanderung vornehmlich nach den USA, nach Frankreich und Palästina. Über 30 zogen innerhalb Deutschlands um. Am 22. Oktober 1940 wurden aus Rastatt 30 jüdische Einwohner nach Gurs deportiert. Von ihnen starben 6 in Gurs, je 1 in Noe und Rivesaltes an den Folgen der Entbehrungen. 8 Deportierte konnten in die Freiheit gelangen. Die übrigen dürften ziemlich ausnahmslos in den Vernichtungslagern im Osten ermordet worden sein. Wie durch ein Wunder überlebte Helene Samuel das KZ Auschwitz. Über Krakau, Odessa und Marseille kehrte sie 1945 nach Rastatt zurück. Ein ebenso seltenes Glück hatte die Tochter der Eheleute Albert und Regina Maier, die aus Auschwitz nach Rastatt zurückkehrte, wo sie ihre aus Gurs befreiten Eltern wiedersah. Der Ehemann von Helene Samuel kam Ende März 1943 in Lublin-Maidanek, ihr Sohn am 3. April 1945 im KZ Mauthausen um. In Rastatt überlebte nur eine in Mischehe lebende Jüdin den Krieg.

Als 1964 am ehemaligen Rabbinerhaus am Leopoldring in Rastatt eine Gedenktafel an die zerstörte Synagoge angebracht wurde, zählte die Stadt nur noch zwei jüdische Bürger. Auf dem Synagogengrundstück selbst wurde ein Wohnhaus errichtet.

Der jüdischen Gemeinde Rastatt waren die Juden von Muggensturm als Filiale angegliedert. Um 1700 hatten sich dort Juden niedergelassen. 1764 waren es 3 Familien, 1801 12 und 1825 25 Juden. Die kleine jüdische Gemeinde, über die wenig bekannt ist, wurde 1827 dem Rabbinatsbezirk Bühl zugewiesen. 1875 zählte sie 80, 1900 noch 30, 1925 gar nur noch 3 Mitglieder. Schon lange vor diesem Zeitpunkt war sie aufgelöst worden. Ihre Synagoge hatte sie am 16. Mai 1913 an einen Privatmann verkauft.

Von den fünf jüdischen Einwohnern, die nach der Machtergreifung Hitlers noch in Muggensturm lebten, starb eine Frau am Ort; ein Mann wanderte nach England aus. Margarethe Hummel wurde 1944 nach Theresienstadt deportiert, wo sie den Tod fand. Das Ehepaar Frieda und Moritz Heimann wurde am 22. Oktober 1940 nach Gurs deportiert. Moritz Heimann starb 1943 im Lager Noe; seine Frau wurde anschließend über das Sammellager Drancy nach Auschwitz gebracht. Nach einem Aufenthalt von einigen Monaten wurde sie im November 1944 nach Bergen-Belsen transportiert, von dort im Dezember nach Salzwedel in ein Lager, wo sie 1945 die Befreiung erlebte.

 

In dieser Studie nachgewiesene Literatur

  • Höß, Wilhelm, Bevölkerungsstatistik aus Alt-Rastatt, 1905. 
  • Kraemer, Hermann, Rastatt und seine Umgebung, 1930. 
  • Lederle, Carl Friedrich, Rastatt und seine Umgebung, 1902. 
  • Neininger, Albert, Aus der Geschichte der Rastatter Gasthäuser, 1937. 
  • Translateur, Hermann, Geschichte der Juden von Rastatt, 1931.
 

Zitierhinweis: Hundsnurscher, Franz/Taddey, Gerhard: Die jüdischen Gemeinden in Baden, Stuttgart 1968, Beitrag zu Rastatt, veröffentlicht in: Jüdisches Leben im Südwesten, URL: […], Stand: 20.12.2022

Lektüretipps für die weitere Recherche

Rastatt

  • Eberle, Eva-Maria, Tribunal Général. Kriegsverbrecherprozesse Rastatt 1946-1950, Ottersweier 2018.
  • Einblicke in die jüdische Gemeinde Rastatts. Beiträge zur Stadtgeschichte, hg. von der Stadt Rastatt 2010.
  • Hahn, Joachim/Krüger, Jürgen, „Hier ist nichts anderes als Gottes Haus...“. Synagogen in Baden-Württemberg. Band 1: Geschichte und Architektur. Band 2: Orte und Einrichtungen, hg. von Rüdiger Reiß, Wolfgang, Die neue Synagoge in Rastatt. 1906 bis 1938, in: Heimatbuch Landkreis Rastatt 10 (1983), S.107-114.
  • Liessem-Breinlinger, Renate, Jules Wertheimer, Autobiographie eines Juden aus Baden, in: Geroldsecker Land 27 (1985), S.185-196.
  • Mohr, Günther, „Neben, mit Undt bey Catholischen“. Jüdische Lebenswelten in der Markgrafschaft Baden-Baden 1648-1771, Köln u.a. 2011.
  • Schiwek, Klaus Der israelitische Friedhof an der Karlsruher Straße in Rastatt, in: Heimatbuch. Landkreis Rastatt 9 (1982), S. 144ff.
  • Schmidt (Badische Landesbibliothek, Karlsruhe) und Meier Schwarz (Synagogue Memorial, Jerusalem), Stuttgart 2007.
  • Stiefvater, Oskar, Geschichte und Schicksal der Juden im Landkreis Rastatt, in: Um Rhein und Murg 5 (1963), S. 42-83.
  • Translateur, Hermann, Geschichte der Juden von Rastatt, in: Festschrift zur Feier des 25jährigen Jubiläums der Synagoge in Rastatt am 3. und 4. Oktober 1931.
  • Twiehaus, Christiane, Synagogen im Großherzogtum Baden (1806-1918). Eine Untersuchung zu ihrer Rezeption in den öffentlichen Medien, (Schriften der Hochschule für jüdische Studien Heidelberg), Heidelberg 2012, S.222-227.
  • Württemberg - Hohenzollern – Baden (Pinkas Hakehillot. Encyclopedia of Jewish Communities from their foundation till after the Holocaust), hg. von Joseph Walk, Yad Vashem/Jerusalem 1986, S. 490--494.

Muggensturm

  • Boll, Günter, Samuel Levy von Biesheim und Reis Joseph von Muggensturm.
  • Hahn, Joachim/Krüger, Jürgen, „Hier ist nichts anderes als Gottes Haus...“. Synagogen in Baden-Württemberg. Band 1: Geschichte und Architektur. Band 2: Orte und Einrichtungen, hg. von Rüdiger Schmidt (Badische Landesbibliothek, Karlsruhe) und Meier Schwarz (Synagogue Memorial, Jerusalem), Stuttgart 2007.
  • Linder, Gerhard Friedrich, Die jüdische Gemeinde in Kuppenheim, 1999.
  • Mohr, Günther, „Neben, mit Undt bey Catholischen“. Jüdische Lebenswelten in der Markgrafschaft Baden-Baden 1648-1771, Köln u.a. 2011.
  • Muggensturm im Wandel der Zeiten, in: Landkreis Rastatt 4 (1977), S. 31.
  • Schneider, Ernst, Muggensturmer Ortschronik, 1985, S. 128ff.
  • Württemberg - Hohenzollern – Baden (Pinkas Hakehillot. Encyclopedia of Jewish Communities from their foundation till after the Holocaust), hg. von Joseph Walk, Yad Vashem/Jerusalem 1986, S. 494.
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